Nachdem ich die Niederlage nun allmählich verdaut habe, weil Spanien einfach das bessere Team war, habe ich mir mal vorzustellen versucht, wie das Spiel einen anderen Verlauf hätte nehmen können. Es gibt ja auch, vor allem in Amerika, Historiker, die Counterfactual-History treiben, also die Frage nach dem Was-wäre-gewesen-wenn stellen, und bisweilen kann das sogar ganz interessant sein. An der American Academy in Berlin wird im Herbst eine Stipendiatin zu Gast sein, Catherine Gallagher, die in Berkeley Englisch lehrt und sich mit alternativen Verlaufsformen von Geschichte in historischen Romanen beschäftigt. Ist zwar weit weg vom Fußball, aber immerhin klingt das seriös.
Es ist nun schwer vorstellbar, wie Deutschland hätte spielen können, um die spanische Dominanz zu brechen; wie mir überhaupt kein Team bei dieser WM einfällt, welches das Kurzpassspiel effektiv hätte unterbinden können, weil es selber auf eine ähnliche Spielkontrolle aus ist. Phasenweise vielleicht die Brasilianer, mit erheblichen Abstrichen. Auch die Niederländer werden den Kampf um die Territorialhoheit im Mittelfeld kaum gewinnen können, weil ihnen zu viele Fehler unterlaufen.
Löws Team hat ja unter dem Strich gar nicht so schlecht agiert, wenn man liest, dass es auf 49 Prozent Ballbesitz kam, was gegen Spanien bei dieser WM bislang kein Team geschafft hat. Ich hätte eher auf 40 zu 60 Prozent getippt. Aber wir wissen ja, dass Ballbesitz auch ganz schnell zum Fetisch werden kann. Und hätten die Deutschen ein schärferes Pressing gespielt wie die Chilenen oder Paraguayer gegen Spanien, dann wäre der läuferische Aufwand noch größer gewesen, als er es ohnehin schon war. Kraft für Vorstöße wäre da erst recht nicht geblieben.
Auch große personelle Alternativen sehe ich nicht. Vielleicht wäre Kroos von Beginn an besser als Trochowski gewesen an diesem Tag, vielleicht auch Jansen effektiver als Boateng, der in allen Spielen auf der linken Seite sehr viel mehr Räume offen gelassen hat als Lahm auf der rechten und deshalb sehr oft von Friedrich massiv unterstützt werden musste.
So konzentriert sich alles auf die drei Minuten zwischen Toni Kroos’ Großchance und Puyols Kopfball. So einfach, wie es gewesen wäre, hat Joachim Löw es auch formuliert: Kroos hätte in die Richtung schießen müssen, aus der er kam, also ins lange Eck. Ein 1:0 hätte die Spanier derart unter Druck gesetzt, dass selbst diese großartigen Fußballer mindestens so nervös geworden wären wie im Match gegen Paraguay nach den beiden verschossenen Elfmetern. Und ganz egal, ob man nun im Potentialis oder im Irrealis spricht: Mit diesem Druck hätten sich auch Räume geöffnet für deutsche Konter.
Vor allem aber hätte Löw dann niemals Mario Gomez eingewechselt, dessen Auftauchen am Spielfeldrand ein schlimmeres Omen war, als es der Krake Paul je wird liefern können. Wer seine Hoffnung auf den glücklosen Gomez setzt, der hat unbewusst alle Hoffnungen auf eine Wende schon begraben. Und so war dann doch alles, wie es gewesen ist.