Von Erving Goffman gibt es einen Aufsatz, “On Cooling the Mark Out” – https://www.tau.ac.il/~algazi/mat/Goffman–Cooling.htm -, der sich mit Verlierern und damit befasst, wie man verhindert, dass sie zornig werden. In der Sprache der amerikanischen Kriminellen heißt “Mark” das Opfer. Man überredet es beispielsweise, an einem Spiel teilzunehmen, verschafft ihm erst Gewinne, um ihm schließlich sein ganzes Geld abzunehmen. Und nun kommt ein kritischer Moment. Denn manche “Marks” sind nicht bereit, dieses Ende zu akzeptieren und es bei dem Schaden bewenden zu lassen, aus dem sie klug werden könnten. Sie machen Lärm, laufen zur Polizei, erregen dadurch Verdacht gegen die Spieler oder schrecken neue Opfer ab.
Hier beginnt die Aufgabe, das Opfer “auszukühlen”. Die Situation, schreibt Goffmann, muss für das Opfer so definiert werden, dass es sich mit dem Unabwendbaren leichthin abfindet: Es müsse in die “Philosophie, einen Verlust hinzunehmen” eingeführt werden. Wir sprechen, der Leser hat es längst bemerkt, von Michael Ballack.
Die wichtigste Aufgabe in einer solche Situation ist es, dem Verlierer zu helfen, sein Gesicht zu wahren. Er hat es verloren, weil es zu seinem Selbstverständnis gehörte, kein Verlierer zu sein. Der DFB und die Medien haben zu dieser Situation beigetragen. Jahrelang hat man Michael Ballack im Glauben gelassen, ein besonders unentbehrlicher Spieler zu sein. Das ganze Capitano-Gerede, die irrige Beschreibung als Spielmacher, waren eine Form von Selbstbetrug, durch die ein wichtiger Spieler zum wichtigsten erklärt wurde, der er nicht war. Ballack ist ein Opfer auch der Suche nach etwas, was schon lange nicht mehr vonnöten ist und mehr eine Legende als ein funktionales Element im gegenwärtigen SpitzenfFußball: der eine Spieler, der das Spiel herumdreht, der eine, der es entscheidet, der Leitwolf etc. etc. Dass Ballack Tore schoss wie das Freistosstor gegen Österreich, beförderte das Mißverständnis nur. Und also leidet Ballack jetzt nicht nur an dem Verlust von etwas, was er einmal hatte, sondern auch an dem Verlust der Illusion, bedingungslos geschätzt zu sein.
“Eine Person”, schreibt Goffmann, “kann eine Rolle aufgeben und zugleich die Erwartungen (Standards) abstreifen, an denen diese Rolle gemessen wird.” Sein Beispiel: Die berufstätige Frau, die Mutter wird, ohne dass dies als Versagen wahrgenommen wird. Oder der Erfolgreiche, der aussteigt und sich aufs Land zurückzieht. Für den Fußballspieler, der sich um Aufstellung bewirbt und zurückgewiesen wird, ist die Situation eine andere. Denn Fußballspieler leben, wie andere Sportler, so ausschließlich für diese eine Berufsrolle, die sie haben, dass deren Verlust ihnen mitunter wie der Verlust ihrer Person als ganzer erscheinen muss. Eine Person, so Goffmann, kann man geradezu als etwas definieren, dass nicht zerstört wird, wenn eine ihrer Dimensionen zerstört wird. Fußballer, denen man den Ball wegnimmt, leiden an akutem Rollenmangel. Sie haben, seit sie 14 oder 15 Jahre alt sind, nichts anderes gemacht, als sich auf diese Rolle vorzubereiten, sie leben ein, zwei Jahrzehnte wie in einem Tunnel. Sind sie zudem Stars, werden auch alle anderen Personenmerkmale öffentlich auf dieses eine, Star zu sein, hin interpretiert. Sie gehen durch die Innenstadt als Capitano, konsumieren als Capitano, verlieben sich als Capitano, sind wohltätig als Capitano und schlecht gelaunt als Capitano.
Das wird ihnen mit Einkommen entgolten. Doch mit Einkommen kann man keine Statusverluste im Kernbereich der Person ausgleichen. Ballack rechtet jetzt, ob ihm dies oder jenes versprochen wurde. Der DFB reagiert mit abweichenden Darstellungen. Man kämpft ums Selbstbild und macht dabei ein schlechtes. Das wird die Organisation besser verkraften als die Person. Denn für Ballack gibt es keine höhere Instanz, an die er sich wenden kann. Wen soll er in seiner Sache anrufen außer die Medien, die ihn in diese Sache hineingetrieben haben? Die Bild-Zeitung läßt gerade darüber abstimmen, wer lügt, Löw oder Ballack? Und weil sie, die Person, weiß, dass sie die schlechteren Karten hat, sieht sie sich zu eskalierenden Mitteilungen gezwungen. Am Ende schimpft man einander Lügner und verachtenswert. Aber nur der Spieler lebte davon, eine gute Figur zu machen, von der Gegenseite erwartet das niemand. Also kann sie ganz ruhig abwarten. Das Auskühlen des Verlierers ist in diesem Fall also nicht versäumt worden. Ballack konnte es mit seinem Selbstbild gar nicht vereinbaren, abgefunden oder getröstet zu werden. Und der DFB ist darum von vornherein im Recht, wenn er es nicht tut.
@Roland_Steiner
Kahn: siehe...
@Roland_Steiner
Kahn: siehe oben zu Bettelbaron. Es wäre tatsächlich eine nützliche Übung, Mannschaftssportarten danach zu vergleichen, welche Chancen sie für Egoismus lassen. Die ganze Sendezeit, die auf Pseudo-Individualität im Fußball verwendet wird (Titan, die “Zehn”, Spielmacher etc.), sorgt nur auf allen Seiten für Verwirrung.
@Bettelbaron
Dank für das...
@Bettelbaron
Dank für das “Kudos”. Ballackahn als Mosesfiguren ist bezwingend – die Parallele im Erwartungsbruch: Lehmann, Patzer gegen Brasilien einerseits, Gelbe Karte gegen Südkorea, kein großer Titel andererseits, unterstützt Ihr Bild – , und ich glaube ja auch, dass die Zuschreibung nicht out of the blue erfolgte. Da war schon etwas. Nur war eben auch viel Wunsch dabei, und wir sehen jetzt, wieviel Gift in den Wunschvorstellungen steckt. Man könnte gewiß eine ganze Geschichte nicht des Fußballs, aber der Fußballspieler schreiben, die sich entlang dieser Differenz “Projektion/Erfolg” bewegen würde. Wenden sich die Erfolge gegen den Spieler oder tragen sie ihn?
Und was das 99. und 100. Spiel angeht, ist die Frage jetzt einfach die, ob es ihm angeboten wurde und wenn das der Fall war, warum er wie ein 13-jähriger sagt “Nein, ich geh auf mein Zimmer!” Man muss auch Schlechtbehandlung hinnehmen können, wenn man als Erwachsener wahrgenommen werden will.
Es hängt eben auch viel davon...
Es hängt eben auch viel davon ab, welches Selbstverständnis eines, darf man sagen, Mannschaftsspielers kultiviert wird. Nehmen wir den Titan, der schier Unmenschliches leisten mußte, als er im Sommermärchen hinter Crazy Jens als Nr. 2 auf dem Ergänzungspielersessel Platz zu nehmen hatte. Und der echte, geradezu übermenschliche Größe zeigte, als er dem bescheidenen Herrn Lehmann vor laufenden Kameras ein gutes Händchen beim Elfmeterschießen wünschte. Das gibt es nur im Fußball. Im Handball wäre es nur das, was es ist: lächerlich.
Ein meisterhafter Einstieg!...
Ein meisterhafter Einstieg! Kudos!
Zwei Bemerkungen: Ich gebe Ihnen natürlich damit Recht, dass Ballack von allen Seiten (Ballack selbst, Imageberater, DFB, Medien, Zuschauer) Attribute zugeschrieben wurden, die ihm so niemals zugestanden haben. Doch muss man in der Rückschau auch sehen, dass er gemeinsam mit Oliver Kahn den deutschen Fussball über eines der tristesten Jahrzehnte deutscher Ballkultur getragen hat, insofern als eine Art Mosesfigur zu begreifen ist, die den mühsamen Weg anführt, das Gelobte Land aber nur schauen, nicht betreten darf. Kein geringes Verdienst!
Wir alle wissen um die Bedeutung von Symbolpolitik. Man hätte ihm die Hundert schenken sollen, das 99. gegen Brasilien und ein 100. Spiel als Abschiedsspiel.