Eins gegen Eins

Eins gegen Eins

Immer am Ball – das Fußball-Blog. Mal spielen wir Doppelpass, mal kommen wir gut in die Zweikämpfe, und mal suchen wir allein den Abschluss.

Fußball alla napoletana

Wer auf den Sitzschalen im Stadion San Paolo Platz nimmt, die in der Ära Maradona vielleicht mal rot waren, sitzt zugleich in Gegenwart und Vergangenheit. Ein Besuch in Neapel.

 

© pek 

Wenn man nach Neapel fährt und zunächst alles glatt und wie geplant läuft, wird man sofort misstrauisch und glaubt sich am falschen Ort. Flug pünktlich, Flughafenbus steht bereit, als habe er nur auf uns gewartet, kommt bestens durch den Verkehr, keine Schlange im Hotel, Zimmer fertig zum Check-in (liegt es womöglich daran, dass der geplante Blog-Beitrag von bwin unterstützt wird?) Wo ist die Verzögerung, wo die Reibung? Kommt schon, sagt man sich amüsiert, kommt schon noch, in Neapel ist die Ordnung nur das Pausenzeichen des Chaos‘. Und natürlich kam da was!

Wir hatten zügig die Tickets für die U-Bahn gekauft, weil wir früh im Stadion San Paolo sein wollten, um den Fans bei der Vorbereitung auf das Match zuzuschauen, wir fuhren am Hauptbahnhof ins Tiefgeschoss – und da war es: das Napoli-Gefühl. Ein handgeschriebener Zettel  an der Treppe zum Bahnsteig: Streik bis 21 Uhr am Sonntag. Gut, haut einen nicht um. Taxis gab es genug, Zeit war auch genug, also wurde ein Preis ausgehandelt, und im Nieselregen fuhren wir raus nach Fuorigrotta, zum Stadion.

San Paolo liegt am Rande des Viertels, auf einer Seite reichen die Häuser ganz dicht heran. So tief eingebettet sind sonst fast nur noch englische Stadien. Bars und Trattorien waren natürlich geöffnet, die Leute standen auf den Bürgersteigen davor, aßen ein Stück Pizza, und im Vergleich zu deutschen Stadioneinfallsschneisen tranken nur wenige Bier. Was nun nicht heißt, die italienischen Ultras, die Hardcore-Fans, seien harmlos und friedlich. Man weiß ja, wozu sie fähig sind, weit jenseits der häufigen rassistischen Ausfälle gegen Balotelli und andere.

Und wie ich es auch in Rom schon erlebt habe: Nichts leichter, als in Sichtweite des Stadions noch Bengalos und Kanonenschläge zu besorgen. Beim Einlass sind die Kontrolleure so fixiert auf den Abgleich der personalisierten Tickets mit dem jeweiligen Ausweisdokument, dass sie ganz vergessen, einen abzuklopfen oder in die Taschen zu schauen. Und natürlich stieg im Stadion dann schon bald und während des ganzen Spiels bläulicher Rauch in beiden Kurven auf.

San Paolo, 1959 eingeweiht, 1980 und 1990 zu EM beziehungsweise WM modernisiert, ist heute Tempel und Ruine, kaputt, wild und vital wie die Stadt. Die Baufälligkeit der alten Waschbetonschüssel ist unübersehbar, die Oberränge sind teilweise gesperrt, und wenn man in Neapel etwas sperrt, dann muss das schon sehr, sehr gefährlich sein. Die Sitzschalen, die zu Zeiten Maradonas mal rot gewesen sein mögen, sind ausgebleicht, mit der elektronischen Anzeigetafel wäre man vermutlich selbst in Sandhausen unzufrieden – aber was macht das schon?

Hier gibt es einen Stadionsprecher, der sein Geld wert ist, auch wenn man ihn mangels vernünftiger Akustik und ausreichender Italienischkenntnisse kaum versteht. Seine voce rocca, die Reibeisenstimme, ist mitreißend, nicht bloß, wenn er vor Spielbeginn zum Absingen des Vereinsliedes auffordert. Hier gibt es jede Menge Leidenschaft – nur Lazio-Fans, die gab es an  diesem Sonntagmittag nicht. Höchstens unsichtbare. Der Fanblock mit Netzen verhängt und leer, gleichwohl stand dort ordentlich aufgereiht ein großes Team von Stewards herum, als drohte die Gefahr eines Überfalls. Auswärtsspiele seien für die Fans nicht attraktiv, erklärte uns auf dem Rückweg der Taxifahrer. Durch diverse Registrierungsauflagen und andere Einschränkungen nehme man ihnen die Lust am Reisen.

© pek 

Die Polizei dürfte das freuen, auch die deutschen Kollegen der Carabinieri hätten nicht nur bei den großen hitzigen Derbys ebenfalls gern solche Zustände, aber für die Fankultur ist das natürlich überhaupt nicht gut, wenn man so tut, als ließen sich Gewalt-Probleme, die keiner leugnen will, allein durch Repression aus der Welt schaffen.

So musste sich die aufrichtige Abneigung, welche die Tifosi des SSC dem Gast aus Rom entgegen bringen, auf die Mannschaft von Lazio richten, die ohne Miroslav Klose und ohne ihre blassblauen Trikots antreten musste. Das helle Blau (mit dem roten Lete-Schriftzug) ist die Farbe der Neapolitaner, und von den Dauergesängen der Fans in den beiden Kurven angetrieben, spielten sie auf. Es war zunächst ein mäßiges Spiel, mit vielen Fehlern im Spielaufbau und lauernden Römern, die prompt nach 21 Minuten in Führung gingen, weil Neapels Innenverteidigung pennte. Und man kann auch nicht sagen, dass der neapolitanische Fan sonderlich geduldig wäre. Seinem Unmut macht er schnell Luft. Zürnende Familienväter, die ihrem Nachwuchs zubrüllten, wie man es besser machen müsste, gibt es allerdings überall auf der Welt.

Und während die Fans fluchten, während unermüdlich die ambulanten Verkäufer mit ihrem Bauchladen und schweren Tüten voller Getränke und Chips durch die Reihen zogen, was einen im Vergleich zu den deutschen Hartplastik-Bechern mit Griff und Pfand beinahe nostalgisch stimmte, da glich Napoli aus durch einen Hammer des Belgiers Dries Mertens in den rechten Winkel.

Nach der Pause dann wurde es zu einem Spiel mit einem großen Helden. Drei Tore erzielte Gonzalo Higuain, was den Stadionsprecher jedes Mal ausrasten ließ. Mit sich überschlagender Stimme skandierte er die Silben Gon-za-lo, und auch bei der vierten Wiederholung brüllten die knapp 40.000 begeistert das Higuain dazu. Erst recht, nachdem der Sieg durch das Anschlusstor der Römer zum 3:2 noch einmal böse in Gefahr geraten war und Higuain in der vierten Minute der Nachspielzeit das erlösende 4:2 erzielt hatte.

Und wie passend für Napoli, dass der Mann, den sie „El Pipita“ nennen, Argentinier ist und auf diese Weise an den großen Maradona-Mythos erinnert. Das Gesicht Diego Maradonas war noch immer auf zahlreichen Fahnen im Stadion zu sehen. Und es ist ja sogar schon beantragt worden, das Stadion San Paolo umzubenennen nach dem Helden von damals – doch das Gesetz gestattet es nicht, öffentliche Gebäude nach Personen zu benennen, die nicht mindestens zehn Jahre unter der Erde sind.

Lassen wir mal beiseite, dass der italienische Staat sehr viel großzügiger war, was Maradonas Steuerschulden angeht – in Neapel hat er sich das ewige Leben längst erworben. So wie wir uns auf dem Weg zurück nach diesem turbulenten Sonntagnachmittag, an dessen Ende auch die Sonne schien, wieder in die Geduld des ewigen Wartens in Neapel einübten. Erst nach 50 Minuten Wartezeit tauchte der erste Bus Richtung Zentrum auf, und er war so voll, dass er einfach weiterfuhr.

Der Kampf ums Taxi zwang uns dann in die Verlängerung, sorgte für harte Tacklings und führte dazu, dass man sich halt ein Taxi mit dem Gegner von eben teilte. Das ist Fußball in Neapel – und es wäre sehr schade, wenn es anders wäre.

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