Kann es eine wachsende Geldmenge ohne nachfolgende Inflation geben? Diese Frage stellt sich spätestens, seitdem die Zentralbanken in Industrienationen wie den Vereinigten Staaten, der Eurozone, Japan, Großbritannien und der Schweiz die Krise mit einer gesteigerten Geldproduktion bekämpfen. So hat die Europäische Zentralbank im Dezember den Banken rund 500 Milliarden Euro für drei Jahre zu einem Zinssatz von einem Prozent zur Verfügung gestellt. Ende Februar werden sich die Banken ein weiteres Mal für drei Jahre billig Geld von der EZB leihen können.
Hier entsteht Geld durch Kreditaufnahme der Banken bei der Zentralbank. In monetären Analysen erfasst man dieses Geld in der sogenannten Geldbasis, auch “Geldmenge M0” genannt, die neben dem Bargeldumlauf die durch Kreditaufnahme entstandenen Guthaben der Banken bei der Zentralbank umfasst. Diese Geldmenge M0 ist in der jüngeren Vergangenheit sehr stark gewachsen, weil die Guthaben der Banken bei der Zentralbank zugenommen haben. Wenn sich Banken bei der EZB Geld leihen, das sie anschließend auf ihren Konten bei der EZB parken, werden hiervon die Güterpreise aber nicht erfasst, denn dieses Geld erreicht die reale Wirtschaft nicht.
Wer die Geldversorgung der Wirtschaft untersuchen will, muss daher auf eine Geldmenge schauen, die den Geldbestand der Unternehmen und Privatpersonen erfasst. Hier schauen viele Ökonomen auf die “Geldmenge M3”, die – etwas vereinfacht – neben dem Bargeldumlauf die von Unternehmen und Privatpersonen bei Banken und Sparkassen gehaltenen Einlagen umfasst. Das auf diesen Konten gehaltene Geld entsteht ganz überwiegend durch Kredite, die Unternehmen und Privatpersonen bei Banken und Sparkassen aufnehmen. Wegen der schwachen Konjunktur und der schwierigen Lage vieler Banken wachsen im Euroraum die Geldmenge M3 und das Kreditvolumen nur mit geringen Jahresraten von rund 1,5 Prozent.
Die Untersuchung führt deshalb zu einem widersprüchlichen Befund: Die Geldmenge M0, die etwas über die Geldversorgung der Banken besagt, wächst sehr stark, während die Geldmenge M3, die etwas über die Geldversorgung der gesamten Wirtschaft aussagt, sehr langsam zunimmt. Welcher Schluss leitet sich hieraus für die Inflationsgefahren ab? Wie üblich in der Ökonomik, sind alle einfachen Antworten trügerisch.
Das geringe Wachstum der Geldmenge M3 und des Kreditvolumens sowie die schwache Konjunktur und die erzwungene Zurückhaltung vieler Banken bei der Kreditvergabe sprechen dafür, dass in absehbarer Zeit im Euroraum eine erhebliche Güterpreisinflation kaum zu befürchten steht. Aber ist es auf längere Sicht nicht möglich, dass sich das starke Wachstum der Geldmenge M0 in einem starken Wachstum der Geldmenge M3 und damit in einem erheblichen Inflationspotential niederschlagen wird? Zur Beantwortung dieser Frage bedürfte es einer festen Vorstellung von den Wirkungsketten, doch leider wird gerade hierüber seit mehr als 200 Jahren ein Streit ausgefochten, der bis heute nicht entschieden ist.
Eine Auffassung besagt, dass die Zentralbank über die Steuerung der Geldmenge M0 auf längere Sicht auch die Geldmenge M3 und damit das Inflationspotential steuern kann. Dies vertraten im 19. Jahrhundert die Mitglieder der sogenannten “Currency-School” und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Vertreter des Monetarismus. Diese Auffassung setzt einen einigermaßen stabilen Zusammenhang zwischen den Geldmengen voraus und die Annahme, dass M3 von M0 beeinflusst wird und nicht umgekehrt. In vielen Fällen ist diese Interpretation nicht falsch, aber sie stimmt nicht immer, und vor allem stimmt sie nicht in der aktuellen Krise. Denn gerade heute kann von einem stabilen Zusammenhang zwischen M0 und M3 keine Rede sein. Wäre er immer stabil, müsste niemand in dieser Welt (zumindest in schweren Krisen) Keynesianer sein.
Vielmehr ist man auch in dieser Krise auf den alten Rivalen der “Currency-School” aus dem 19. Jahrhundert zurückgekommen: Die Anhänger der “Banking-School” – wie im 20. Jahrhundert viele Keynesianer (*) (wenn auch nicht unbedingt Keynes selbst) – vertreten die Ansicht, dass sich die Unternehmen und Privatpersonen durch Kreditgewährung das für sie notwendige Geld selbst erzeugen und es keinen Zusammenhang zwischen der Geldmenge M0 und der Geldmenge M3 gibt. Hier kann die Zentralbank nur versuchen, durch Veränderungen der Leitzinsen, der Mindestreservesätze und/oder der Inflationserwartungen Einfluss auf die Kreditentscheidungen von Unternehmen und Privatpersonen zu nehmen. Ein lehrreiches Papier über die Art und Weise, wie Geldpolitik missverstanden wird, stammt von Piti Disyatat, einem Ökonomen von der Bank of International Settlement.
Freilich: Auch wenn die Bedeutung der Geldmenge M0 gerade in schweren Krisen von Monetaristen überschätzt worden sein mag, sollte man sie als Indikator nicht abschreiben. Denn die Zentralbanken weiten ihre Geschäfte unter anderem aus, um die Renditen von Anleihen zu senken. Dies geschieht entweder, indem Zentralbanken wie die Fed und die Bank of England unmittelbar in großem Stil Anleihen kaufen. Die EZB kauft zwar direkt viel weniger Anleihen, aber dafür setzt sie unausgesprochen darauf, dass Banken zumindest einen Teil der billig zugeteilten Gelder zum Kauf von Staatsanleihen verwenden. Diese erhofften Renditesenkungen sollen nicht nur die Finanzierung von Staaten erleichtern (wobei sie die Gefahr einer Spekulationsblase am Anleihemarkt erzeugen). Sie sollen auch die Wirtschaft ankurbeln: Fallende Renditen für Staatsanleihen haben oft fallende Renditen für Unternehmensanleihen zur Folge. Unternehmen können sich so billiger verschulden, um etwa Investitionen zu finanzieren. Nach einer modernen Interpretation versuchen Zentralbanken durch Anleihekäufe die Renditestrukturkurve zu steuern – ein, wie sollte es anders sein in der Geldlehre, in Wirklichkeit sehr altes Konzept, das sich mindestens bis Irving Fisher und Knut Wicksell zurückverfolgen lässt und für das in Deutschland vor wenigen Jahrzehnten einer meiner akademischen Lehrer, Wolfgang Gebauer, eingetreten war. Auch wenn die Steuerung früher durch Zinspolitik und weniger durch Quantitative Easing bewerkstelligt werden sollte – damals befand sich die Geldpolitik noch nicht an der Nullzinsgrenze und die Anleiherenditen waren höher als heute.
Ein weiterer Wirkungskanal kann über den Aktienmarkt beobachtet werden. Er ist nach dem Nobelpreisträger James Tobin (“Tobins q”) benannt (auch wenn der schwedische Ökonom Knut Wicksell ein wichtiger Vorläufer war) und vergleicht den Marktwert eines Unternehmens mit den Wiederbeschaffungskosten des Sachkapitals des Unternehmens, sprich: den Investitionskosten. Wenn der Marktwert eines Unternehmens als Folge stark steigender Aktienkurse wächst, beginnen sich reale Investitionen immer mehr zu lohnen.
Insofern kann eine starke Zunahme von M0 durchaus indirekt Einfluss auf das Wirtschaftsleben nehmen. Gleichwohl gilt: Inflation ist kein aktuelles Thema, sie kann es im Zuge einer wirtschaftlichen Erholung aber sehr wohl werden.
(*) Man denke etwa an den um das Jahr 1960 in Großbritannien veröffentlichten Radcliffe-Report, an dessen Erstellung unter anderem Keynes’ Lieblingsschüler Richard Kahn beteiligt war und der seinerzeit auch über Großbritannien hinaus viel Aufmerksamkeit fand.
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version des “Sonntagsökonom” aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 5. Februar 2012. Illustration: Alfons Holtgreve
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