Die deutschen Parteien knubbeln sich in der Mitte. Es macht kaum einen Unterschied, wer regiert. Nur in den Bundesländern sind Unterschiede stärker erkennbar. Daher: Vorsicht mit Zentralisierung!
Alle paar Jahre sein Kreuzchen machen – vielen ist das Pflicht, einigen eine Lust, manchem ein Frust. Die Politikverdrossenheit speist sich auch aus dem Gefühl, durch Wahlen wenig ändern zu können. Die Politiker seien austauschbar, inhaltsleer und profilarm geworden. Statt der heftigen ideologischen Kämpfe – “Freiheit oder Sozialismus” hieß es einmal – gibt es nur noch Wohlfühlslogans. Augenfällig sind die Parteien alle in die Mitte gerückt: Die Union ist Konservativen zu sozialdemokratisiert, die SPD vielen Gewerkschaftern nicht mehr links genug, die Grünen sind verbürgerlicht. Gibt es den großen politischen Einheitsbrei in der Mitte?
Politikwissenschaftler und Ökonomen haben dafür eine einfache Erklärung. Die Parteien, die eine Mehrheit erringen wollen, müssen nicht nur die Wähler ihres linken oder rechten Lagers überzeugen, sondern denjenigen Wähler, der genau in der Mitte sitzt. Der sogenannte Medianwähler ist das Zünglein an der Waage. Welche Partei(-Koalition) ihn gewinnt, die gewinnt die Stimmenmehrheit. Schon vor mehr als fünfzig Jahren hat der amerikanische Ökonom Anthony Downs in seinem Buch “An Economic Theory of Democracy” die Grundzüge dieses Spiels beschrieben. Im Ergebnis kommt es zur Konvergenz, einer Annäherung der linken und rechten Parteien.
Natürlich ist die Realität komplizierter als das Modell. Wie weit Wähler und Parteien strikt rational ihren Nutzen maximieren, ist eine fortlaufende Debatte. Viele Politologen und Psychologen führen ideologische oder auch altruistische Motive ins Feld. In den Vereinigten Staaten gibt es nach allgemeiner Auffassung keinen Trend zur Mitte, sondern eine zunehmende Polarisierung der Parteien, die damit ihre Kernwählerschaft mobilisieren wollen. Zudem gilt es den Einfluss von organisierten Interessengruppen zu bedenken, die Tauschgeschäfte betreiben und sich in Umverteilungskoalitionen zusammentun. Die Vordenker der Public-Choice-Theorie, James Buchanan und Gordon Tullock, haben das in ihrem bahnbrechenden Buch “The Calculus of Consent” analysiert.
Eine Grundannahme des Modells von Downs ist, dass es eine klare Links-rechts-Skala der politischen Ideologien gibt, entlang der sich die Parteien und Wähler positionieren. Gewöhnlich operieren Ökonomen mit der Annahme, die Linke wolle “mehr Staat” (also mehr staatliche Ausgaben, Eingriffe, Umverteilung, Sozialleistungen und Subventionen), hingegen die Rechte tendenziell “weniger Staat”, also weniger Ausgaben, Umverteilung und Subventionen.
Doch ist das nur Rhetorik, ein ideologischer Scheinkampf? Oder gibt es substantiell unterschiedliche Ergebnisse zwischen dem Handeln linker und rechter Regierungen? Der junge Ökonom Niklas Potrafke hat das in seiner Doktorarbeit mit Daten zur Fiskal- und Sozialpolitik in der Bundesrepublik von 1949 bis 2005 empirisch-ökonometrisch untersucht. Sein Ergebnis: Es machte keinen signifikanten Unterschied, ob Union oder SPD regierten. Nicht die angebliche Ideologie der Regierungspartei war entscheidend für Ausweitung oder Einschränkung der Staatsausgaben, sondern andere Faktoren, etwa der Anstieg der Arbeitslosigkeit in den siebziger Jahren oder die Kosten der Wiedervereinigung.
Allerdings gibt es unterschiedliche Schwerpunkte innerhalb der Budgets. So schreibt er, dass die Union mehr Geld für die Universitäten lockermacht, weil dorthin die Kinder der begüterten Schichten gehen, während die SPD eher die allgemeinen Schulen besser ausstatte. Und die Union fördere eher Opernhäuser, Theater oder Museen, während die SPD gemäß den Präferenzen der sie wählenden Arbeiter eher Sozialausgaben beschließt und mehr Freizeit ermöglicht. In der Summe der Ausgaben jedoch scheint die Ideologie keinen signifikanten Effekt zu haben, ergeben Regressionsanalysen.
Ein deutlich anderes Bild zeigt sich aber auf der Ebene der Länder. Statt Konvergenz gibt es hier unterscheidbare Profile, was Staatsquoten, Verschuldung und öffentlichen Dienst angeht, zwischen Bundesländern mit CDU- oder CSU-Regierung oder mit SPD-Regierung. Potrafke, inzwischen Bereichsleiter für den öffentlichen Sektor beim Ifo-Institut, hat dafür den “Index wirtschaftlicher Freiheit” herangezogen, den der Finanzwissenschaftler Clemens Fuest entwickelt hat. Darin fließen Daten ein, wie groß der Staatsapparat ist (unter anderem Anteil der öffentlich Bediensteten, Sozialausgaben und Subventionen), wie viel Steuern er nimmt und wie viele vom Staat abhängige Sozialhilfebezieher es gibt.
Bayern und Baden-Württemberg schneiden in diesem Index der wirtschaftlichen Freiheit besonders gut ab. Die beiden langjährig von der Union regierten Länder haben einen insgesamt schlankeren Staat als der Rest der Bundesländer. Berlin ist das absolute Schlusslicht, der Anteil der vom Staat Abhängigen ist dort besonders hoch. Schlecht schneidet auch Bremen ab. Von den Flächenländern sind das Saarland und Nordrhein-Westfalen diejenigen mit dem größten Staatsapparat und der geringsten privaten Wirtschaftsfreiheit. Nach den Regressionsanalysen Potrafkes korreliert dabei eine SPD-Regierung mit geringerer wirtschaftlicher Freiheit und mehr Staat.
Potrafke interpretiert die Ergebnisse so: Im Bund rücken die Parteien tendenziell in die Mitte, um angesichts der stark gemischten Wählerschaft den Medianwähler zu erreichen. Dagegen können sie sich in den Ländern, wo die politischen Orientierungen und Wertvorstellungen der Bürger etwas ähnlicher sind (die Bayern etwa gelten insgesamt als konservativer als der Rest), eher erlauben, ein klares Profil zu zeigen und ihre ordnungspolitische Linie zu verfolgen. Das unterstreicht die Bedeutung des Föderalismus und dezentraler Strukturen. In kleineren Einheiten entstehen klar unterscheidbare politische Lösungen, die sich dann im Wettbewerb durchsetzen müssen.
Gegenwärtig geht jedoch der Zug in Europa genau in die andere Richtung: Immer mehr Kompetenzen werden auf die EU-Ebene gehoben. Doch in Brüssel ist die demokratische Kontrolle gering. Bei keinen Wahlen sonst ist die Beteiligung so erschütternd gering wie bei den Europa-Wahlen (zuletzt nur noch 43 Prozent). Schon bei Downs finden sich die entscheidenden Argumente, warum das so ist: Die supranationalen EU-Institutionen und -Verfahren sind kompliziert und für die meisten Bürger undurchschaubar. Die “Informationskosten” erscheinen dem einzelnen Bürger als viel zu hoch, gemessen am winzig kleinen Einfluss, den seine Stimme hat. Die Folge: Er verharrt in “rationaler Ignoranz” – und versucht gar nicht, “Europa” zu verstehen.
Doch je weniger demokratische Kontrolle es gibt, desto eher wird Brüssel ein Tummelplatz für organisierte Interessengruppen. Darum: Vorsicht vor Zentralisierung!
Niklas Potrafke: Economic Freedom and Government. Ideology Across the German States. Erscheint in Regional Studies.
Der Beitrag ist als “Sonntagsökonom” in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 22. April erschienen. Die Illustration stammt von Alfons Holtgreve.