Zuerst die gute Nachricht: Schwerer Betrug ist in der Wirtschaftswissenschaft selten. Doch es gibt eine breite Grauzone fragwürdiger Verhaltensweisen.
Von Philip Plickert
Erstmals liegt eine detaillierte Untersuchung vor, wie verbreitet wissenschaftliches und ethisches Fehlverhalten unter Ökonomen in Europa ist. Grundlage ist eine anonyme Internetbefragung von Mitgliedern der European Economic Association. Die Ergebnisse sind zum einen beruhigend, denn extremes Fehlverhalten – wie Plagiarismus, das Erfinden oder Fälschen von Daten oder die Manipulation von Tests – betreibt offenbar nur eine winzige Minderheit. Solche Kardinalsünden beichteten anonym 1 bis 3,5 Prozent der befragten Ökonomen. Beunruhigend ist aber, dass “fragwürdige Forschungspraktiken” doch recht verbreitet sind, wie die Autoren der noch unveröffentlichten Studie “Scientific Misbehavior in Economics”, Lars Feld vom Eucken-Institut und der Universität Freiburg, seine Doktorandin Sarah Necker und der Ökonom Bruno Frey von der Universität Zürich, schreiben.
Zu den “fragwürdigen Praktiken” zählen eine voreingenommene Forschung, die nur bestimmte Arbeiten zitiert, eine selektive Auswahl von Daten oder Ergebnissen, die ins Konzept oder in die Weltanschauung passen, oder die berüchtigte Salamitaktik beim Veröffentlichen: Die Ergebnisse der Forschung werden in dünne Scheiben geschnitten, die jeweils gerade noch einen Aufsatz für eine wissenschaftliche Zeitschrift ergeben. So lässt sich die Publikationsleistung steigern, und der Forscher steigt in den Rankings auf. Obwohl jeweils eine große Mehrheit all diese Praktiken abzulehnen vorgibt, gaben 20 bis 60 Prozent der Befragten zu, sie anzuwenden. Am häufigsten ist strategisches Vorgehen bei Publikationen. Etwa jeder siebte Wissenschaftler gab an, vom Fehlverhalten anderer zu wissen. 85 Prozent sagten, die Entdeckungswahrscheinlichkeit sei gering.
Die genannten Schummeleien oder fragwürdigen Praktiken sind auch aus anderen Wissenschaftsdisziplinen bekannt, wie eine Metastudie von Daniele Fanelli in der Public Library of Science ergab (“How Many Scientists Fabricate and Falsify Research”, PLoS One 4, 2009). Die neue Umfrage wirft aber doch einen Schatten auf die “selbsternannte Königin der Sozialwissenschaften”, wie die Autoren die Ökonomik nennen. Alarmierend ist die geringe Melde- und Aufdeckungsquote: Weniger als ein Viertel der Fälle von Fehlverhalten, die Kollegen auffallen, werden berichtet. Zum Teil scheuen sie Denunziation, weil sie Rache fürchten, oder sie wollen schummelnden Freunden und Kollegen nicht schaden, ergab die Umfrage für die Studie von Feld (Foto: dpa), Necker und Frey. Sie wird demnächst in der Zeitschrift “Perspektiven der Wirtschaftspolitik” des Vereins für Socialpolitik (VfS), der Vereinigung der deutschsprachigen Ökonomen, veröffentlicht.
An der Umfrage im Herbst 2010 beteiligten sich 435 Ökonomen, also 17 Prozent der angeschriebenen 2500 EEA-Mitglieder. Die Umfrage sei in etwa repräsentativ, meinen die Autoren, weil die Antwortenden einen guten Querschnitt durch den Berufsstand der forschenden Wirtschaftswissenschaftler in Europa darstellen. Gut drei Viertel sind Männer, knapp ein Viertel Frauen. 27 Prozent der Antwortenden hatten ordentliche Professuren, knapp 40 Prozent waren assoziierte oder Assistenzprofessoren, 18 Prozent waren Doktoranden. Knapp ein Viertel der Ökonomen arbeitet in Deutschland, der Rest in Großbritannien, Italien und Spanien, Frankreich, Amerika, der Schweiz und anderen Ländern.
Ihre Antworten zum wissenschaftlichen Fehlverhalten decken sich mit einer weniger ausgefeilten Studie vor zehn Jahren unter Ökonomen der American Economic Association (AEA). Dort gaben 4,5 Prozent zu, sie hätten schon einmal Daten gefälscht. Bis zu 10 Prozent bekannten weniger schwere Fehltritte, etwa das gleichzeitige Einreichen von Aufsätzen in mehreren Zeitschriften oder die Gefälligkeitsangabe von Koautoren.
Pikant an der aktuellen Studie ist die Tatsache, dass Mitautor Bruno Frey (Foto: Michael Hauri) jüngst selbst von der Universität Zürich eine Rüge für Fehlverhalten erhielt. Es ging um seine Forschung über das Verhalten von Passagieren beim Untergang der Titanic. Frey hatte ähnliche oder fast gleichlautende Aufsätze darüber in mehreren Zeitschriften veröffentlicht. Kritiker nannten das “Eigenplagiate”. Eine Kommission der Universität Zürich erklärte Freys Vorgehen für “anstößig”. Der Forscher selbst entschuldigte sich für seinen “schweren Fehler”. “Es hätte niemals passieren dürfen.” Doppelt pikant ist die Angelegenheit, weil Frey zu den schärfsten Kritikern von Publikationspraktiken zählt, die dazu dienen, in Rankings besser abzuschneiden. Frey steht im vielbeachteten VWL-Ranking des “Handelsblatts” in der Kategorie Lebensleistung auf Platz 1.
Die Veröffentlichung der Umfrage über Betrug und Schummeleien unter Ökonomen wird die Debatte über ethische Standards in der Disziplin befeuern. Die deutschen Ökonomen beraten seit einigen Monaten im Vorstand des Vereins für Socialpolitik über einen Ethikkodex. Aufgeschreckt wurden sie von der Diskussion in Amerika, die dort durch den Film “Inside Job” angestoßen wurde. Der Film zeigt, wie viele renommierte amerikanische Ökonomen, die vor der Finanzkrise an der Deregulierung der Finanzmärkte beteiligt waren, etwa der Harvard-Professor und Politiker Larry Summers, Geld von Banken erhalten haben. Kritiker sahen eine inakzeptable Interessenverquickung zwischen Wissenschaft und Beratertätigkeit. Die AEA hat auf ihrer Jahrestagung im Januar einen Kodex beschlossen, der für Transparenz sorgen soll.
“Dass jemand mit Vorträgen oder als Berater etwa für eine Bank Geld verdient, das können wir nicht anprangern, aber wir brauchen Transparenz”, sagt Michael Burda (Foto: dpa), Professor an der Humboldt-Universität und Vorsitzender des Ökonomen-Vereins, der in Deutschland, Österreich und der Schweiz rund 3800 Mitglieder hat. Transparenz solle künftig das oberste Gebot sein. In der Präambel des Ethikkodex wollen die Ökonomen grundsätzlich werden, verrät Burda: “Die Reputation unserer Wissenschaft ist wie ein öffentliches Gut. Wenn einzelne Ökonomen sich fehlverhalten, dann verursachen sie einen Schaden für alle”, warnt er. Der gebürtige Amerikaner Burda sieht einige schwarze Schafe in den Vereinigten Staaten wie auch Europa, will aber keine Namen nennen. “Es gibt leider einige konkrete Fälle, die ich aber nicht kommentieren möchte.” Ein Problem für den VfS wird sein, dass er bei Verstößen gegen den Kodex kaum Sanktionsmöglichkeiten hat, wie Burda zugibt. “Wir können so jemanden lediglich rausschmeißen.”
Der Beitrag erschien am 7. April auf der Seite “Der Volkswirt” der F.A.Z. Illustration: von Peter von Tresckow.
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