Der im Jahre 1967 in Istanbul geborene Daron Acemoglu zählt zu den namhaftesten Ökonomen seiner Generation. In der Rangliste der meist zitierten Ökonomen der Welt liegt er auf Platz 7. Acemoglu, der seit 1993 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) lehrt, arbeitet unter anderem auf dem Gebiet der Institutionenökonomik. Vor wenigen Monaten hat er mit seinem Harvard-Kollegen James Robinson das in diesem Blog ausführlich rezensierte Buch “Why Nations Fail” veröffentlicht. Seine Hauptthese lautet, dass vor allem die politischen Institutionen eines Landes über seinen langfristigen wirtschaftlichen Erfolg entscheiden. Acemoglu und Robinson unterscheiden zwischen zwei Formen von Institutionen, die sie als „extractive” (im Sinne von: ausbeuterisch) und als „inclusive” (im Sinne von: die gesamte Gesellschaft umfassend) bezeichnen. „Extractive” beschreibt alle Herrschaftsformen, in denen sich eine kleine Zahl von Menschen über die Ausübung von politischer und wirtschaftlicher Macht zulasten der Masse der Menschen bereichern. In solchen Regimen besitzen die meisten Menschen keine Anreize, sich wirtschaftlich zu engagieren. „Inclusive” beschreibt eine funktionierende Demokratie als Voraussetzung für dauerhaften wirtschaftlichen Wohlstand. Eine deutsche Übersetzung von “Why Nations Fail” wird im Frühjahr 2013 im Fischer-Verlag erscheinen.
Im folgenden Interview erklärt Acemoglu die Probleme der Europäischen Währungsunion auf der Basis seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Von Gerald Braunberger und Christian Odendahl *)
Professor Acemoglu, eine Ihrer wichtigsten Erkenntnisse lautet: Politische Institutionen formen wirtschaftliche Institutionen und entscheiden damit über den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes. Wie analysieren Sie in dieser Hinsicht die aktuelle Lage in Europa?
Ich würde gerne eine etwas längerfristige Perspektive einnehmen…
Bitte.
Die europäischen Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, sind ein bedeutender Erfolg. Europa hat damit große Kriege und andere ernsthafte Konflikte vermieden. Die Demokratie stand nicht in Frage und die wirtschaftlichen Institutionen sind recht gut gewesen, wenn auch nicht so gut wie in den Vereinigten Staaten. Diese Erfolge sind zumindest zum Teil eine Folge einer engeren Zusammenarbeit. Wir sollten das nicht vergessen, wenn wir die Ereignisse der vergangenen 15 Jahre betrachten.
Was ist seitdem schief gegangen?
Die aktuellen Probleme sind sehr gewichtig. Sie besitzen ihre Wurzeln in der Politik wie in der Wirtschaft. Die Währungsunion als jüngster Integrationsschritt ist ein politisches Projekt im Sinne einer Fortsetzung der vorangegangenen Integrationsschritte. Es ist nicht einfach, Länder mit einem unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstand unter dem Dach einer Währung zu vereinen. Aber das wichtigste Ungleichgewicht sind die verschiedenen politischen Systeme in den Mitgliedsländern. Hier muss man Griechenland als einen Sonderfall betrachten, weil ich glaube, dass die Probleme in Spanien und Irland leichter lösbar sind.
Wie wirken sich die unterschiedlichen politischen Systeme aus?
Ein Arrangement, bei dem die Finanzpolitik in nationaler Zuständigkeit bleibt, die Europäische Union aber de facto als Garantiegeber auftritt, hat die Renditen für Staatsanleihen lange Zeit fallen lassen. Das hat ein sehr schlechtes Umfeld in Ländern mit einem korrupten politischen System geschaffen, in dem die Politiker Klientelpolitik betreiben, um die Macht zu behalten und sich zu bereichern. Daraus sind politisch verursachte wirtschaftliche Probleme entstanden. Eine Lösung muss daher nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch sein.
Wie könnte eine solche politische Lösung aussehen? Der amerikanische Nobelpreisträger Thomas Sargent hat in einer Vorlesung anlässlich der Preisverleihung in Stockholm vorgeschlagen, die Europäer sollten sich die frühe Geschichte der Vereinigten Staaten anschauen.
Es gibt eine Menge Parallelen zwischen den Vereinigten Staaten unter dem Vorläufer der Verfassung, den Articles of Confederation, und dem heutigen Europa. Auf dem Wege zu ihrer Verfassung haben die Amerikaner eine zentrale Zuständigkeit für die Finanzpolitik geschaffen, sich aber nicht vom föderalen Staatsmodell verabschiedet. Ich sehe aber nicht, dass die amerikanischen Erfahrungen so einfach auf Europa übertragen werden können.
Warum nicht?
Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob der Wille hierfür vorhanden ist. Deutschland müsste sich auch für die Schulden von Ländern wie Spanien, Griechenland, Portugal und Irland verantwortlich fühlen. Das wäre eine schwierige Entscheidung. Ich sehe noch ein zweites Problem einer Fiskalunion. Stellen Sie sich einen Bail-out Griechenlands vor, nach dem Transfers in das Land fließen. Nach drei Jahren sagt Griechenland: “Uns gefällt es hier nicht mehr. Wir verlassen die Fiskalunion.” In den Vereinigten Staaten verfügte der Zentralstaat über eine Armee, um im Zweifel drohen zu können. Aber das wäre keine Lösung für Europa.
Was gibt es für Alternativen zu einer Fiskalunion?
Die europäischen Politiker scheinen sich auf folgendes Verhalten verständigt zu haben, das man vielleicht als die dritt- oder vierbeste Möglichkeit bezeichnen könnte: Man schafft zentralisierte Hilfsfonds, aber keine gemeinsame Fiskalpolitik. Man vermeidet einen umfassenden Bail-out, aber schafft ein Patchwork kleiner Bail-outs und will zudem Griechenland im Euro halten. Derzeit scheint keine sichtbare alternative Strategie zur Verfügung zu stehen.
Was würden Sie Angela Merkel raten?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Ein Vorschlag wäre der Aufbau einer sehr, sehr starken und glaubwürdigen Brandmauer, die eventuell sogar die Bereitschaft zu gemeinsamen Anleihen beinhaltet für den Fall, dass Griechenland den Euro verlässt. Es darf keinesfalls zu einer Ansteckung Spaniens und Irlands kommen, weil die Probleme dieser Länder andere sind. Sie haben ein ernsthaftes Schuldenproblem, das durch die Privatwirtschaft und die gestiegenen Renditen für Staatsanleihen entstanden ist. Man sieht in diesen beiden Ländern aber auch eine größere Bereitschaft, sich mit ihren Schwierigkeiten auseinander zu setzen. Wenn Spanien und Irland trotz ihrer Anstrengungen den Euro verlassen müssten und danach noch höhere Renditen zu zahlen hätten, wäre dies eine wirkliche Katastrophe für Europa.
Um Ihren Punkt noch einmal herauszustellen, da manche Ökonomen in Deutschland das anders sehen dürften: Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern sind nicht das eigentliche Problem des Euro, sondern die unterschiedlichen politischen Systeme?
Genau, und hier besonders die Tatsache, dass es in manchen Ländern Korruption und kleine Gruppen mächtiger Politiker gibt, die nicht im Interesse der breiten Bevölkerung handeln. Das gilt nicht nur für Griechenland. Indem man diese Länder und ihre Politiker in Europa integriert hat, gab man diesen Politikern mehr Macht.
Sie haben im Jahr 2006 mit zwei Co-Autoren ein Papier mit dem Titel “Emergence and Persistence of Inefficient States” verfasst, in dem Sie das Konzept der “eroberten Demokratie” (captured democracy) analyiseren. In ihr sichern ausbeuterische Politiker ihre Macht, indem sie die Bürokratie über Gebühr ausbauen und sich damit Wählerstimmen kaufen. Das könnte auf Griechenland zutreffen.
Ja, aber tatsächlich ging es in dem Papier unter anderem über Italien.
Diese Verhältnisse haben sich über einen langen Zeitraum etablieren können.
Solche institutionellen Probleme erzeugen im Zeitablauf erhebliche wirtschaftliche Verzerrungen. Wichtiger ist aber, dass sie noch bedeutendere Verzerrungen in Krisen erzeugen, weil die Politiker dann noch größere Anreize besitzen, ihre Bevölkerungen auszubeuten. Man hätte optimistisch sein können, dass Griechenland nach dem Übergang von der Diktatur zur Demokratie effizientere Institutionen schafft. Aber nach der Eingliederung in die Europäische Union und den damit verbundenen Transferzahlungen und den Einnahmen aus dem Tourismus besaßen die Griechen wegen ihres steigenden Lebensstandards keinen Anreiz, bessere Institutionen zu schaffen, zumal es keinerlei Druck von der Europäischen Union gab. So ist eine brandgefährliche Mischung entstanden.
Ob in Athen die sozialistische Pasok oder die bürgerliche Nea Dimokratia regierte, spielte dann keine Rolle mehr?
Nein, überhaupt nicht. Die Probleme haben mit einer Partei begonnen und wurden nach jedem Regierungswechsel größer. Beide singen in derselben Tonlage. Meines Erachtens gibt es keinen Unterschied zwischen diesen beiden Parteien.
Würden Sie Italien in dieser Hinsicht als eine milde Version Griechenlands bezeichnen?
Italien ist anders und komplizierter. Wenn man sich anschaut, wie Politik in Süditalien betrieben wird, sieht man keinen wesentlichen Unterschied zu Griechenland. Korruption ist verbreitet und in manchen Gegenden bildet die Mafia de facto die Regierung. Norditalien ist ganz anders und funktioniert viel besser, auch wenn sie dort ebenfalls Probleme haben. Was die Sache kompliziert macht, ist die Tatsache, dass die Politiker aus dem Norden Stimmen aus dem Süden für eine Mehrheit in Rom brauchen. Weil diese Stimmen durch Transfers gekauft werden können, entsteht kein Anreiz, den Süden zu reformieren. Das Problem ist, dass die Korruption im Süden damit auch im Norden korrumpiert.
Sind solche ineffizienten Staaten in ihrer Misere gefangen oder gibt es einen Ausweg?
Natürlich gibt es einen Ausweg. Eine der Grundlagen solcher institutionellen Analysen ist die Erkenntnis, dass nichts ewig währt. Reformen sind immer möglich, auch wenn sie schwierig sein mögen. Und es gibt beharrende Kräfte, die sich gegen Reformen stemmen. Der erste Schritt besteht darin, die institutionellen Makel in diesen ineffizienten Staaten zu erkennen und die Beharrungskräfte zu identifizieren. Danach muss man sehen, auf welchem Wege Reformen umgesetzt werden können.
Erleichtert eine schwere Krise institutionellen Wandel?
In diesem Sinne gibt es gerade ein großes Zeitfenster für einen Wandel in Europa. Viele Menschen erkennen, dass sie Teile eines unhaltbaren Systems sind, das reformiert werden muss. Allerdings werden diese Reformmöglichkeiten gerade verschleudert.
Inwiefern?
Anstatt mit den Menschen in Griechenland einen Pakt zu schließen und ihnen zu sagen, dass sie nur durch Reformen ihren alten Lebensstandard wieder erreichen können, hat Europa mit seinem Verhalten dafür gesorgt, dass die Menschen in Griechenland denken, sie seien ein Opfer Angela Merkels und ein paar böser Buben. Auf diese Weise gelangt das ineffiziente politische System in die Lage, sich wieder zu stabilisieren.
Ist Einfluss von außen überhaupt sinnvoll?
Ja, unbedingt. Man muss den Einfluss aber richtig ausüben. Osteuropa ist ein Beispiel, wie hilfreich Einfluss von außen sein kann. Wenn Länder wie Polen, Tschechien, die Slowakei oder die baltischen Staaten wirtschaftliche Fortschritte erzielt haben, dann liegt das zu einem erheblichen Teil daran, dass die Europäische Union ihnen die geeigneten Karotten vor die Nase gehalten hat. So besaßen die Menschen in diesen Ländern Anreize, um gute politische Institutionen zu schaffen. Das hat funktioniert. Vergleichen Sie nur diese Länder mit anderen ehemaligen Republiken der Sowjetunion.
Gibt es auch negative Beispiele?
Wie externer Druck nicht funktioniert, kann man anhand des Umgangs der Vereinigten Staaten mit Afghanistan oder dem Irak sehen. Das gilt auch für den Umgang Deutschlands mit Griechenland, der unter anderem deshalb völlig schief gelaufen ist, weil sich Deutschland mit den ineffizienten griechischen Politikern verbündet hat. Wenn Deutschland in Griechenland als ein Feind wahrgenommen wird, der den Menschen Mühsal aufzwingt, ist das ein Problem. Wenn man sich die Entwicklung der vergangenen drei Jahre anschaut, ist schwer zu sehen, wie äußerer Druck auf Griechenland jetzt kurzfristig hilfreich sein kann.
Am Ende müssen die Griechen über ihr eigenes Schicksal entscheiden.
Sicherlich, aber es wurde in den vergangenen Jahren eine Gelegenheit verpasst, positiven externen Einfluss auf Griechenland auszuüben. Das war unter anderem eine Frage der Kommunikation. Die ganze Debatte über die Umschuldung Griechenlands hat auch destruktiv gewirkt.
Sind Sie ein Gegner der Umschuldung?
Oh nein, ganz im Gegenteil. Es war doch von Anfang an offensichtlich, dass Griechenland eine Umschuldung benötigt. Man hat die Umschuldung erst hinausgezögert und als sie dann umgesetzt wurde, ist der Schuldenschnitt zu gering ausgefallen.
Wie hätte eine ideale Lösung ausgesehen?
Man hätte 2010 ein Paket schnüren müssen, zu dem ein massiver Schuldenschnitt gehört hätte. Außerdem hätten die Europäer den Menschen in Griechenland sagen müssen: “Ein gewisser Rückgang eures Lebensstandards ist zunächst unumgänglich, aber wenn ihr euer politisches System eingehend reformiert, könnte ihr wieder auf einen guten Weg kommen.” Statt dessen haben die Europäer mit den griechischen Politikern zähe Verhandlungen über kleine Beträge geführt, während zur gleichen Zeit das politische System immer ineffizienter wurde.
Wiederholen wir diese Fehler im Falle Spaniens?
Ja, absolut. Es wäre so viel hilfreicher, wenn man so schnell wie möglich Umschuldungen in Spanien und Italien durchführen könnte.
Aber weil die Banken das nicht wollen, wird dies nicht geschehen.
Das ist genau das Problem. Im Falle Griechenlands war die Notwendigkeit für jeden klar. Aber während die griechischen Anleihen mit nur noch 30 Prozent oder weniger ihres Nennwertes notierten, hat man ein Jahr lang über die Frage verhandelt, wer die Kosten der Umschuldung tragen sollte. Man hat über Pennys geredet, während sich gleichzeitig die wirtschaftliche Lage Europas verschlechterte.
Sollte Griechenland in der Währungsunion bleiben oder austreten?
Im Moment weiß ich es wirklich nicht. Vor zwei Jahren hätte ich mit Sicherheit gesagt, sie sollten im Euro bleiben. Meine wichtigsten Bedenken sind wiederum politische. Die Menschen in Griechenland scheinen noch nicht akzeptiert zu haben, dass sich ihr Lebensstandard noch weiter verschlechtern wird und dass dies nicht die Schuld Deutschlands ist, sondern das Ergebnis ihres eigenen politischen Systems. Daher sehe ich keine große Reformbereitschaft in Griechenland. Deutschland und Frankreich wollen Griechenland offenbar in der Währungsunion halten.
In ihren Arbeiten befürworten Sie das Design politischer Institutionen. Stehen Sie damit nicht im Gegensatz zu Ökonomen wie früher Friedrich von Hayek und heute Dani Rodrik, die dafür plädieren, Institutionen müssten sich im Verlauf der Evolution entwickeln?
Design ist ein starkes Wort. In manchen Situationen, zum Beispiel nach Revolutionen, müssen Institutionen gebaut oder wieder aufgebaut werden. Aber man steht nicht zwingend vor dem Nichts, weil historische Traditionen oft die Bildung von Institutionen beeinflussen. Von Hayek legte einen zu großen Wert auf die organische Entwicklung von Institutionen im Prozess der Evolution. Das kann leicht in die Situation führen, in der man sagt: “Man darf gar nichts an den Institutionen ändern.” Das erinnert an die Vorstellungen des britischen Philosophen und Politikers Edmund Burke (1729 bis 1797). Burke war der Auffassung, dass alte Institutionen schon deswegen nicht verändert werden dürften, weil sie alt sind. Das ist offensichtlich nicht wahr. Der “arabische Frühling” war eine große Notwendigkeit. Dort hatten sich in der Vergangenheit schreckliche politische Systeme entwickelt, die zu stark waren, als dass man sie von innen heraus hätte reformieren können. Daher bedurfte es einer Revolution. Gleichzeitig verbinden sich solche Umwälzungen mit großer Unsicherheit. Vielleicht folgt in Ägypten für mehrere Jahrzehnte ein noch schrecklicheres Regime. In Frankreich hat es nach der Revolution 70 Jahre bis zur Entstehung vernünftiger Institutionen gedauert.
*) Christian Odendahl promoviert an der Universität Stockholm und schreibt gelegentlich bei Free Exchange|The Economist.
Bildquelle: laif