Die Industrienationen müssen mittel- und langfristig ihre Staatsverschuldung zurückfahren. Darüber sind sich fast alle Ökonomen einig. Heftig umstritten ist die optimale kurzfristige Ausrichtung der Finanzpolitik in der aktuellen Krise. Hier gibt es Befürworter und Gegner von Austeritätspolitik – nicht zuletzt, weil kein Patentrezept für alle Länder existiert.
In den bevorstehenden Gesprächen mit der neuen griechischen Regierung dürfte die seit einigen Monaten in Europa heiß diskutierte Frage “Austerität oder Wachstum?” eine wesentliche Rolle spielen. Soll ein Staat Austeritätspolitik auch dann konsequent durchziehen, wenn er sich in einer Rezession befindet? Ist eine Lockerung der finanzpolitischen Auflagen sinnvoll, um das Wirtschaftswachstum anzuregen? Gibt es überhaupt einen Gegensatz zwischen Austeritätspolitik und Wirtschaftswachstum?
Auf der englischsprachigen Ökonomenplattform www.voxeu.org haben in den vergangenen Monaten namhafte Ökonomen*) Beiträge über Austeritätspolitik veröffentlicht, die jetzt von Giancarlo Corsetti (University of Cambridge) in einem sehr lesenswerten E-Book mit dem Titel “Austerity: Too much of a good Thing?” herausgegeben wurden. Dieser Beitrag fasst wichtige Elemente der Debatte anhand von Corsettis Einleitung in wenigen Punkten zusammen.
1. “It is important to clarify from the start that the debate is not about the need for fiscal discipline.”
Alle Teilnehmer an der Debatte sehen angesichts alternder Gesellschaften, steigender Gesundheitsausgaben und dem Anstieg der Staatsverschuldungen in der jüngsten Krise die Notwendigkeit, die Staatsschulden mittelfristig in den Griff zu bekommen. Nicht eindeutig ist allerdings, wie die Staaten sich in der aktuellen Krise kurzfristig verhalten sollen: “Rather, the debate is about the extent to which spending cuts and tax hikes in the short run are desirable and effective in containing the prospect of sovereign risk crises.” (Giancarlo Corsetti). Hierüber existiert kein Konsens; fast alle hiernach angeführten Argumente aus der Diskussion sind umstritten und stehen zum Teil in Widerspruch. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Analyse kurzfristiger Wirkungen von Finanzpolitik in den vergangenen 30 Jahren auf den Hund gekommen war und jetzt nachgeholt werden muss .Immerhin scheint man sich in einer Hinsicht weitgehend einig zu sein: Gute Finanzpolitik reduziert Unsicherheit; schlechte Finanzpolitik erzeugt Unsicherheit.
2. Nicht alle Länder brauchen zwingend die gleiche Medizin.
Länder mit guter Bonität, die sich leicht und zu günstigen Konditionen an den Kapitalmärkten verschulden können, befinden sich in einer anderen Lage als Länder mit einem Defizit an Glaubwürdigkeit, die sich nur zu hohen Renditen an den Kapitalmärkten verschulden können und um ihren dauerhaften Zugang zu den Märkten fürchten.
Für Länder mit guter Bonität ist folgendes Muster denkbar: Kürzungen von Staatsausgaben werden im Falle einer voraussichtlich kurzen Rezession zunächst das BIP etwas drücken, längerfristig aber die Staatsverschuldung reduzieren, weil die Wirtschaft über niedrigere Zinsen stimuliert wird. Unter der Annahme einer langen und tiefen Rezession wirken Kürzungen von Staatsausgaben nachteiliger.
Für Länder mit schlechter Bonität, hohen Zinsen und der Aussicht auf eine unhaltbar hohe Staatsverschuldung können Kürzungen von Staatsausgaben positiv wirken, wenn sie für größere Glaubwürdigkeit des Schuldners sorgen und damit zu einem Fall der Zinsen für Staat und Wirtschaft führen.
3. In einer Liquiditätsfalle kann nur Keynes helfen.
Falls große Unsicherheit über die Zukunft verhindert, dass expansive Geldpolitik die Wirtschaft anregt, befindet man sich in einer zuerst von John Maynard Keynes beschriebenen sogenannten Liquiditätsfalle. Die Aussicht auf eine weitere Verschlechterung der Lage trägt dann zu geringerer gesamtwirtschaftlicher Nachfrage und damit zur weiteren Verschlechterung der Lage bei; in einer solchen Situation wirkt Austeritätspolitik tödlich: “A sharp increase in unemployment and underemployment of capital activates adverse dynamics. As low employment today raises the probability of low employment tomorrow, job destruction today induces people to cut their consumption in anticipation of lower income today and in the future. This vicious spiral – destruction of jobs today generates expectations of persistently low employment tomorrow, thus causing even lower demand and more job destruction today – is a powerful, dangerous mechanism that can easily frustrate attempts to ‘keep one’s house in order’ through immediate cuts.” So argumentieren unter anderem Brad de Long und Larry Summers, aber auch Paul Krugman, mit Verweis auf John Maynard Keynes. Das Bewusstsein für die Möglichkeit eines spiralförmigen Absturz einer Volkswirtschaft in eine tiefe Depression ist zuletzt wieder gewachsen (nachdem es völlig verschüttet war), aber es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, ob Finanzpolitik eine geeignete Medizin bleibt. (Hier ist eine moderne Kritik). Zahlreiche empirische Schätzungen des “Multiplikatoreffekts” von Finanzpolitik, mit dessen Hilfe das BIP steigen soll, kommen nicht zu einem eindeutigen Ergebnis.
4. Es kommt auf das “Wie” der Austeritätspolitik an.
Man kann Staatsverschuldung durch sinkende Staatsausgaben oder durch höhere Steuern (oder eine Kombination von beidem) anpacken. Empirisch spricht manches dafür, dass sinkende Staatsausgaben längerfristig die bessere Möglichkeit darstellen. So hat vor allem Alberto Alesina argumentiert. Diese These ist zuletzt sehr eingehend diskutiert worden, unter anderem vom IWF und bei der BIZ, und nach wie vor sehr umstritten.
5. Die politische Ökonomik von Austeritätspolitik ist nicht eindeutig.
Heiß debattiert wird auch die Frage, wie Politiker und Bevölkerungen auf die Forderung nach Austeritätspolitik reagieren. Gegen eine etwas populistische Idee, schuldensüchtige Staaten im Süden seien natürliche Gegner von Austerität, während vermeintlich solide Staaten wie Deutschland dafür seien, ließe sich einwenden: In Deutschland sind vor der Krise die Staatsausgaben mit einer höheren Rate gewachsen als in Spanien oder Griechenland (Paolo Manasse). Und auch Deutschland nimmt immer noch neue Schulden auf und betreibt keine Austeritätspolitik. Generell nehmen die Zweifel an starrer Austeritätspolitik zu: “Citizens rightly feel that sacrifices do not deliver the promised results. Even the IMF, long criticised for its stern advocacy of procyclical austerity, is now asking Eurozone nations that can to go slow” (Charles Wyplosz). Daraus folgt aber nicht zwingend, dass die Austeritätspolitik bereits zu weit gegangen ist. (Manfred J.M. Neumann)
6. Hohe Jugendarbeitslosigkeit ist kein Produkt der Krise
Die hohe Jugendarbeitslosigkeit vor allem im Süden hat in der Krise zugenommen. Sie ist aber kein Produkt der Krise, sondern ein langfristiges Produkt eines “geteilten Arbeitsmarkts”: “The problem has deep roots in a policy that attempted to overcome rigidities in the labour market and the production structure by creating a deeply divided labour market, with ‘ins’ and ‘outs’. The ‘outs’, mostly young people, provided the necessary flexibility to adjust in the years before the crisis, where domestic expansion coexisted with increasing competition from the Asian and Central European producers.” (Marco Annunziata)
7. Finanzpolitik alleine löst die Krise nicht.
Hierüber besteht ein breiter Konsens. Auch andere Bereiche der Politik sind gefordert; so besteht wohl kein Dissens darüber, dass vor allem der Süden Europas Strukturreformen benötigt.
*) Darunter Alberto Alesina, Brad de Long, Charles Wyplosz, Manfred J.M. Neumann und Giancarlo Corsetti
Foto: Helmut Fricke
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