Der alte Streit um das Easterlin-Paradox wird neu gedeutet: Der Wohlstand hat großen Einfluss auf die Zufriedenheit
Von Philip Plickert
Die faszinierendste These der Glücksforschung lautet, dass der zunehmende materielle Wohlstand die Menschen nicht dauerhaft zufriedener mache. Mehr Einkommen führe nicht zu mehr Glück. Das sogenannte Easterlin-Paradox rüttelt damit an den Grundfesten der herkömmlichen Ökonomik. Denn fast alle Menschen versuchen doch, ihr Einkommen zu steigern. Und die (neo-)klassische Ökonomik geht davon aus, dass die Menschen durch ihr Handeln offenbaren, was sie wollen und was ihnen Nutzen stiftet – so hat es Paul Samuelson in der Theorie der “offenbarten Präferenzen” erklärt.
Die Grundannahme der liberalen Ökonomik lautet daher: Die handelnden Individuen wissen, was ihren Nutzen (ihr Glück) steigert. Entsprechend entscheiden sie. Nicht der Staat oder ein zentraler Planer soll für die Menschen festlegen, was sie tun sollen, sondern sie selbst sollen entscheiden. Es ist offensichtlich, dass die große Mehrheit der Menschen ein “Mehr” an Einkommen anstrebt. Dafür stehen sie frühmorgens auf, machen Überstunden, setzen ihre Kraft und ihren Grips ein, um Geld zu verdienen – weit mehr als sie für einen moderaten Konsum und Lebensstandard brauchen.
Aber wenn das Easterlin-Paradox zutrifft, dann rackern sich die Menschen vergeblich ab. Sie werden durch die Jagd nach Einkommen nicht glücklicher, sondern sind in einer “hedonischen Tretmühle” gefangen. Man strampelt sich ab, kommt aber nicht vom Fleck. Zwar stimmt es, dass man sich kurzzeitig besser fühlt, wenn man mehr verdient als der Nachbar oder der Kollege, mit dem man sich vergleicht. Die relative Einkommensposition hat einen starken Einfluss auf das subjektive Glücksempfinden. Doch wenn die Gesellschaft insgesamt reicher wird, dann lässt sich keine Zunahme der Lebenszufriedenheit erkennen.
Das zumindest legen die Daten aus Umfragen nahe, die Richard Easterlin, einer der Pioniere der Glücksforschung, erstmals 1974 ausgewertet hat. Auch spätere Befragungen in verschiedenen Ländern unterstützten diesen Befund. Für das deutsche “Sozioökonomische Panel” werden jährlich 20 000 Haushalte befragt. Sie müssen ihre Lebenszufriedenheit auf einer Skala von 0 (ganz und gar unzufrieden) bis 10 (ganz und gar zufrieden) einordnen. Obwohl das Pro-Kopf-Einkommen seit den frühen achtziger Jahren von knapp 20 000 Euro auf fast 35 000 Euro – inflationsbereinigt – geklettert ist, stagnierte die durchschnittliche Lebenszufriedenheit um den Wert 7. Geld macht also nicht glücklich? Wir gewöhnen uns schnell an den höheren Standard und empfinden ihn nicht mehr als besonders komfortabel.
Ausgehend von dieser These kann man radikale politische Forderungen aufstellen. Sollte nicht der Staat korrigierend eingreifen, da die Menschen offenbar blind einem falschen Ziel nachjagen? Der “Kampf um relative Einkommen” sei doch absurd, wenn man dafür die wirklich wichtigen Dinge wie Zeit mit Freunden und Familie opfere, argumentiert etwa Richard Layard, einer der bekanntesten britischen Glücksforscher. Er vergleicht das Streben nach mehr Wohlstand mit einem Suchtverhalten: Die Dosis müsse immer mehr gesteigert werden, um überhaupt noch dieselbe Wirkung zu erzielen. So geht das nicht! Um die Menschen zum rechten Glück zu bringen, empfiehlt Layard hohe, möglichst progressiv steigende Einkommensteuern. Einige Glücksforscher und Ökologen wollen noch härter eingreifen und Wirtschaftswachstum, Konsum und Ressourcenverbrauch strikt begrenzen.
Doch stimmt das Easterlin-Paradox wirklich? Die drei deutschen Ökonomen Joachim Weimann, Andreas Knabe und Ronnie Schöb haben nun ein Buch mit dem Titel “Geld macht doch glücklich” geschrieben, das grundsätzliche Zweifel am Easterlin-Paradox zusammenfasst, die sich aus neueren Studien ergeben. Viele Ergebnisse der Glücksforschung lassen sie gelten, etwa dass für unsere Lebenszufriedenheit nichtmaterielle Faktoren wie Gesundheit, Freundschaften und Familie von entscheidender Bedeutung sind und dass länger andauernde Arbeitslosigkeit die Betroffenen besonders unglücklich macht. Aber die zentrale Easterlin-These, dass der allgemeine Wohlstandszuwachs in entwickelten Gesellschaften keine Rolle für die Lebenszufriedenheit spielen soll, das wollen die drei Buchautoren nicht glauben.
Zum einen haben verschiedene Wissenschaftler auf die fragwürdige Qualität der Daten aus dem “World Value Survey” hingewiesen, die Easterlin benutzte. In der weltweiten Befragung gibt es einige Verzerrungen. Die armen Länder sind unterrepräsentiert, doch erreicht die Umfrage dort eher obere Schichten. Vollständig vertreten sind im World Value Survey die ehemaligen Sowjetrepubliken, deren Menschen zwar nicht zu den ärmsten, aber wegen der politischen und sozialen Instabilität zu den unzufriedensten gehören. Als Alternative zum World Value Survey hat Angus Deaton 2008 die Antworten zur Lebenszufriedenheit aus dem Gallup World Poll in 140 Ländern untersucht. Und hier zeigt sich ein deutlicher positiver Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und Einkommen. Reichere Gesellschaften sind durchschnittlich zufriedener, obwohl der Zuwachs abflacht.
Zweitens machen Weimann, Knabe und Schöb einen fundamentalen methodischen Einwand. Es ist unzulässig, die Lebenszufriedenheit auf einer Skala von 0 bis 10 abzufragen und dann die Angaben über den Zeitverlauf zu vergleichen. Der Höchstwert der Skala bezieht sich eben nicht auf eine starre Obergrenze für das Glück, sondern verschiebt sich – je nachdem, was die Menschen für die höchstmögliche Stufe der Zufriedenheit halten. Je mehr die Menschen erreichen, desto mehr können sie sich vorstellen. Das obere Ende der Zufriedenheitsskala rutscht nach oben, die eigene Position sieht man darunter. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten hat die Skala mithin unterschiedliche Aussagen. Intertemporale Vergleiche führen damit in die Irre.
Ein drittes Argument bezieht sich auf die steigende Lebenserwartung, die durch den wachsenden Wohlstand, die bessere Gesundheitsversorgung und weniger körperlich beschwerliches Arbeiten möglich wird. Das Easterlin-Paradox bezieht sich auf Angaben zur Zufriedenheit zu einem Zeitpunkt, es ignoriert aber die Dauer dieser Empfindung. Wenn die Menschen länger leben, genießen sie ihr relatives Glück länger. Allein daraus ergibt sich, dass steigender Wohlstand zu einer steigenden, weil längeren Zufriedenheit führt. Weimann, Knabe und Schöb jedenfalls warnen davor, eine überzogene Interpretation des Easterlin-Paradoxes zur Rechtfertigung für weitreichende Politikempfehlungen heranzuziehen.
Richard Layard: Die glückliche Gesellschaft. Frankfurt 2009.
Joachim Weimann, Andreas Knabe, Ronnie Schöb: Geld macht doch glücklich. Wo die ökonomische Glücksforschung irrt. Schaeffer-Pöschel Verlag 2012
Der Beitrag erschien als “Sonntagsökonom” in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 22. Juli 2012. Die Illustration stammt von Alfons Holtgrefe.
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