Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Clio rettet uns

Warum die Wirtschaftshistoriker viel über die Krise wissen. Sie dürfen sich aber nicht auf die Anwendung mathematischer Verfahren beschränken, sondern für unterschiedliche Methoden offen bleiben. Von Rainer Hank

Warum die Wirtschaftshistoriker viel über die Krise wissen. Sie dürfen sich aber nicht auf die Anwendung mathematischer Verfahren beschränken, sondern für unterschiedliche Methoden offen bleiben.

Von Rainer Hank

 

Das Reich Philipps II (1527 bis 1598), in dem bekanntlich die Sonne nie unterging, musste dreimal den Staatsbankrott anmelden: Dreimal stellte der König die Zahlungen an die Kredit gebenden Banken ein. Denn die Ausgaben für die vom König geführten Kriege waren völlig aus dem Ruder gelaufen und die erwarteten Silber-Lieferung aus Südamerika (die für die Staatseinnahmen viel wichtiger waren als die Steuern der spanischen Bürger) waren nicht eingetroffen. Dreimal kam es zu aufwendigen Umschuldungsverfahren mit den Gläubigern; aber dreimal gaben den Banken trotz der erfahrenen Pleite dem König wieder Geld (siehe Grafik; https://mauricio.econ.ubc.ca/pdfs/borrowerfromhell.pdf); nur wenige Geldgeber ließen sich abschrecken.

Der in Barcelona lehrende Wirtschaftshistoriker Hans-Joachim Voth, dem wir präzise Untersuchungen über die Fiskalpolitik Phillips II verdanken, scheut sich nicht, aus diesen Erkenntnissen Schlüsse für die heutige Euro- und Staatsschuldenkrise zu ziehen. Der wichtigste lautet: Keine Angst vor dem Schuldenschnitt. Denn Gläubiger haben oft nur ein kurzes Gedächtnis. Und die Strafen für den Schuldner sind tolerabel, sofern dessen Zukunftsaussichten einigermaßen positiv sind. Es stimmt also nicht die oft gehörte Faustregel, ein Schuldenschnitt sei auf jeden Fall zu vermeiden, weil die Pleitestaaten andernfalls nie wieder an den Kapitalmarkt zurück könnten (auch Argentinien hat rasch wieder Kredit bekommen).

Wer sich Voths Vortrag – die Tawney-Lecture 2011 der angesehenen Economic History -Society im Podcast anhört (https://www.ehs.org.uk/ehs/podcasts/tawney2011.asp), lernt nicht nur die Angst vor Staatsschuldenkrisen und Umschuldungen zu verlieren, sondern erhält zu-gleich eine Fülle von Material und Hypothesen zur Frage, warum sich im Jahrhunderte wäh-renden Kampf der Weltreiche zwischen Spanien und dem britischen Empire letztlich die Briten durchgesetzt haben. Eine der vielen überraschenden Antworten heißt: Weil England nicht das Glück hatte, auf Silbervorräte aus Kolonien zurück greifen zu können, musste das Land, früher als Spanien, ein gut funktionierendes Steuersystem aufbauen, das den Staat finanzierte. Voth nennt das „The poor man’s advantage”. Als die Bedeutung des Silbers als Währung nämlich zurück ging, war das britische Fiskal-Regime dem spanischen strukturell überlegen. Stimmt das, lässt sich noch eine weitere Pointe ziehen: Während die herrschende Meinung der Wirtschaftshistoriker (Douglas North, Daron Acemoglu) behauptet, gute Staaten bräuchten vor allem gute (Rechts)institutionen (https://faz-community.faz.net/blogs/fazit/archive/2012/06/15/oekonomen-im-gespraech-daron-acemoglu.aspx), ist nach Ansicht von Voth die „Governance” eines Staates mindestens so wichtig: dessen Fähigkeit zur effizienten und stabilen Finanzierung seiner Aufgaben. Und auch daraus folgt noch einmal eine Applikation auf die Gegenwart: Die aktuelle Krise könnte eine Chance zur Strukturreform von ineffizienten Steuersystemen werden, meint der Wirtschaftshistoriker.

Wenn es eine Wissenschaftlergruppe gibt, die von der Finanz- und Staatsschuldenkrise profitiert, dann sind es die Wirtschaftshistoriker. Und das völlig zu Recht. Sie erleben derzeit international eine Renaissance, während sie vorher ein Nischendasein am Rande der Fakultäten führten. Doch nachdem die Ökonomen (und die Öffentlichkeit) von der Krise überrascht wurden, weil „unknown unknowns” (Donald Rumsfeld) von keiner Theorie eingefangen worden waren und allenthalben große Ratlosigkeit sich ausbreitete, kam Rettung nicht etwa von neuer Mathematik oder den Modellen der Makroökonomen, sondern just von der Wirtschaftsgeschichte. Wer nicht mehr weiter weiß, lernen wir daraus, dreht sich am besten um und blickt zurück: Denn der Rückblick kann historische Muster identifizieren, mit dem sich der nicht verstandene, scheinbar einzigartige Krisenfall historisch kontextualisieren lässt. Und der Rückblick bringt verschüttete Gedanken und Erkenntnisse wieder ans Tageslicht der Gegenwart, welche längst auf dem Friedhof der Ideengeschichte begraben waren. Ideen- und Wirtschaftsgeschichte kommen heute wieder zu Ehren.

Paradebeispiel dieser Erkenntnisleistung der Wirtschaftsgeschichte in der aktuellen Krise ist natürlich Reinhart/Rogoff: This Time is Different (https://www.amazon.de/Dieses-Mal-ist-alles-anders/dp/3898795640). Darin analysieren die beiden Ökonomen viele Jahrhunderte  Wirtschaftsgeschichte und stellen fest: Krisen sind nicht etwa der Ausnahme-, sondern der Normalfall im Kapitalismus. Sie gehören zum Kapitalismus wie ein Gewitter zum Sommer. Und sie verlaufen immer nach demselben Muster, auch wenn die Zeitgenossen jedes Mal meinen, just dieses Mal sei alles anders. Man hat Reinhart/Rogoff vorgeworfen, das sei keine Theorie, sondern „nur” die Präsentation historischer Datenmengen und Vergleiche. Wer so argumentiert, verkennt, dass das Erspüren von Mustern gerade der Witz dieser Wirtschaftsgeschichte ist in Zeiten, in denen die Theorie offenbar versagt hat oder aber keinen Beitrag mehr leistet zum intellektuellen Auftrag, die eigene Zeit in Gedanken zu erfassen. Wo Theorie enttäuscht, bietet die Rückschau die Alternative. Plötzlich rettet uns Clio, die Muse der Geschichte.

Es muss irgendwann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen sein, dass die Wirtschafts- und Ideengeschichte ins Hintertreffen geriet: den Ökonomen war sie nicht exakt genug, die Historiker beschäftigten sich lieber mit Sozialgeschichte. Agnar Sandmo erzählt in seine Geschichte der ökonomischen Ideen (https://press.princeton.edu/titles/9370.html) die nette Anekdote von jenem jungen Ökonomen, der bei einem der ersten Gespräche von seinen neuen Fakultätskollegen gefragt wurde, auf welche historische Periode er spezialisiert sei. Frech gibt er zur Antwort: „Auf die Zukunft, Herr Kollege.” Da deutete sich der Umschwung eines Denkens an, wonach Ökonomen sich mit dem Kommenden (Konjunktur- und Wachstumsprognosen), aber nicht mit dem Zurückliegenden beschäftigen sollen. Denn in der Vergangenheit stößt man, nach einem wahlweise Keynes oder anderen Denkern zugeschriebenen Bonmot auf nichts als „the wrong opinions of dead men”. Prognostische Prophetie dagegen warf für Ökonomen stets lukrative staatliche oder nicht staatliche Beratungsmandate ab. In der Finanzkrise hat die Prognosefähigkeit der Ökonomie versagt. Seit der Finanzkrise aber sind Ideen toter Herren (wenig Damen) wieder gefragt, einerlei, ob es sich um Keynes, Minsky, Polany, die Freiburger oder die Österreicher handelt. Bei allen von ihnen lassen sich Anknüpfungspunkte finden, die zum Verständnis der Krise hilfreich sind.

Neben Reinhart/Rogoff sind viele anderen Wirtschaftshistoriker zu nennen, die zum Krisenverständnis beitragen. Der schon erwähnte Daron Acemoglu hat darüber geforscht, warum Staaten historisch scheitern und er zieht daraus Konsequenzen für einen nötigen institutionellen Wandel in Europa. Barry Eichengreen wird nicht müde zu belegen, dass die Finanzkrise ihr lokal begrenztes Vorbild in der Asienkrise in den späten neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts fand. Und er leitet daraus Überlegungen ab für ein neues Weltwährungssystem (https://www.worldscientific.com/worldscibooks/10.1142/8339)

Wirtschaftsgeschichte kann nicht nur helfen zum Verständnis der Krise, sie hilft auch, bei der Überwindung der Krise keine Fehler zu machen. So zeigt Michael Bordo, dass Währungs- und Fiskalunionen nur da funktionieren, wo strikt eine No-Bailout-Regel eingehalten wird (Schweiz, USA). Dagegen macht sich die Eurozone gerade auf den Weg zu einer Fiskalunion mit Bailout. Das wird kaum funktionieren. Auch deutsche Wirtschaftshistoriker melden sich zu Wort. Neben dem schon erwähnten Hans-Joachim Voth muss Werner Plumpe genannt werden, dessen nicht nur in ihrer Kürze brillante Geschichte der Wirtschaftskrisen (https://www.amazon.de/Wirtschaftskrisen-Geschichte-Gegenwart-Werner-Plumpe/dp/3406606814) sowohl Marx` These von der Krisenanfälligkeit des Kapitalismus wie auch Nietzsches Vermutung von der Vergesslichkeit der menschlichen Gattung bestätigt. Jetzt wissen wir wieder: Wer den Kapitalismus lieber ohne Krise haben möchte, muss wie in Mandevilles Bienenfabel wieder zurück auf die Bäume unserer Vorfahren.

Interessanterweise hat die Wirtschaftsgeschichte in den vergangenen Dekaden selbst einige Purzelbäume hinter sich. Zumindest im angelsächsischen Raum gilt seit einigen Jahrzehnten als herrschende Lehre die „New Economic History”, auch Cliometrics, genannt: Dahinter verbirgt sich das Eindringen quantitativer Methoden in die Geschichtswissenschaft, was nichts anderes ist als die Anerkennung der Historiker des (damaligen) Paradigmas der theoretischen Ökonomik. Oder salopp gesagt: Cliometrics bedeutet, der Erzähler muss auch zählen können. Das hat der Seriosität des Faches genützt und die Historie aus der Beliebigkeit der zum Fabulieren neigenden interpretierenden Hermeneutik befreit, die meinte auf ein Wahrheitskriterium verzichten zu können, weil sie auf die Plausibilität der Deutung vertraute. Seither machen die Wirtschaftshistoriker sich anheischig, zum Beispiel den Wachstumseinbruch nach der Eroberung des römischen Reiches durch die Germanen mehr oder weniger exakt zu beziffern (etwa anhand der durch Radiocarbonmethode festgestellten zurückgehenden Umweltverschmutzung als Maß nachlassender Wirtschaftstätigkeit). Herausragende Arbeiten der Cliometrics sind die Forschungen des Amerikaners Robert Fogel (der 1993 zusammen mit Douglas North den Wirtschaftsnobelpreis erhielt), der anhand von statistischen Daten nachzuweisen suchte, dass Sklaverei für die Sklavenhalter produktiv war, um ihren Profit zu stei-gern und dass es deshalb auch „vernünftig” war, sie nicht vollkommen auszubeuten, hätte man sich dadurch doch die Quelle des wirtschaftlichen Erfolgs untergraben.

Inzwischen hat die Finanzkrise allerdings den Theorieanspruch des ökonomischen Imperialismus erschüttert und damit auch die fraglose Dominanz der Cliometrics. Erste Konvertiten melden sich zu Wort: besonders eindrucksvoll argumentiert ein in Cambridge ausgebildeter junger Wirtschaftshistoriker von der Universität Bari, Francesco Boldizzoni (https://press.princeton.edu/titles/9476.html). Boldizzoni wirbt für einen „dritten Weg” der Wirtschaftsgeschichte jenseits von Cliometrics (und ihren zuweilen abstrusen Übertreibungen der quantitativen Methode) und einfühlender Hermeneutik (und ihrer zuweilen auf schierer Plausibilität beruhenden Interpretation). Er stellt dafür ein Fünf-Punkte-Programm auf (Seite 150ff), das die Wirtschaftsgeschichte einordnet in die allgemeine Sozial- und Kulturwissenschaft:

1. Vorrang haben die Primärquellen breitester Art, die nicht schon im Hinblick auf das gewünschte Ergebnis ausgewählt werden. Wenn Fakten erst konform gemacht werden müssen, um zu den Modellen zu passen, dann stimmt etwas nicht.
2. Der Wirtschaftshistoriker darf die soziale, kulturelle, politische und institutionelle Geschichte nicht vernachlässigen.
3. Wirtschaftsgeschichte darf sich nicht nur auf ökonomische Theorie beziehen. Sie muss sich auch auf Wirtschaftssoziologie und Wirtschaftsanthropologie (David Graeber lässt grüßen) einlassen (Nebenbei: Das Max Planck Institut für Sozialforschung in Köln, das auf Wirtschaftssoziologie und politische Ökonomie spezialisiert ist, besetzt gerade eine dritte Direktorenstelle mit einem Wirtschaftshistoriker).
4. Regessionsanalyse ist selbst noch keine Wissenschaft und erst recht kein Ersatz für Interpretation.
5. Theorie kann sich nicht nur in Deduktion erschöpfen. „Kreative” Theorie bezieht ihre analytische Kraft aus der qualitativen Analyse des Einzelfalls.

(Gerald Braunberger danke ich für konstruktive Kritik)

Im Übrigen: Im September erscheint die erfolgreiche wirtschaftshistorische Serie „Wie wir reich wurden” der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als „Kleine Geschichte des Ka-pitalismus” im Konrad Theiss Verlag, Stuttgart: https://www.amazon.de/Wie-wir-reich-wurden-Kapitalismus/dp/3806227047.
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