Ökonomen verfassen nicht nur eurozentrische Betrachtungen mit überschaubarer Relevanz und Halbwertszeit. Hier analysiert ein führender internationaler Ökonom zehn grundlegende und langfristige politische sowie wirtschaftliche Trends, die unser Leben und das Leben unserer Kinder und Enkel beeinflussen.
Von Gerald Braunberger
Die Trends der vergangenen 100 Jahre:
1. Die Ausbreitung der Demokratie und die Verbreitung politischer Rechte: “To most citizens in many countries, democratic political participation has become second nature; the scope of this change is impressive when measured since either 1900 or 1950.” Nicht bestätigt haben sich Befürchtungen erzkonservativer Denker wie Jose Ortega y Gasset, wonach die Demokratisierung anstelle von Elitenherrschaften unstabile politische Verhältnisse erzeuge: “And for the most part, the masses have shown that they can have an intelligent say in politics.” Die Ausbreitung der Demokratie ist der wichtigste aller Trends, denn die politische Teilhabe möglichst vieler Menschen ist die wichtigste Quelle technischen Fortschritts, der wiederum die wichtigste Quelle wirtschaftlichen Wachstums darstellt.
2. Die Wellen technischen Fortschritts haben sich seit der Industriellen Revolution beschleunigt: “In consequence, we now have access to technologies that would have been difficult for our great-grandparents to imagine.” Die Folgen sind nicht nur ökonomischer Natur: “The impact of these technologies goes well beyond the reorganisation of production; it permeates every aspect of our social lives.”
3. Ein Zeitalter nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstums ist durch den technischen Fortschritt seit der Industriellen Revolution befördert worden: “The average citizen of the world has a much higher income than was the case 100 years ago; we are about eight times richer than our great-grandparents that lived at the time.” Selbst ein Ereignis wie die Weltwirtschaftskrise hat diesen langfristigen Trend nicht umkehren können.
4. Die Früchte dieses langfristigen Wachstums der Weltwirtschaft sind allerdings sehr viel ungleicher verteilt als zu Zeiten Adam Smiths: “Though the world has become more integrated, the gap between rich and poor nations has widened by most measures.” Der wirtschaftliche Aufstieg von Schwellenländern wie Brasilien, Indien und China in den vergangenen 30 Jahren hat diese Entwicklung relativieren, aber nicht vollständig umkehren können: “This picture would certainely have disappointed all but the most pessimistic forecasters opining on the economic possibilities for the vast majority of the world population.”
5. Der technische Fortschritt hat die Natur der Arbeit verändert. Nicht nur hat in den westlichen Nationen die Beschäftigung in der Landwirtschaft nachgelassen; auch die Industriegesellschaft ist betroffen: “The disappearance of many of the middle-skill, manual and routine jobs has been an equally far-reaching aspect of the transformation of work in advanced economies.” Die Verlagerung solcher Tätigkeiten im Zuge der Globalisierung in ärmere Länder hat die Einkommensunterschiede in vielen reichen Nationen vergrößert: “A major impact of these trends has been distributional: as the demand for low- and middle-skill work has declined, the distribution of earnings in the US has become more unequal, and as the middle-skill jobs have disappeared, it has become polarized.”
6. Die Früchte der Fortschritte im Gesundheitswesen sind breiter verteilt: “Though the wealth of nations has become more unequal, the picture is very different for the health of nations.” There has been a striking improvement in health over the last 100 years, in the world as a whole, and in all geographic regions.” Die Unterschiede in der durchschnittlichen Lebenserwartung in den reichen Ländern einerseits und in Asien und Lateinamerika andererseits haben sich verringert; und wenn der Trend in Afrika auch weniger stark ausprägt ist, so hat die durchschnittliche Lebenserwartung auch dort über die vergangenen 100 Jahre zugenommen.
7. Der technische Fortschritt und die Globalisierung besitzen eine integrierende Wirkung: “New communication technologies and changes in trade policies have also created a more integrated world.” Diese Entwicklung erlaubt es, den aufholenden Ländern Entwicklungsschritte zu überspringen: “Besides its impact on wage inequality in advanced economies, this process has also enabled much more rapid growth in economied such as China, which have been able eo leverage their abundant low-wage labor, without having to go through the same investments and similar technological and institutional stages that advanced economies underwent in the 19th and early 20th centuries.” Die Folgen sind weitreichend: “This, as we will see, also has important implications for the institutional and technological trajectories of these emerging economic powers.”
8. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die beiden fürchterlichsten Kriege der Menschheitsgeschichte gesehen, aber danach stellte sich in der entwickelten Welt eine gegenläufige Entwicklung ein: “Perhaps surprisingly, the subsequent 60 years, though not free of deadly civil and international wars, have been the most peaceful throughout our recorded history.”
9. Die Ausbreitung politischer und demokratischer Rechte ist einhergegangen mit Wellen einer “Gegen-Aufklärung”: Während der Kommunismus und der Faschismus untergegangen sind, lässt sich seit wenigen Jahrzehnten eine religiös motivierte “Gegen-Aufklärung” durch fundamentalistische Strömungen innerhalb des Christen- und des Judentums sowie vor allem innerhalb des Islams beobachten.
10. Das starke Wachstum der Weltbevölkerung wirft Fragen nach der Endlichkeit natürlicher Ressourcen und einem ökologisch nachhaltigen Umgang mit diesen Ressourcen auf.
Die Trends in den kommenden Jahrzehnten:
1. Eine weitere, wenn auch langsame Verbreitung von Demokratie und politischer Teilhabe in der Welt ist wahrscheinlich. Aber es lassen sich Risiken beobachten: Die wachsende Ungleichheit in den Vereinigten Staaten lässt den Einfluss der Reichen auf den politischen Prozess zunehmen: “This bodes ill for the health of American democracy, and if American democracy falters, it will harm the durability of political and civil rights globally.” Ein zweite Gefährdung in den Vereinigten Staaten “is a direct attack on individual and minority liberties” als Ergebnis des “Kriegs gegen den Terror”. Ein weiterer Gefahrdenherd ist in China zu verorten, falls angesichts wirtschaftlicher Probleme in Amerika und Europa der Eindruck entstehen sollte, China biete eine autoritäre Alternative auf dem Weg zu wirtschaftlichem Wohlstand.
2. Technischer Fortschritt ist nicht planbar und nicht vorhersehbar, aber es gibt keinen Grund zur Annahme, dass es in Zukunft keinen solchen Fortschritt mehr geben wird. Irrig ist auch die – keineswegs neue – Idee, in den reichen Nationen seien die wirtschaftlichen Grundbedürfnisse so sehr befriedigt, dass es dort keinen Anreiz mehr für technisch indizierten wirtschaftlichen Fortschritt mehr geben wird: “Few in the 1970s would have foreseen our current need for mobile communication, the Internet, and social networking, all of which stem from technological breakthroughs.”
3. Wirtschaftliches Wachstum ist nicht garantiert, wirtschaftliche Stagnation aber auch nicht. Weiterer technischer Fortschritt sowie der Aufholprozess in ärmeren Regionen dürften auch in den reichen Nationen weiterhin für Wachstum sorgen; letztlich hängt aber vor allem von der Entwicklung in der reichen Welt der weitere Fortgang ab. Hier gibt es durchaus Risiken: “Advanced economies, in particular the U.S. and Western Europe, are struggling with their own fiscal and economic problems, and though these problems are mostly short-term and more superficial than they first appear (Hervorhebung durch G.B.), the possibility of policy mistakes creating more profound problems cannot be ruled out.”
4. Die Früchte wirtschaftlichen Wachstums in der Zukunft dürften weniger ungleich verteilt sein als im 20. Jahrhundert. Hierfür sollte vor allem die weitere Ausbreitung politischer Teilhabe und technischen Fortschritts auf dem Globus sorgen. Aber: “It would be utopian to hope that economic growth in the next century will create a convergence between rich and poor nations.”
5. Die Verdrängung einfacher Arbeit durch Automatisierungsprozesse in den reichen Nationen dürfte sich fortsetzen. Eine gewisse Nachfrage wird bleiben, aber es ist nicht zwingend, dass dadurch wie vor allem in den Vereinigten Staaten die Ungleichheit immer weiter zunimmt: “Other advanced nations subject to the same technological trends, including Germany, France, the Netherlands and Sweden have not experienced similar surges in income inequality.” Für Amerika gilt: “U.S. inequality has risen partly because of the deceleration in the supply of high-education workers, and partly because of institutional and polical changes favoring the wealtiest citizens.” Beide Entwicklungen lassen sich durch andere politische Prioritäten als in der Vergangenheit angehen.
6. Eine weitere Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung ist in den meisten Ländern als Ergebnis technischen Fortschritts und weiterer Demokratisierung in der Welt zu erwarten.
7. Die Globalisierung ist nicht gefährdet, aber sie dürfte sich aus zwei Gründen verlangsamen. Ihre wichtigste Triebfeder, die sehr niedrigen Löhne in Ländern wie China, beginnen zu steigen. Und falls das starke Wirtschaftswachstum in China zu einem Halt kommen sollte, dürfte dies Auswirkungen auf die internationale Arbeitsteilung haben.
8. Das 21. Jahrhundert wird vermutlich kein völlig friedliches werden, aber es gibt keinen Grund zur Annahme, dass es so blutig wird wie die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine stärkere Herausbildung einer zentralen Macht wäre in Ländern hilfreich, die für Bürgerkriege anfällig sind.
9. Die Zukunft der religiös motivierten “Gegen-Aufklärung” vor allem durch den Islam sind schwer einschätzbar. Aber Ereignisse wie die “Arabellion” geben Grund zur Hoffnung, dass auch in diesen Ländern allmählich Demokratisierungsprozesse in Gang kommen. Dies dürfte den Missbrauch der Religion durch Potentaten beschränken.
10. Das Bevölkerungswachstum in der Welt dürfte sich erst noch fortsetzen, aber im Laufe des 21.Jahrhunderts zu einem Halt kommen: “The world can easily accomodate this expanded population, and there is little reason to fear any acute resource scarcities or population-related disturbances.” Wichtig ist allerdings, dass die weitere wirtschaftliche Entwicklung ökologisch nachhaltig vor sich geht und hier spielt die Klimafrage eine wesentliche Rolle: “The most vital question concerns climate change and our fossil fuel consumption, partly because the damage that our fossil fuel emissions create is a textbook case of the tragedy of the commons: unless we introduce appropriate carbon taxes and other regulations, the damage each of us creates on the environment is not priced, and we will collectivley continue to emit fossil fuels even as this habit threatens our planet.”
Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung von:
Daron Acemoglu: The world our grandchildren will inherit: the rights revolution and beyond.
Alle Zitate wurden diesem Aufsatz entnommen.