Olympiasiege lassen sich berechnen, sagen Ökonomen. Bei den Indern aber scheitern sie.
Von Johannes Pennekamp
Indien hat 1,2 Milliarden Einwohner. Die Wirtschaft brummt, der Wohlstand wächst, und wenn nicht gerade der Strom ausfällt, dann produziert das Land Erfolgsmeldungen am laufenden Band. Doch bei Olympia hat es der Subkontinent wieder einmal vergeigt. Mickrige sechs Medaillen, darunter keine einzige goldene (aber zwei silberne und vier bronzene), haben die Athleten nach Hause gebracht. Für Ökonomen, die seit Jahren versuchen den Ausgang der Sommerspiele vorherzusagen, sind die erfolglosen Inder ein Mysterium. Warum räumen die Chinesen reihenweise ab, während die Inder trotz ihrer Bevölkerungsmasse leer ausgehen? Auch nach London 2012 werden sich die Wissenschaftler eingestehen müssen: Für insgesamt brauchbare Vorhersagen taugen ihre Methoden – doch am Ende ist nicht jeder Sieg berechenbar.
Um die Medaillenausbeute bei Olympia zu prognostizieren, schlagen die Forscher ungewohnte Töne an: “Sport ist anscheinend ein Bereich, in dem Planwirtschaft erfolgreich sein kann”, gestehen Forscher der angelsächsischen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PWC) in ihrer Olympia-Studie ein. In Stadion und Schwimmbecken herrschen offenbar andere Gesetze als in Banken und Bürotürmen: Kasachstan, ein rohstoffreiches Land mit sportlichem Fünfjahresplan und staatlicher Erfolgsplanung, hatte in London schon nach wenigen Tagen sechs Goldmedaillen eingeheimst und war damit an den Deutschen vorbeigezogen. “Über uns lachen sogar die Kasachen”, titelte die “Bild”-Zeitung. Dass Athleten aus Ländern mit Sowjet-Vergangenheit im Schnitt häufiger auf dem Podest stehen, ist eine der Annahmen, die in die Prognosen der Forscher einfließen. Allerdings zeigt der bröckelnde Erfolg Russlands, dass der Effekt zwei Jahrzehnte nach Grenzöffnung schwächer wird. Die Ökonomen Andrew Bernhard und Meghan Busse stießen in ihrer Studie (“Who wins the Olympic Games: Economic Resources and Medal Totals”) auf drei weitere Faktoren, die das Abschneiden im Medaillenspiegel beeinflussen: die Bevölkerungsgröße, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und der Bonus des Gastgebers.
Die ersten beiden, besonders einflussreichen Faktoren, erklären sich intuitiv. Je mehr Menschen in einem Land leben, desto mehr Sporttalente sind darunter. In China gibt es angeblich mehr Tischtennisspieler als in Deutschland Einwohner. Kein Wunder also, dass das Reich der Mitte in London alle Titel an der Tischtennisplatte holte. Und auch, dass sich der Reichtum positiv auswirkt, erschließt sich schnell: Wer in finanzieller Not ist, kann es sich nicht leisten, täglich zu trainieren. Und der Heimvorteil? China gewann in Peking 100 Medaillen, vier Jahre zuvor waren es nur 63, Australier standen auf heimischem Boden neun Mal häufiger auf dem Podium als zuvor, die Briten sogar schon vor dem Schlusstag 12 Mal häufiger. Offenbar helfen die Unterstützung der Zuschauer und die Millionenbeträge, die Gastgeber im Vorfeld der Spiele in die Spitzensportförderung investieren.
Mit Hilfe dieser Faktoren gelingt es Ökonomen, den Medaillenspiegel grob vorherzusagen. Vor den Spielen kündigten die PWC-Forscher gemessen an der Gesamtausbeute die korrekte Reihenfolge an: Vereinigte Staaten (113 Medaillen prognostiziert, 104 gewonnen), vor China (87/88), Russland (68/82) und Großbritannien (54/65). Der Ausblick für Deutschland mit 41 Medaillen lag nur um drei (44) daneben, bei anderen Ländern wie Neuseeland (7/13) ging die Prognose schief. Ein Stück weit entzaubert werden diese Daten jedoch, wenn man weiß, dass in die Berechnung auch die Ausbeute aus den beiden vorangegangenen Spielen einfloss und die Rangfolge vor allem auf den vorderen Plätzen relativ stabil ist.
Zurück zu Indien. Warum das Riesenland verglichen mit anderen so schlecht abschneidet, ist mit ökonometrischen Methoden alleine nicht zu erklären. Manche Forscher vermuten, dass der Volkssport Cricket die Inder davon abhält, in anderen Disziplinen zu Top-Athleten zu werden. Eine andere Theorie stellen die MIT-Ökonomen Abhijit Banerjee und Esther Duflo in ihrem Buch “Poor Economics” auf: Sie vermuten, dass die nach wie vor häufig unzureichende Ernährung der Kinder Langzeitfolgen hat, die sich negativ auf die sportliche Leistungsfähigkeit auswirken. Aber warum sind die Inder dann amtierender Cricket-Weltmeister? Vielleicht fehlen auch einfach nur gute Trainingsmöglichkeiten und Stipendien für begabte Sportler.
Indien kann sich damit trösten, dass auch bei einem anderen Schwellenland der sportliche Erfolg nicht mit dem wirtschaftlichen Schritt hält. Brasilien hat gerade mal 12 Top-Plazierungen auf dem Konto, PWC hatte mit bescheidenen 15 gerechnet. Immerhin können die Südamerikaner darauf hoffen, dass 2016, bei den Heimspielen in Rio, der Gastgebereffekt für einen Schub sorgt. Wer sich den Medaillenspiegel genauer ansieht, dem fällt auf: Ausgerechnet die Euroländer, in denen die Krise momentan besonders heftig wütet, hecheln den Prognosen weit hinterher. Italien hatte am vorletzten Olympiatag erst 21 statt der von PWC vorhergesagten 27 Medaillen gewonnen, Griechenland 2 statt 8. Und Spanien, das im Fußball, Tennis und Radsport in jüngerer Vergangenheit alles gewonnen hat, was es zu gewinnen gab, steht aktuell mit 14 statt 18 Medaillen da.
Würde es helfen, mit einem gemeinsamen Euro-Team an den Start zu gehen, die sportlichen Ressourcen zu vergemeinschaften? Auch dazu haben sich Ökonomen Gedanken gemacht, sie sind skeptisch. Die schwindende Medaillenausbeute nach der deutschen Wiedervereinigung gilt als abschreckendes Beispiel. Die Forscher geben zu bedenken: Für ein gemeinsames Team gäbe es zwar eine größere Auswahl an Sportlern, aber auch insgesamt weniger Startplätze und damit weniger Chancen auf Edelmetall.
PWC: Modelling Olympic Performance, www.pwc.com/en_GX/gx/research-insights/ assets/olympic-medals-2012-final.pdf