Banken als Lagerhäuser: Eine Trennung von Geld und Kredit soll das Wirtschaftswachstum fördern und die Anfälligkeit des Finanzsystems für Risiken reduzieren. Das Konzept ist ein Kind der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre.
Von Patrick Welter
Das sogenannte Vollgeld erhält die höheren Weihen. Zwei Ökonomen des Internationalen Währungsfonds haben eine Studie veröffentlicht, in der sie die radikale Bank- und Geldreform letztlich gutheißen. Die IWF-Forscher simulieren in einem Modell die Einführung des Vollgelds in den Vereinigten Staaten und kommen zu erstaunlichen Ergebnissen: Die Wirtschaftsleistung könne langfristig um 10 Prozent steigen, die Staatsschuld von 80 auf 60 Prozent des BIP fallen, Steuersätze und reale Zinssatz deutlich sinken.
Vollgeld, wie es der schweizerische Verein für Monetäre Modernisierung nennt, meint eine 100-prozentige Deckung der Sichteinlagen, je nach Ausgestaltung auch aller Einlagen bei den Banken. Damit würde den Geschäftsbanken die Möglichkeit genommen, durch Kreditvergabe Giralgeld zu schaffen. Die Geldversorgung läge wieder allein in den Händen der Zentralbank beziehungsweise des Staates. „Banken würden zu Lagerhäusern, die das Geld der Kunden für Transaktionszwecke bereithalten”, sagt Michael Kumhof, einer der IWF-Ökonomen. Kredite würden nicht mehr durch Giralgeld der Banken, sondern durch Investitionsfonds oder den Staat finanziert.
Befürworter des Vorschlags versprechen sich davon, dass mit dem Verschwinden der mehr oder weniger unkontrollierten Giralgeldschöpfung Kredit- und Konjunkturzyklen gedämpft und Finanzkrisen verhindert werden könnten. Kumhof hat früher bei der Barclays Bank gearbeitet. Er bezweifelt aufgrund dieser Erfahrung, dass die Notenbank noch viel Kontrolle über die Geldversorgung habe. Die Studie stelle nicht die Linie des Währungsfonds dar, betonte der Ökonom.
Hinter der Reformidee steht die Vermutung, dass Kreditzyklen und Finanzkrisen weniger durch eine unstete und zu expansive Geldpolitik, sondern eher durch irrationale Übertreibungen der Banken bei der Giralgeldschöpfung hervorgerufen werden. Diese These der Finanzmanien ist seit der Krise 2008 wieder modern, aber umstritten. Der Ökonom George Selgin von der Universität von Georgia etwa zeigte schon in den neunziger Jahren theoretisch und an historischen Beispielen auf, dass unregulierte Bankensysteme nicht naturgemäß zu Übertreibungen führen.
Im Übergang zur 100-prozentigen Reservedeckung schüfe der Staat in großem Umfang Geld, mit dem nach Vorstellung der IWF-Ökonomen die Staatsverschuldung drastisch verringert und private Kredite gestrichen werden könnten. „Das nennt man Monetisierung der Staatsschuld”, sagt Lawrence White von der George-Mason-University in Virginia. Kumhof vom IWF aber sieht kein Inflationsrisiko, weil das zusätzliche Geld durch die Pflicht zur 100-prozentigen Reservehaltung aufgesogen würde. White warnt auch, dass die private Intermediation, die Vermittlung zwischen Kreditgeber und -nehmer durch Banken, dadurch ersetzt werde, dass die Menschen Staatsanleihen hielten. „Das wird die Produktivität nicht erhöhen”, sagt White. „Es ist ungefähr das Gegenteil von dem, was Adam Smith empfahl.”
Einer der seltenen Verfechter der Reform in Amerika ist Ronnie Phillips, emeritierter Professor der Colorado State Universität. Phillips gesteht ein, dass im Übergang zur 100-prozentigen Reservehaltung die Kreditvergabe schrumpfen werde. Auf Dauer aber würden genügend Anleger Kapital für Investitionen zur Verfügung stellen, weil sie nur so Rendite erlangen könnten, sagt Phillips. Gelingt das nicht, droht eine Abhängigkeit des Kreditmarktes von staatlichen Infusionen.
Die radikale Reform wurde als „Chicago-Plan” während der Depression in Amerika in den dreißiger Jahren maßgeblich von dem Chicago-Ökonomen Henry Simons entwickelt und in einer Variante auch vom Yale-Ökonomen Irving Fisher verfochten. Heute spielt die Idee in der geldpolitischen Diskussion in den Vereinigten Staaten keine große Rolle. Nach jeder großen Kreditkrise aber taucht sie wieder auf, nach dem Debakel der Spar- und Darlehensbanken in den achtziger Jahren als Vorschlag des „engen Bankgeschäfts”, heute in der Urform des Chicago-Plans.
In Europa fand die Idee die Zustimmung von Walter Eucken, einem der Vordenker des Ordoliberalismus, der für eine strikte Trennung der Giral- und der Kreditabteilungen der Banken plädierte. Eucken erkannte indes wie heute auch Phillips, dass die Kontrolle der Geldschöpfung durch den Staat das Risiko einer politischen Inflationierung nicht aus der Welt räume und letztlich verschärfe. Eucken setzte gegen diese Gefahr die Warenwährung. Phillips empfiehlt eine strikte Geldmengenregel à la Milton Friedman, gemäß der die Zentralbank die Geldmenge konstant wachsen lassen solle. Friedman, selbst von der Universität Chicago und für radikale Ideen offen, zeigte Sympathie für den Chicago-Plan der 100-prozentigen Reservepflicht, um die geldpolitische Kontrolle der Zentralbank zu stärken. „Selbst ihm aber ging der Plan zu weit”, sagt der Ökonom White. Friedman habe dann dafür plädiert, wenigstens auf alle Bestandteile der Geldmenge M2 den gleichen Reservesatz anzuwenden, um Schwankungen zu verringern.