Henne oder Ei? Die alte Modernisierungsthese besagt, wirtschaftliche Wohlfahrt sei eine Voraussetzung der Demokratie. Seit einigen Jahren wird mit Verve die entgegengesetzte These vertreten: Wirtschaftlicher Wohlstand setzt zumindest auf Dauer Demokratie voraus. In den kommenden Tagen wird darüber diskutiert – auf einer hochrangig besetzten Konferenz, die sich im Internet verfolgen lässt.
Von Gerald Braunberger
Die sogenannte Modernisierungsthese wird dem amerikanischen Politologen Seymour Martin Lipset zugeschrieben, aber der Grundgedanke findet sich bereits in der Antike bei Aristoteles: Wirtschaftliche Wohlfahrt ist eine wesentliche Voraussetzung für die Demokratie. Lipset schrieb im Jahre 1959: “According to Aristotle down to the present, men have argued that only in a wealthy society in which relatively few citizens lived in real poverty could a situation exist in which the mass of the population could intelligently participate in politics and could develop the self-restraint necessary to avoid succumbing to the appeals of irresponsible demagogues.”
Nach Lipset erzeugt verbreitete wírtschaftliche Wohlfahrt demokratische Werte und Verhaltensweisen, abnehmende Unterschiede zwischen den Klassen und vor allem eine große Mittelschicht. Darin sieht Lipset Voraussetzungen für eine stabile Demokratie. Lipsets These wurde von Ökonomen wie Robert Barro Ende der neunziger Jahre und (unter anderen) Andrei Shleifer (hier und hier) im vergangenen Jahrzehnt bestätigt. Unter anderem spielt in diesen Arbeiten eine Kausalkette eine Rolle, die über verbreitete wirtschaftliche Wohlfahrt über mehr und bessere Bildung zur Demokratie führt.
Die Gegenthese ist jüngeren Datums und stammt von Ökonomen um den in diesem Blog mehrfach mit Arbeiten vorgestellten Daron Acemoglu: Sie sieht in Bürgerrechten und Demokratie Voraussetzungen für dauerhafte und verbreitete wirtschaftliche Wohlfahrt. Die Argumentation geht so: Wirtschaftliches Wachstum wird langfristig vor allem durch technischen Fortschritt erzeugt. In einer Demokratie mit sicheren Eigentumsrechten besitzen viele Menschen einen Anreiz, sich wirtschaftlich zu betätigen – anders als in Oligarchien, in denen materieller Reichtum von einer kleinen Oberschicht absorbiert wird und die Masse keine Chance hat, die Früchte ihrer Arbeit angemessen zu erhalten. Je mehr Menschen sich aber wirtschaftlich betätigen können, umso größer wird die Aussicht auf technischen Fortschritt. Acemoglu & Co. interpretieren die Geschichte so: Die in Großbritannien ausgebrochene Industrielle Revolution ist das Ergebnis vorangeganger Demokratisierung in Großbritannien. Sie wurde durch die Französische Revolution in andere Teile Europas und von dort aus in andere Teile der Welt exportiert.
Beide “Lager” stützen ihre jeweilige Thesen auf empirische Arbeiten.
Die Frage, welcher Ansatz eher die Wahrheit trifft, ist von erheblicher Bedeutung, wie anhand von zwei Beispielen gezeigt sei:
1. Nehmen wir China. Nach der Modernisierungsthese müsste die mächtige wirtschaftliche Entfaltung des Landes einen Demokratisierungsprozess zur Folge haben. Dann geht vielleicht alles gut. Nach Acemoglu & Co. wird es in China vermutlich nicht dauerhaft gut gehen, denn der wirtschaftliche Fortschritt beruht nicht auf eigenem technischen Fortschritt, sondern auf dem Abkupfern technischen Fortschritts entwickelterer Länder. Um dauerhaft wirtschaftlich erfolgreich zu sein, müsste China daher erst den Weg zur Demokratie und zu Bürgerrechten finden. Wenn das aktuelle Regime sich noch lange hält, wird auch die wirtschaftliche Entwicklung zu einem Halt kommen.
2. Manche Leute an den Rändern des politischen und ökonomischen Spektrums haben eine distanzierte Haltung gegenüber der Demokratie selbst in den westlichen Ländern – manchmal offen gezeigt, häufiger mehr oder weniger kaschiert. Einige wünschen sich irgendeine Form von Elitenherrschaft (jedenfalls, solange die Masse der Menschen vermeintlich unreif oder verführbar ist), wenige befürworten Anarchie. Folgt man Acemoglu & Co., befinden sich diese Leute völlig auf dem Holzweg. Als Anhänger der Modernisierungsthese könnte man immerhin hoffen, dass weiterer wirtschaftlicher Fortschritt die Menschen reifer für die Demokratie macht.
Vom 3. bis 8. September findet in Stockholm ein Nobel-Symposium zu Fragen wirtschaftlichen Wachstums und Entwicklung mit vielen namhaften Ökonomen statt. Robert Barro wird ein Paper vorstellen, in dem er unter anderem die Modernisierungsthese verteidigt. Daron Acemoglu wird auch in Stockholm anwesend sein. Die Konferenz wird im Internet übertragen. Alle notwendigen Informationen finden sich in diesem Link.