Der Hunger auf der Welt wird nicht gestillt, wenn wir weniger Lebensmittel wegwerfen.
Von Johannes Pennekamp
“Iss deinen Teller leer, die Hungernden in Afrika wären froh, wenn sie so viel zu essen hätten!” Als Kind hat diese Ermahnung jeder einmal zu hören bekommen – und kaum einer vergisst sie so schnell wieder. Denn Erziehung mit der Moralkeule ist Erziehung, die wirkt. Wer will schon verantwortlich dafür sein, dass in Afrika jemand verhungert?
Lebensmittelverschwendung verstärkt den Hunger in der Welt. So argumentieren auch “Mülltaucher”, meist junge Menschen, die im Morgengrauen losziehen, um Essbares aus den Mülltonnen von Supermärkten zu fischen. Dass sie sich von dem ernähren, was andere in die Tonne schmeißen, verstehen sie als Kritik an der Wegwerfgesellschaft, die den Hunger der Welt vermehre.
Und selbst bei Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner hat sich der Satz aus der Kindheit anscheinend tief eingebrannt. Die CSU-Politikerin hat mit einer eigens in Auftrag gegebenen Studie im Frühjahr ans Licht gebracht, was alles in deutschen Mülltonnen verschwindet: Industrie, Handel, Gaststätten und Privatleute werfen demnach pro Jahr knapp 11 Millionen Tonnen Lebensmittel weg. Eines von Aigners Erziehungsargumenten sind “die 900 Millionen Menschen auf der Welt, die hungern”. Und die Autoren der Studie verweisen auf die Schere zwischen Überfluss und Unterernährung, die sich durch die Verschwendung immer weiter öffne.
Keine Frage, das Ausmaß der Verschwendung ist frappierend. Doch was ist dran am Totschlagargument der Mütter, Mülltaucher und der Ministerin? “Nicht viel”, sagt Agrarökonom Ulrich Koester. Er hat eine Reihe von Studien zur Lebensmittelverschwendung ausgewertet – was ihm dabei übel aufstieß: Zwar wird stets unterstellt, dass die von uns weggeworfenen Lebensmittel den hungernden Menschen zur Verfügung stehen könnten. “Es wird leider nicht ausgeführt, wie der Verzicht auf der einen Seite zu erhöhtem Konsum auf der anderen Seite führen kann”, schreibt Koester in einem Beitrag für das Wirtschaftsblog “Ökonomenstimme”.
Die naheliegende Überlegung, die überschüssigen Lebensmittel einfach per Hilfskonvoi in den Süden zu schicken, läuft aus ganz praktischen Gründen ins Leere, argumentiert der emeritierte Hochschullehrer. Zum einen würde der Transport enorme Kosten für Logistik, Energie und Versicherung verursachen. Zum anderen wären Transfers alles andere als Hilfe zur Selbsthilfe: Der Anreiz, sich langfristig eigenständig zu versorgen, würde sinken.
Andere argumentieren: Durch maßvollen Konsum hierzulande würden viele Ressourcen gespart – die dann den Armen zugutekommen könnten. Doch auch diese Rechnung geht nicht auf, wendet Koester ein. Wer immer die passende Menge an frischen Lebensmitteln im Regal haben will, argumentiert Koester, der müsse in kürzeren Abständen einkaufen, und das kostet Zeit und Geld. “Würden wir zur Wohlfahrt unserer Gesellschaft wirklich beitragen, wenn wir mit dem Auto häufiger zum entfernten Supermarkt fahren würden?”, fragt der Kieler Agrarökonom. Dass Sparen an anderer Stelle Kosten verursachen kann, wird gerne unterschlagen. Aber sinkt nicht der Weltmarktpreis für die Grundnahrungsmittel, wenn die Menschen im Westen nur so viel einkaufen, wie sie wirklich brauchen? Wären Weizen und Reis bei geringerer Nachfrage nicht endlich für alle erschwinglich? Dieses Argument ist aus drei Gründen mit Vorsicht zu genießen. Erstens, argumentiert Koester, überschätzen die Wegwerf-Studien die Mengen die selbst bei effektivstem Lebensmittelverbrauch eingespart würden: In einem Brötchen, dass 50 Cent kostet, mache der Getreideanteil gerade mal zwei Cent aus. Der Nachfragerückgang wäre demnach überschaubarer als auf den ersten Blick angenommen. Das Argument zerbröselt weiter, wenn man – zweitens – annimmt, dass die Hungernden genau die Menge an Lebensmitteln konsumieren würden, die anderswo eingespart werden. Dann nämlich wäre die Gesamtnachfrage konstant – der Preis würde sich nicht nach unten bewegen. Und selbst wenn man das alles für einen Moment ausblendet und – drittens – annimmt, dass der Preis stark nachgibt: Leiden dann nicht auch die Bauern in den ärmsten Ländern unter den geringeren Verkaufserlösen? Und warum sollten sich dann ausgerechnet die Allerärmsten die Lebensmittel leisten können und nicht die aufstrebende Mittelschicht Asiens?
Der Verweis auf die Hungernden ist nicht nur sachlich kaum haltbar. Er lenkt ab von dem, was den Hungernden wirklich helfen würde. Der Harvard-Ökonom Amartya Sen, 1998 mit dem Nobelpreis dekoriert, warnt in einer Reihe von Studien davor, die Hungerproblematik darauf zu reduzieren, wie viele Lebensmittel weltweit hergestellt werden. Ob Menschen Zugang zu Nahrungsmitteln haben, hänge entscheidend davon ab, ob das politische und ökonomische System im jeweiligen Land funktioniert. Nur wenn die Rahmenbedingungen stimmen, können die Menschen genügend Geld verdienen, um sich mit Essen zu versorgen. Vom Hunger Bedrohte brauchen Arbeit, Infrastruktur und Stabilität. Ob wir unsere Lebensmittel wegwerfen oder nicht, hat darauf keinen Einfluss.
Wer jetzt denkt, er könne Lebensmittel bedenkenlos in den Abfalleimer werfen, der irrt. Auch Agrarökonom Koester will so nicht verstanden werden. Abseits der Hungernden gibt es gute Gründe zur Mäßigung, zum Beispiel den Klimaschutz. Forscher gehen davon aus, dass bis zu 22 Prozent der Treibhausgase, für die Deutschland verantwortlich ist, vom Ernährungssektor verursacht werden. Und tatsächlich lindert ein Ende des Verschwendungswahns das Leid von Lebewesen: Je weniger Fleisch in den Abfall wandert, desto weniger Hühner, Schweine und Puten sind Massentierhaltung und maschinellen Schlachtmethoden ausgesetzt. Es gibt gute ökologische und ethische Argumente für ein Umdenken – die Hungernden sollte man aus dem Spiel lassen.
Koester, U.: Wegwerfen von Lebensmitteln einerseits, hungernde Bevölkerung andererseits – Ineffizient und unmoralisch? IAMO Policy Brief No. 7, August 2012, Halle (Saale). Und: https://www.oekonomenstimme.org/artikel/2012/06/wegwerfen-von-lebensmitteln-und-der-hunger-in-der-welt/
Dieser Text ist der Sonntagsökonom der F.A.S. vom 30. September 2012. Die Illustration stammt von Alfons Holtgreve.