Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Der Euro hat Europa nicht geeint

Es gibt mehr Integration in der EU, aber die Währungsunion driftet auseinander. Der Sonntagsökonom.

Es gibt mehr Integration in der EU, aber die Währungsunion driftet auseinander

Von Philip Plickert

E Illustration: Alfons Holtgreveuropa ist ohne Alternative? Stimmt nicht. Seit den Anfangszeiten der europäischen Integration gibt es zwei unterschiedliche, widerstreitende Ansätze: “Markt-Integration” versus “institutionelle Integration”. Die Anhänger des ersten Ansatzes sagen, dass Europa durch wirtschaftliche Verflechtung und Wettbewerb zusammenkommt. Freier Austausch von Gütern und Leistungen, freie Bewegung für Arbeitnehmer und investitionsbereites Kapital sind die Treiber der Integration. Es ist ein Zusammenwachsen “von unten”, ungeplant und dezentral.

Der andere Ansatz zielt auf eine Integration “von oben”: über neu geschaffene Institutionen, politisch-bürokratische Gremien und Kommissionen, die einheitliche Gesetze für den Kontinent schaffen. Es geht um Koordinierung, “Harmonisierung” und letztlich Vereinheitlichung. Die Franzosen versuchten eine wirtschaftliche “Planification” auf europäischer Ebene durchzusetzen. Jean Monnet, der Vordenker der Montanunion, setzte auf politische Vorgaben und Feinsteuerung der Wirtschaft. Frankreich wünschte zudem eine Angleichung der Sozialleistungen und koordinierte Lohnpolitik in ganz Europa. Noch heute schwingt das im Pariser Ruf nach einer “Wirtschaftsregierung” mit.

Die “Markt-Integration” ist ein klassisch-liberaler Ansatz, die “institutionelle Integration” entspricht bürokratisch-sozialistischem Denken. Ludwig Erhard, der legendäre deutsche Wirtschaftsminister, war schon im frühen Stadium der europäischen Integration skeptisch. In seinem Buch “Wohlstand für alle”, veröffentlicht 1957 im Jahr der Römischen Verträge, warnte Erhard vor falschen Einheitsphantasien und wetterte gegen den “abwegigen Gedanken… der ,Harmonisierung’… und Gleichmacherei aller wirtschaftlichen Verhältnisse”. Die Produktivität “von Sizilien bis zum Ruhrgebiet” (an Griechenland dachte damals niemand) sei höchst unterschiedlich, man könne nicht alles über einen Kamm scheren. Erhard war für Freihandel. Regulierung, Planung und bürokratische Gremien brächten Europa nichts. Der mit ihm befreundete liberale Ökonom Wilhelm Röpke warnte in drastischen Worten: “Wenn wir versuchen wollten, Europa zentralistisch zu organisieren, einer planwirtschaftlichen Bürokratie zu unterwerfen und gleichzeitig zu einem mehr oder weniger geschlossenen Block zu schmieden, so ist das nicht weniger als ein Verrat an Europa.”

Die Kritik war überzogen. Es gab Fehlentwicklungen wie die Agrarsubventionen – ein Planungsirrsinn. Ansonsten hat die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aber einen Binnenmarkt geschaffen, der den Wettbewerb fördert. So sehr die Kommission für bürokratische Regelungswut bekannt ist, Kern der Verträge ist die Forderung nach “unverfälschtem Wettbewerb”. Die EU spürt Kartelle auf und geht gegen unerlaubte Beihilfen vor.

Die Währungsunion sollte die Integration vertiefen und sie unumkehrbar machen, so sagten die Väter des Euro. Stattdessen steckt Europa nun in der existentiellen Finanzkrise. Die niedrigen Zinsen haben in den Südländern eine Kredit- und Ausgabenblase befeuert, deren Platzen schmerzhafte Rezession bewirkt.

Der Ausweg aus der Krise – heißt es aus der Politik gebetsmühlenhaft – soll “mehr Europa”, “mehr Integration” sein. Doch die Begriffe sind diffus und vieldeutig. Den Südländern und Frankreich geht es um eine Vergemeinschaftung der Schulden, Berlin versucht eine verschärfte zentrale Kontrolle über die Haushalte durchzusetzen.

Um den Stand der “Integration” messbar zu machen, haben die Ökonomen Jörg König und Renate Ohr von der Universität Göttingen nun erstmals einen “EU-Index” für jedes Land entwickelt. Der Index setzt sich aus 25 Indikatoren aus vier Bereichen zusammen: “Gemeinsamer Markt” (die Verflechtungen durch Handel und Dienstleistungen, Kapitalbewegungen und Arbeitskraftemigration), “Homogenität” (Annäherung der Pro-Kopf-Einkommen, Kaufkraftparitäten, Arbeitskosten, Zinsen, Staatsschuldenquoten und Steuern), “Symmetrie” (Gleichlauf von Konjunkturzyklen, Inflationsraten, Arbeitslosenquoten, Staatsdefizite und anderes) sowie “Konformität” mit EU-Rechtsvorschriften.

Das Maximum von 100 Punkten im EU-Index erreicht ein Land, das vollständig integriert ist: Es ist durch Handel, Migration und Finanzen stark im Binnenmarkt verflochten; Einkommen, Zinsen und Defizite liegen im Durchschnitt (so wie die These von der Konvergenz erwarten ließe), die Wirtschaftsentwicklung verläuft parallel zu der im Rest der EU.

Die Ergebnisse des EU-Index sind aber ernüchternd: Zwar hat sich die faktische Integration fast aller Länder von 1999 bis 2010 erhöht, aber der Abstand zwischen den am meisten integrierten Ländern und der abgeschlagenen Europeripherie hat zugenommen. Es gab also keine Konvergenz der Länder in der Währungsunion. “Die Heterogenität hat sich nicht verringert”, betont Renate Ohr. Die höchste Integration haben heute Belgien (77 Punkte), Österreich (66), die Niederlande (65), Frankreich und Deutschland (je 64), Schlusslicht ist Griechenland (44 Punkte). Es gibt drei Gruppen von ähnlichen Ländern: die sechs EWG-Gründer, die “PIGS”-Krisenländer sowie die Nicht-Euro-Mitglieder.

Erstaunlicherweise hat sich die Marktintegration im Euro nicht generell verbessert, im Fall von Italien und Griechenland ist sie geringer geworden. Die Spannbreite ist heute größer als 1999. Ebenfalls überraschend: Die Nicht-Euro-Mitglieder Dänemark und Schweden bewegen sich makroökonomisch heute näher am EU-Durchschnitt als 1999, während die Euro-Mitglieder Griechenland und Portugal nach unten abweichen. “Es gab keine Konvergenz durch die Währungsunion”, sagt Ohr.

Die frühen Skeptiker wussten: Integration lässt sich nicht von oben erzwingen. Sie kann sogar beschädigt werden, wenn zu ungleiche Länder in ein zu enges institutionelles Korsett gezwängt werden.

Der Beitrag ist der Sonntagsökonom aus der F.A.S. vom 21.10.2012. Die Illustration stammt von Alfons Holtgreve.

 

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