Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Wo Paternalismus hilft

Und warum in Afrika die Menschen freier sind als in Deutschland.

Und warum in Afrika die Menschen freier sind als in Deutschland.

Von Rainer Hank

Sieht so eine wissenschaftliche Revolution aus? Vielleicht. Ein Paradigmenwechsel ist es jetzt schon, was die junge (Jahrgang 1972) MIT-Forscherin und Entwicklungsökonomin Esther Duflo alles so treibt.

Der Ausgangspunkt: Seit Jahren tobt ein Glaubenskrieg über die Frage, ob Entwicklungshilfe zur Linderung von Armut beiträgt. „Klar”, sagen die einen, die sich den Star-Ökonomen Jeffrey Sachs zur Galionsfigur erwählt haben. Auf die Frage, warum es dann in Afrika immer noch soviel Armut gibt, obwohl wir schon Jahrzehnte lang Geld dorthin überweisen, lautet die Antwort: Mehr Geld muss her. „Entwicklungshilfe schadet” lautet dagegen die Gegenthese jener, die sich auf den (ebenfalls) Starökonomen William Easterly berufen. Geldgeschenke machen abhängig (eine neue Art des Kolonialismus), fördern die Korruption und würgen alle unternehmerische Eigeninitiative ab, die nötig wäre, damit die Armen nicht ewig arm bleiben. Easterlys stärkstes Argument: Seit 1960 ist die Jahr für Jahr die Entwicklungshilfe für Afrika gestiegen von zwei anfangs zwei auf 2006 40 Milliarden Dollar. Aber das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat sich in all dieser Zeit nicht nennenswert verbessert.

„Wir werden es nie raus kriegen, wer von den beiden recht hat”, sagt Esther Duflo. Denn es gibt keine Vergleichsdaten. Womöglich wäre Afrika ja noch ärmer dran, gäbe es nicht die Milliardenhilfen. Womöglich wäre der Kontinent aber auch besser dran. Es fehlt die „historische” Kontrollgruppe. Wir wissen es nicht. Damit ähnelt die Forschung der heutigen Mainstream-Entwicklungsökonomie jenen Medizinern des Mittelalters, die mit Blutegeln Krankheiten kurierten, ohne für deren Gesundheitsnutzen irgendeine Erfolgskontrolle zu besitzen. Keine gute Voraussetzung für Wissenschaftler wie Gutmenschen, die Afrika auf die Beine bringen wollen, lautet der traurige Schluss, den Esther Duflo zieht.

Bild zu: Wo Paternalismus hilft

Da hilft nur, neu anzufangen (so begann noch jeder Paradigmenwechsel). Wie das geht, dazu schaut man sich zur Einführung am besten Duflos inzwischen weltberühmtes TED-Video an, das mit den Worten beginnt „Ich bin klein, Französin und spreche englisch mit starkem Akzent”. Aber schnell wird klar: Hier spricht eine kleine Person mit großem Selbstbewusstsein.

„Machen wir es eben eine Nummer kleiner”, sagt Duflo. Immer noch sterben Millionen von Kindern, weil sie nicht geimpft werden. Nur ein Prozent der Kinder in Afrika haben alle notwendigen Impfungen. Dabei ist Impfstoff reichlich vorhanden, er ist noch nicht ein mal besonders teuer. Der gute Wille ist da. Aber es ist beschwerlich, man muss Wege zum nächsten Medizinzentrum gehen und wenn man da ist, ist es geschlossen. Das zermürbt. Duflos Forschungsauftrag: Wie kommt es von der Intention zur Aktion? Dazu macht die Forscherin Versuche. Was passiert zum Beispiel, wenn man Müttern ein Kilo Linsen (kostet wenig Geld) schenkt, damit sie ihre Kinder impfen lassen? Das Ergebnis: Fast 40 Prozent mehr Kinder werden gegen Krankheiten immunisiert.

Ein anderes Beispiel: Noch immer ist Malaria in der Welt nicht völlig ausgerottet. Dabei hülfen schlichte Moskitonetze nicht nur denen, die sie nutzen, sondern auch anderen, die dann ein geringeres Risiko der Übertragung hätten. Aber die Leute kaufen keine Netze und wenn man sie ihnen schenkt, gehen sie damit lieber fischen (bekanntlich schätzt man nicht, was umsonst ist). Abermals macht Frau Duflo Experimente: Einige werden nur verbal aufgefordert, sich ein Netz zu kaufen, anderen wird der Kauf mit unterschiedlichen Beträgen subventioniert („Voucher”). Das (erwartbare) Ergebnis: Subventionen wirken; je mehr, desto kräftiger. Weniger erwartbar ist allerdings der Widerholungstest einige Monate später. Plötzlich sind die Afrikaner bereit, sich Moskitonetze zu kaufen, selbst wenn sie dafür den vollen Preis bezahlen müssen. Duflo schließt: „Die Leute gewöhnen sich an die Netze, nicht an die Almosen.” Kein Fehlanreiz also. Das ist tröstlich.

Daraus lassen sich ein moral-ökonomischer und zwei wissenschaftliche Schlüsse ziehen: (1) Impfungen und Moskitonetze retten Leben. Die Lage der Armen verbessert das zunächst nur minimal. Aber nur Geduld. Entwicklung ist ein gradueller Prozess. (2) Die Ökonomie muss forschen wie die moderne Medizin: Man braucht eine Kontrollgruppe, um herauszufinden, ob ein Forschungsergebnis überhaupt relevant ist. Andernfalls weiß man nie, ob es nicht auch von alleine so gekommen wäre. „Randomisierung” nennt sich dieses Forschungstool, zu dem sich Frau Duflo auch theoretisch geäußert hat, womit sie nebenbei beweist, dass sie ursprünglich von der Mathematik kommt und dass moderne Entwicklungsökonomie mehr ist als eine Art Dritte-Welt-Laden mit Moskitonetzen. (3) Schließlich bedient sich Duflo auch der Ergebnisse der Design- und Verhaltensökomomie. Denn sie entwirft unterschiedliche Versuchsanordnungen, die bei den Menschen ein erwünschtes Verhalten (impfen lassen, Netze kaufen) bewirken soll. „Nudging” – einen Schubs in die richtige Richtung geben – nennt man das seit den Forschungen von Thaler und Sunstein.

„Nudging” wirft indessen ein gewaltiges theoretisches Problem auf: Es handelt sich um Paternalismus in Reinkultur. Mit Paternalismus bezeichnen wir einen Eingriff in die Freiheit anderer. Mag man noch darüber streiten, ob Paternalismus zulässig ist, wenn das Verhalten von Menschen negative externe Effekte hat (der Raucher schädigt die Nichtraucher), so hört die Freundschaft auf, wenn wir einfach so den Freiheitsgebrauch anderer Menschen korrigieren. Die fadenscheinige Begründung heißt dann meist: „Ich will ja nur Dein Bestes”. Oder, raffinierter: „Ich will, dass Du das tust, was Du selbst getan hättest, wärest Du bei klarem Verstand.” Libertärer Paternalismus nennt sich diese modische Spielart der Verhaltensmanipulation. Setzt sie sich durch, dann leben wir bald in einer Welt voller Sozialingenieure (Politiker im Bündnis mit Verhaltensökonomen), die die Welt und die Menschen nach ihren Wünschen „nudgen”: Brave new world.

Nun ist es Esther Duflo (Foto: AFP) Esther Duflo (Foto: AFP)nicht verborgen geblieben, dass ihr Konzept der Entwicklungsökonomie übergangslos mündet in ein Plädoyer für eine paternalistische Entwicklungspolitik (Incentives für Impfungen und Moskitonetze). Zugleich versteht sie sich als liberale Ökonomin, die im Prinzip Paternalismus als Freiheitseingriff ablehnt. Diesen Widerspruch vermag sie auf faszinierende Weise aufzulösen in der ersten der beiden ihrer Tanner-Lectures, die sie im Mai diesen Jahres an der Universität Utah gehalten hat. Darin zeigt sie im Übrigen, dass sie nicht nur experimentell kreativ ist, sondern auch die ökonomische Theorie weiter zu treiben vermag.

Wir rechtfertigt Frau Duflo den Paternalismus in der Entwicklungspolitik? Die Antwort ist raffiniert und geht ungefähr so: Entscheidungen von Menschen finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern werden beeinflusst von der jeweiligen Umgebung. Umgebungen der Armen sind aber radikal anders als der Reichen. Als Faustregel gilt: Je reicher Du bist, umso weniger verantwortlich bist Du dafür, dass Deine Grundbedürfnisse (von Staat oder Gesellschaft) erfüllt werden. Um die Reichen kümmern sich mehr Leute und Institutionen als um die Armen. Nicht zuletzt der Sozialstaat ist der große paternalistische Kurator, der dafür sorgt, dass hierzulande niemand hungern muss, dass alle medizinisch versorgt werden oder im Alter nicht mittellos dastehen. Während in den meisten reichen Ländern Impfungen verpflichtend sind (und nur durchgenknallte Freunde der puren Natur immer mal Anti-Zwangsimpfungskampagnen machen), ist das in Afrika nicht der Fall. In Deutschland ist es praktisch unmöglich, Kinder vor dem Paternalismus der Impfung zu schützen. Entscheidungen aber sind nicht kostenlos. Sie kosten Geld, Zeit, geistige Energie und viel Nerven. Die Armen müssen täglich viel mehr solcher Basisentscheidungen treffen als die Reichen. Sie kommen gar nicht zum Leben, jedenfalls zu dem, was unsereinem am Leben wertvoll ist.

Daraus schließt Duflo: Die Armen haben mehr Freiheit und müssen mehr Entscheidungen treffen als die Reiche, wo ein subtiler Paternalismus uns zu vielen Dingen „von alleine” führt. Um sauberes Wasser muss sich hierzulande niemand kümmern (also muss sich auch niemand vor entsprechenden Krankheiten ängstigen), in Afrika schon. Das paradoxe Ergebnis lautet: In Afrika sind die Menschen viel freier als in Deutschland und das gerade ist das Problem der Entwicklungspolitik.

Was folgt daraus? Auch Gegner des Paternalismus würden nicht behaupten, dass wir alle arm werden müssen, um wirklich ganz frei zu sein. Duflos Antwort heißt: Bei den Armen ist Paternalismus gerechtfertigt, um sie allererst zu befähigen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Befähigung („capability”) heißt ihr Stichwort: Menschen sollen die Fähigkeit erwerben, ihr eigenes Potential zu realisieren. Sie müssen zur Freiheit befreit werden. Hier zeigt sich, dass Duflos Entwicklungsökonomie ein Freiheitsbegriff zugrunde liegt, der von Amartya Sen stammt (mehr dazu hier): Wir müssen die Menschen erst dazu befähigen, ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Paternalismus, so Duflo, schüfe dann die Voraussetzung, dass die Menschen von ihrer Freiheit positiv Gebrauch machen können. Dabei wird man nicht darum herum kommen, dass hier ein doppelter Freiheitsbegriff (er ähnelt der „negativen” und der „positiven” Freiheit) zugrunde liegt: Die Freiheit, seine Grundbedürfnisse zu decken, soll paternalistisch überbrückt werden, was die Voraussetzung schafft, frei über die Ziele seines Lebens zu entscheiden. Das ist intellektuell nicht ganz widerspruchslos und führt schnell zur (unbeantworteten) Frage, wie weit Paternalismus nötig ist und wo die gute Freiheit beginnt. „Praktisch” freilich ist Duflos Satz schlagend, man sei allemal in einer Gesellschaft freier, die das Wasser mit Chlor anreichert, auch wenn sie mich nicht explizit um Zustimmung gefragt hat, verglichen mit einer Gesellschaft, die das Wasser nicht chloriert (ein radikaler Anti-Paternalismus mit möglichen tödlichen Folgen). Der Befähigungspaternalismus der Entwicklungsökonomie unterscheidet sich vom Entmündigungspaternalismus europäischer Sozialstaaten, dessen Ursprung Duflo im „Patron”, dem Fabrikanten der Industrialisierung Frankreichs im 19. Jahrhundert sieht: Damals richtet sich der Paternalismus als Waffe sowohl gegen Staatseingriffe in wie auch gewerkschaftliche Angriffe auf die unternehmerische Freiheit. Paternalismus sollte beide Angriffe unterlaufen und die Arbeiter einlullen.

In versöhnlicher Absicht könnte man vielleicht so schließen: Währen der übertriebene real existierende Paternalismus des ausgebauten Wohlfahrtsstaates reicher Länder die Menschen träge macht, Unselbständigkeit fördert und ihren Bürgerstolz demütigt, behindert in armen Ländern die nackte Freiheitszumutung, dass vor lauter Basisentscheidungen den Menschen Entwicklungschancen verwehrt werden. Ein bisschen mehr Paternalismus in Afrika und dafür ein bisschen weniger Paternalismus in Europa könnte die salomonische Lösung sein. Oder anders gesagt: Mehr Befähigungs- und weniger Demütigungspaternalismus (was natürlich selbst bereits ein paternalistischer Imperativ ist).

Wer Esther Duflo erleben will, hat bei den vom CES-ifo-Institut veranstalteten „Munich Lectures in Economics” am 13., 14. und 15. November in München Gelegenheit. Der Titel des Vortrags: „Gender Equality and Development”.

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