Wenn Staaten sparen, sollten sie lieber Ausgaben kürzen, als die Einnahmen zu erhöhen. Das wirkt länger und belastet das Wachstum weniger.
Von Patrick Welter, Washington
Am erika und Europa stehen vor der Herausforderung, die während der Finanz- und Wirtschaftskrise aufgehäuften Schuldenberge wieder abzutragen oder den Zuwachs der Schuld zumindest einzudämmen. Die Sanierung der Staatshaushalte wird sich über Jahre hinziehen. Dann beginnt man damit doch besser sofort und entschlossen, denkt sich der Bürger und Steuerzahler. Die meisten Regierungen flüchten indes in ein entschiedenes “Ja, aber nicht sofort”. Die Angst ist groß, dass eine geringere Neuverschuldung die Wirtschaften wieder in die Rezession zurückwirft oder diese – wie in vielen europäischen Staaten – noch vertieft. Das ist die Strategie des “Wartens auf den Sankt-Nimmerleins-Tag”. Irgendeine Konjunkturdelle kommt immer, mit der ein Aufschub der Haushaltsanierung sich wunderbar begründen lässt.
Die Regierungen folgen mit ihrem Zögern den Ratschlägen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Nur in klaren Krisenfällen wie Griechenland empfiehlt der IWF einen sofortigen und entschiedenen Abbau von Defiziten. Allen anderen Regierungen rät er vorerst zu einem nur moderaten Defizitabbau, verbunden mit einem langfristigen Plan der Etatkonsolidierung, um Unsicherheit zu verringern. Üblicherweise empfiehlt der Fonds ferner, Staatshaushalte durch eine Mischung von Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen ins Gleichgewicht zu bringen.
Die Ökonomen am Potomac folgen dem aufgeklärten Keynesianismus, der in Washington auch im Finanzministerium weit verbreitet ist – zumindest, solange Barack Obama Präsident ist. Geringere Staatsdefizite entziehen danach der Wirtschaft Nachfrage und bremsen die Konjunktur. Fiskalische Anpassungen, um Defizite zu reduzieren und irgendwann vielleicht mit Überschüssen Schulden zurückzuzahlen, haftet nach diesem keynesianischen Denken von vornherein etwas Negatives an.
In der angebotsorientierten Sicht aber sprechen einige Gründe dafür, dass Regierungen, die ihre Neigung zum Schuldenmachen überwinden oder begrenzen, Wirtschaft und Wachstum beleben. Geringere Defizite bedeuten, dass die Bürger weniger Angst vor Steuererhöhungen haben müssen. Das stärkt den Konsum, weil sie – über das ganze Leben gesehen – mehr Geld zur Verfügung haben.
Niedrigere Steuersätze beleben die Neigung von Menschen und Unternehmen, mehr zu arbeiten und zu investieren. Zumindest bei sehr hohen Schuldenständen sollte eine entschlossene Haushaltssanierung auch Ängste vor einem Staatskonkurs wie in Griechenland dämpfen. Zumindest steigt die Sicherheit, dass keine oder weniger Steuererhöhungen drohen. Diese Sicht vertritt im amerikanischen Wahlkampf der Herausforderer Mitt Romney. Er warnt, dass Amerika kein zweites Griechenland werden dürfe.
Die These, dass ein entschiedener Defizitabbau das Wachstum belebt, ist seit den neunziger Jahren Gegenstand vieler historischer und ökonometrischer Studien. Als Musterbeispiele einer wirtschaftlich expansiven Etatsanierung werden oft Dänemark und Irland in den achtziger Jahren genannt, manchmal auch Deutschland in den frühen achtziger Jahren.
Als Kernbotschaft dieser Studien hat sich herauskristallisiert, dass Etatsanierungen erfolgreicher sind, wenn Regierungen die Ausgaben kürzen, nicht aber die Steuern anheben. Erfolgreich meint dabei, dass geringere Ausgaben das Wachstum weniger belasten als Steuererhöhungen und in einigen Fällen sogar einen Wachstumsschub auslösen. Erfolgreich bedeutet zudem, dass die Etatsanierungen dauerhafterer Natur sind, die Schuldenquote stabilisieren und sie in manchen Fällen sogar senken.
Diese angebotsorientierte Sicht gilt vielen Ökonomen als überholt und falsch. Sie bestreiten, dass in den erfolgreichen Fällen der Etatsanierung die Einschnitte in die Staatsausgaben das Wachstum vergleichsweise wenig belastet oder gar gefördert hätten. Entscheidend sei vielmehr, dass zugleich die Währung abwertete oder die Zentralbank ihre Geldpolitik gelockert habe. Das keynesianische Weltbild wäre insoweit gesichert.
Diese Position nahm in einer vielbeachteten Studie in seinem Weltwirtschaftsausblick vor zwei Jahren auch der Internationale Währungsfonds ein. Die Untersuchung galt manchem als Sargnagel für die These wachstumsfreundlicher Ausgabenkürzungen, weil die IWF-Ökonomen sich einer neuen Analysetechnik, der narrativen Methode, bedienten, um historische Episoden von Etatsanierungen zu erfassen. Dabei schauen die Forscher ausdrücklich darauf, welche fiskalischen Sanierungspläne von Regierungen angekündigt und durchgeführt wurden. Das hilft bei der vergleichenden Einordnung, ob ein niedrigeres Defizit bewusst angestrebt wurde oder ob es sich eher zufällig durch wirtschaftliche Veränderungen ergab. In älteren Studien wurden Sanierungsepisoden demgegenüber nur statistisch erfasst – als die Zeiträume, in denen das um Konjunkturschwankungen bereinigte Defizit besonders stark zurückging. Dieser statistische Ansatz kann die Ergebnisse verfälschen, was der moderneren IWF-Studie besonderes Gewicht verlieh.
Der Harvard-Ökonom Alberto Alesina, der seit den neunziger Jahren zu dem Thema viel Erfahrung gesammelt hat, hat nun zusammen mit Kollegen die neuen historischen Datensätze des IWF eingehend analysiert. Alesina bestätigt das Ergebnis, dass Haushaltssanierungen durch geringere Staatsausgaben das Wachstum zumindest weniger belasten als Steuererhöhungen. Der Ökonom widerlegt aber die These des Währungsfonds, der Wachstumsvorteil von Ausgabenkürzungen sei einer gleichzeitigen lockeren Geldpolitik oder Abwertung zu verdanken. Er findet Hinweise, dass Etatsanierungen durch weniger Ausgaben besonders erfolgreich sind, wenn sie mit liberalisierenden Reformen der Arbeits- und Gütermärkte verbunden sind. Im wissenschaftlichen Hin und Her der Studien ist die angebotsorientierte Sicht der Dinge damit wiederhergestellt – zumindest vorerst.
Der Beitrag erschien als Sonntagsökonom in der F.A.S. vom 4. November. Die Illustration stammt von Alfons Holtgreve.