Am Ende eines typisch französischen Psychodramas hat der Pragmatismus gesiegt, aber gerade deswegen kochen die Emotionen hoch.
In Florange (Lothringen) betreibt das zum indischen Mittal-Konzern gehörende Stahlunternehmen Arcelor-Mittal ein Stahlwerk. Arcelor Mittal beschäftigt in mehreren Werken in Frankreich rund 20.000 Mitarbeiter. Wegen mangelnder Rentabilität wollte sich Arcelor-Mittal von den beiden Hochöfen und der Kokerei in Florange trennen, die Anlagen zur Verarbeitung des Stahls (unter anderem für die Automobilindustrie) weiter betreiben. Da sich für die Hochöfen und die Kokerei aber kein Interessent fand, erwog Arcelor-Mittal Ende September, diese Einheiten zu schließen.
Daraufhin intervenierte die französische Regierung. Sie forderte Arcelor-Mittal auf, den gesamten Standort Florange, also mit den attraktiven Bestandteilen, zum Verkauf zu stellen. Dies lehnte Arcelor-Mittal ab. Darauf drohte der französische Industrieminister Arnaud Montebourg, ein gelernter Jurist mit einer Neigung zu starken Sprüchen (“grande gueule”), mit der Verstaatlichung von Florange und erklärte öffentlich, man wolle Mittal in Frankreich nicht mehr – ein Affront gegenüber einem Unternehmen, das in Frankreich eine fünfstellige Zahl von Arbeitnehmern beschäftigt. In der Sozialistischen Partei und in den Gewerkschaften stieß die Idee einer Verstaatlichung auf viel öffentliche Zustimmung. Währenddessen liefen im Amt des Premierministers Jean-Marc Ayrault Verhandlungen zwischen dem Staat und dem Unternehmen – Florange wurde zu einem öffentlichen Symbol für die Kraft der Regierung, Arbeitsplätze zu sichern.
Vor wenigen Tagen empfing Staatspräsident Hollande den Unternehmer Mittal. Genaues wurde über das Gespräch nicht bekannt, allerdings soll Hollande die Möglichkeit einer zumindest vorübergehenden Verstaatlichung ins Spiel gebracht haben. Dann erwähnte Montebourg in einer Parlamentsdebatte einen ungenannten Stahlindustriellen, der bereit sei, 400 Millionen Euro in Florange zu investieren, sofern er das gesamte Werk übernehmen könne. In Paris kursierten Gerüchte, es könne ein russischer Stahlndustrieller gemeint sein.
Am späten Freitagabend teilte Premierminister Ayrault mit: Arcelor-Mittal kann die Hochöfen schließen; sie werden allerdings nicht abgerissen, sondern konserviert, um sie eventuell wieder einmal in Betrieb nehmen zu können, wenn ökologisch vorteilhaftere Produktionsverfahren zur Verfügung stehen sollten. Die betroffenen 629 Beschäftigten werden nicht entlassen, sondern entweder anderswo in Florange beschäftigt (der Standort beschäftigt insgesamt 2500 Menschen) oder sie können in Vorruhestand treten. Arcelor-Mittal hat zugesichert, in den kommenden Jahren in Florange 180 Millionen Euro zu investieren – was aber keine besondere Konzession bedeutet, da seit 2004 jedes Jahr 30 Millionen in den Standort investiert worden sind.
Das Amt des Premierministers teilte mit, eine Verstaatlichung wäre aus juristischen Gründen zweifelhaft und aus wirtschaftlichen Gründen “instabil” gewesen. Das ist ein Schlag gegen Montebourg. Ein viel härterer folgte mit der Ankündigung, es habe niemals einen ernsthaften Interessenten für Florange gegeben – obwohl Montebourg erst vor wenigen Tagen das Gegenteil behauptet hatte. Ein Tiefschlag ist schließlich die Mitteilung, Montebourg habe mit seinem Herzen für die Verstaatlichung gekämpft – das kann man als Lob verstehen, aber auch als implizite Kritik, er hätte lieber mit seinem Verstand kämpfen sollen. Allerdings sind Volten in der Politik nicht ungewöhnlich: Am Samstagnachmittag lobte das Amt des Premierministers in einer Mitteilung Montebourg, der mit seinem Einsatz dazu beigetragen habe, die Position des Staates in den Verhandlungen mit Mittal zu stärken. Gleichwohl gehört Montebourg sicherlich nicht zu den Gewinnern der Vereinbarung.
Am Samstagabend lehnte Montebourg im französischen Fernsehen einen Rücktritt ab. Er sagte, angesichts der Neigung des Chefs von Arcelor-Mittal, Vereinbarungen nicht einzuhalten, müsse die Verstaatlichung als Option auch in Zukunft erhalten bleiben.
Ein Vertreter der eigentlich gemäßigten Gewerkschaft CFDT sagte, man habe den Eindruck, dass die Beschäftigten wieder einmal verraten worden seien. Man sei von der Regierung belogen worden. Ein Sprecher der weniger gemäßigten Gewerkschaft CGT sagte, Sarkozy sei schlimm gewesen, aber Hollande sei nicht besser. Ein Vertreter der Gewerkschaft FO merkte an, dass alleine die Bewahrung der stillgelegten Hochöfen 8 Millionen Euro im Monat koste. Die Investitionszusagen von Arcelor-Mittal seien daher nicht ausreichend. Die Zeitung “Le Monde” stellt fest, die Regierung Ayrault könne zwar zufrieden sein, einen Sozialplan verhindert zu haben, mit ihrem Vertrauen in die Zusagen von Mittal gehe sie aber ein hohes Risiko ein. Arcelor-Mittal sprach in einer Mitteilung von einer “guten Vereinbarung”.
Am Montag berichtet die Zeitung Libération von der Entschlossenheit Montebourgs, am vergangenen Samstag zurückzutreten und von einem schweren Zerwürfnis mit Premierminister Ayrault. Staatspräsident Hollande soll Montebourg bewogen haben, in der Regierung zu bleiben. Montebourg, der vor allem auf dem linken Flügel der Sozialistischen Partei recht beliebt ist, hat sich entschlossen zu bleiben, ist aber nach wie vor sehr verstimmt.
“Montebourg setzt das wirtschaftliche Ansehen Frankreichs aufs Spiel”, heißt es in einem Blog der Zeitung “Le Monde”. Der Verfasser, ein in Amerika lebender französischer Banker, wirft der Regierung vor, sich im Jahrhundert geirrt zu haben. In anderen Ländern habe man bereits verstanden, dass Hochöfen aus Gründen technischen Fortschritts nicht mehr zeitgemäß seien.
Am Dienstag (4. Dezember 2012) berichtet die Zeitung “Le Monde”, das Abkommen zwischen der Regierung und Arcelor-Mittal sei so geheim, dass nicht einmal Industrieminister Montebourg Einsicht in das Dokument erhalte. Das ist eine neue Demütigung für Montebourg. Andererseits lädt eine solche Geheimniskrämerei auch zu Spekulationen ein. So gibt es Gerüchte, in dem Geheimabkommen gäbe es eine zusätzliche geheime Klausel, nach der sich das Unternehmen verpflichtet habe, in einem in der westfranzösischen Heimat von Premierminister Ayrault gelegenen Werk bevorzugt kein Personal abzubauen. Das Amt des Permierministers dementierte dies und teilte mit, alle französischen Standorte würden gleich behandelt. Ein Vertreter von Arcelor-Mittal sagte, in sozialverträglicher Abbau von Beschäftigung bleibe für die französischen Werke eine Option.
So geht es mit Geheimabkommen: Nachmittags teilt “Le Monde” exklusiv mit, die Zeitung besitze eine Kopie der Vereinbarung. Vorab gibt die Zeitung bekannt, dass Bedenken gegenüber Arcelor-Mittal gerechtfertigt seien: Von den 180 Millionen Euro Investitionszusagen in den kommenden fünf Jahren entfielen nur 53 Millionen Euro auf strategisch wichtige Projekte in Florange.
Am Mittwochabend traf sich Premierminister Jean-Marc Ayrault mit Vertretern der Gewerkschaften. Ein Sprecher der Gewerkschaft CFDT sagte anschließend, der Arbeitgeberverband habe gewonnen. Der Widerstand der Gewerkschaften gehe aber weiter: “Das gallische Dorf bleibt in Lothringen fest verankert.”
Am Donnerstag teilt Arcelor Mittal mit, dass es sich “aus technischen Gründen” aus dem Projekt einer künftigen Speicherung von C02 (Projekt “Ulcos”) in Florange zurückzieht. Das Projekt Ulcos war bisher eine ferne Hoffnung, die beiden Hochöfen doch noch einmal zu nutzen. Nunmehr ist die Zukunft der Hochöfen völlig unklar. Ein Sprecher der Gewerkschaft CFDT sagte, dies sei der Beweis, dass Arcelor-Mittal alle hereingelegt habe. Er kündigte an, Metallarbeiter würden die Hochöfen besetzen.
Am Freitag versicherte Lakshmi Mittal, der Chef des Mittal-Konzerns, dass er sich an die eingegangenen Vereinbarungen halten werde. Zugleich beklagte er eine “geschäftsfeindliche” Sprache – vermutlich mit Bezug auf Arnaud Montebourg. In Florange hat sich die Stimmung etwas abgekühlt; von einer Besetzung der Hochöfen ist keine Rede mehr.