Ben Bernanke, der Vorsitzende der amerikanischen Zentralbank Federal Reserve, hält eine Schuldengrenze für überflüssig. Der Nutzen von Regeln leuchtet ihm in der Finanzpolitik nicht ein. Nur in der Finanzpolitik?
Von Patrick Welter, Washington
Was hält Ben Bernanke, der Vorsitzende der amerikanischen Notenbank Federal Reserve, von der Schuldengrenze der Vereinigten Staaten? Gar nichts. „Sie hat einen symbolischen Wert, schätze ich”, sagte Bernanke diese Woche an der Universität Michigan in Ann Arbor. „Es wäre gut, wenn wir sie nicht hätten.”
Im aufgewühlten amerikanischen Streit im Kongress um die Staatsverschuldung, die 16,4 Billionen Dollar erreicht hat, sind das klare und harte Worte. Nicht, dass Bernanke ein Freund der ausufernden Verschuldung wäre. Das stellte er in Ann Arbor ausdrücklich klar. „Ich sage nicht, dass Defizite und Schulden eine gute Sache sind. Das sage ich überhaupt nicht.” Aber der Weg, die Staatsverschuldung mit einer Schuldengrenze einzudämmen, der scheint ihm doch verfehlt.
Pacta sunt servanda
Bernanke mahnt eine klare Entscheidung des Kongresses über Ausgaben und Einnahmen an, darüber, wie groß oder klein der Staat sein solle. Wenn der Kongress so Ausgaben und Einnahmen festsetze, entscheide er indirekt über den notwendigen Kreditbedarf. Diesen dann noch durch eine Schuldengrenze zu deckeln, das erscheint ihm unsinnig und überflüssig. Und als geradezu leichtsinnig gilt ihm, wenn die Anhebung der Schuldengrenze im politischen Streit als Faustpfand eingesetzt wird. Pacta sunt servanda, Verträge müssen eingehalten werden. Die Schuld nicht zu bedienen, „das ist wie eine Familie, die sagt, gut, wir haben zu viel ausgegeben, also lasst uns aufhören, die Kreditkartenrechnung zu bezahlen. Das ist nicht der Weg, um sich eine gute finanzielle Position aufzubauen.” Wer möchte Bernanke da widersprechen?
Seine Sorgen sind nicht von der Hand zu weisen. Im Sommer 2011, im damaligem wochenlangen Gezerre um die Anhebung der Schuldengrenze, setzten die Republikaner ihre Zustimmung als Druckmittel ein, um Ausgabenkürzungen zu erzwingen. So ist das im harten politischen Hin und Her. 2006 stimmte auch der damalige Senator Barack Obama der Anhebung der Schuldengrenze nicht zu, um den Republikanern eins auszuwischen. Im Sommer 2011 jedenfalls, auch wenn das Finanzministerium das nie offen aussprach, standen die Vereinigten Staaten kurz vor der Zahlungsunfähigkeit und möglicherweise vor dem Default. Den Preis des unwürdigen politischen Schauspiels zahlten der Kongress und Obama wenig später: Standard & Poor’s entzog dem Schuldner Vereinigte Staaten die Rating-Bestnote „AAA”.
Ähnliches droht jetzt wieder. Aber muss man deshalb wie Bernanke gleich die Schuldengrenze verwerfen? Oder, wie Obama es nicht ausschließt, die Kompetenz zur Anhebung der Schuldengrenze gleich dem Präsidenten übertragen? Das wäre in etwa so, als ob man dem Fuchs die Schlüssel zum Hühnerstall überlässt.
Wie weit ist Princeton von Fairfax?
Bernankes Denken zeigt, dass die Distanz zwischen seiner Stammuniversität Princeton und der George-Mason-Universität in Fairfax, Virginia, groß ist. In Fairfax wirkte der gerade gestorbene James Buchanan, der Träger des Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften von 1986. Buchanan verstand wohl wie kaum ein anderer amerikanischer Ökonom den Wert der Regelbindung politischen Handelns und konnte das auch noch wissenschaftlich begründen. Dahinter steht der nicht von der Hand zu weisende Verdacht, dass Politiker andere Ziele als das – wie auch immer definierte – Gemeinwohl verfolgen: mehr Macht, mehr Ausgaben, mehr Geld. Regeln und Grenzen für das politische Verfahren dienen dazu, solche Fehlentwicklungen, die auch die Staatsverschuldung in die Höhe treiben, zu begrenzen.
Die Schuldengrenze ist eine solche Regelbindung. So wie Odysseus sich an den Mast binden ließ, um dem verlockenden Gesang der Sirenen nicht zu verfallen, so hat der amerikanische Kongress sich seit 1917 dazu verpflichtet, die Verschuldung immer nur schrittweise zu erhöhen und immer wieder neu darüber abzustimmen. Damals war das keine Einschränkung, sondern im Gegenteil eine Erleichterung: Davor stimmte der Kongress noch über jede einzelne Schuldaufnahme der Regierung ab. Danach ging es schrittweise aufwärts, mit wenigen Ausnahmen: In den vierziger und fünfziger Jahren wurde die Schuldengrenze gelegentlich sogar gesenkt. Seit 1962 aber hob der Kongress die Schuldengrenze 78 Mal an.
Schuldengrenze oder -bremse? Schuldenverbot!
Offensichtlich kann man sich bessere Lösungen zur Begrenzung der Staatsverschuldung vorstellen als eine absolute Schuldengrenze, die alle paar Jahre – oder unter Obama jedes Jahr – überholt ist. Die Deutschen und einige andere europäische Länder versuchen es neuerdings mit einer Schuldenbremse, mit der die Neuverschuldung – gemessen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt – begrenzt werden soll. Ob dieses Konstrukt, das mit gut gemeinten Ausnahmen verwässert wurde, letztlich halten wird, ist offen.
Wirksam auf jeden Fall ist in den meisten amerikanischen Bundesstaaten das Verbot der Neuverschuldung – das die Demokraten in Washington für den Bund ablehnen. Vergleichende Studien zeigen, dass solche Regeln die Neuverschuldung zumindest gebremst haben. Auch hat der Druck dieser Regelbindung seit ihrer erstmaligen Aufnahme in die Verfassungen von Bundesstaaten in den Jahren um 1840 bislang mit verhindert, dass ein amerikanischer Bundesstaat je zahlungsunfähig wurde – selbst Kalifornien nicht, obwohl die Regel des Budgetausgleichs dort im letzten Jahrzehnt oft durch Tricksereien unterlaufen wurde. Doch haben die Kalifornier auch drastische Ausgabenkürzungen hinbekommen und hingenommen, um die Defizite immer wieder in den Griff zu bekommen. Die Pflicht zum Budgetausgleich ist in den Bundesstaaten dabei oft differenziert: Verschuldung für Infrastrukturinvestitionen etwa in Kalifornien ist zulässig, wenn die Kalifornier in einer Volksabstimmung zustimmen. Die Schuld wird dann in Sonderetats durch Nutzungsgebühren oder durch andere festgelegte Einnahmen abgetragen.
Wenn auch offensichtlich nicht so erfolgreich wie ein Verbot der Neuverschuldung, ist die Schuldengrenze auf Bundesebene dennoch eine gut begründete Regelbindung. Die Senatoren und Abgeordnete müssen sich immer wieder vor dem Volk rechtfertigen, wenn sie das Limit heraufsetzen wollen. Das entspricht dem demokratischen Brauch, ebenso wie das Dringen der Repulikaner, die Schuldengrenze ernster zu nehmen. Wohlgemerkt: Auch die Republikaner wollen Amerika nicht in den Staatskonkurs führen, sondern den Amerikanern Vertrauen in die Finanzpolitik geben. Deshalb wollen sie mit der Anhebung der Schuldengrenze zugleich die Ausgaben zurückführen. Obama ist derjenige, der eine höhere Schuldengrenze ohne Wenn und Aber verlangt.
Bernankes Geheimnis
Bernanke sollte zumindest das Denken in Regeln vertraut sein, wenn er vielleicht auch die Arbeiten von Buchanan nicht kennt. Schließlich gibt es in der Geldpolitik ein ähnliches Problem, das Ökonomen als „Zeitinkonsistenz” bezeichnen. Die Nobel-Gedächtnispreisträger für Wirtschaftswissenschaften von 2004, Finn Kydland und Edward Prescott, haben es 1977 beschrieben.
Zeitinkonsistenz ist einfach zu verstehen: Eine Notenbank kann den Bürgern noch so oft versprechen, sie werde die Inflation im Zaum halten und sie damit zu bestimmten Entscheidungen etwa in der Altersvorsorge ermuntern. Eine Überraschungsinflation kann aber immer – zumindest nach simplen keynesianischen Denkmodellen – die Reallöhne senken und so zeitweise für mehr Beschäftigung sorgen. Die früheren Versprechen sind dann nichts mehr wert, wenn die Umstände heute – in kurzsichtiger Weise – andere geldpolitische Entscheidungen als besser nahelegen. Eine analoge Zeitinkonsistenz der Entscheidungen zeigt sich bei der Staatsverschuldung. Die Politiker können noch so oft versprechen, weniger oder keine Schulden zu machen. Sind die Schulden erst einmal da, müssen sie doch bedient werden – und sei es um den Preis neuer Schulden. Das ist genau die Lösung, die Bernanke und Obama dem Kongress im Ringen um die Schuldengrenze nahelegen.
Die herkömmliche Lösung für das Problem der Zeitinkonsistenz ist: eine Regelbindung – wie Bernanke als theoretisch kenntnisreicher Geldpolitiker weiß. Nicht umsonst gab die Federal Reserve sich Anfang 2012 ein mittel- bis langfristiges Inflationsziel von 2 Prozent. Damit wollte sie die Sorgen der Amerikaner eindämmen, dass die groß angelegten Käufe von Staats- und Hypothekenanleihen durch die Fed, die quantitative Lockerung, in der Zukunft zur Inflation führen. Bernankes Geheimnis ist, warum eine solche Regelbindung in der Geldpolitik nützlich sein soll, in der Finanzpolitik aber nicht. Aber vielleicht hat auch die 2-Prozent-Inflationsgrenze nur symbolischen Wert.