Portugal ist in dieser Woche mit einer stark nachgefragten Anleihe an den Kapitalmarkt zurückgekehrt. Das aktuelle Marktumfeld sieht recht gut aus: Die Renditen bestehender Staatsanleihen sind deutlich gesunken und der Preis für Kreditausfallderivate (CDS) auf Staatsanleihen ist ebenfalls kräftig zurückgegangen. Der Weg zur wirtschaftlichen Gesundung des Landes ist eingeschlagen – allerdings ist er noch lang und steinig.
Von Gerald Braunberger
“The Portuguese economy is in serious trouble: Productivity growth is anemic. Growth is very low. The budget deficit is large. The current account deficit is very large.”
Olivier Blanchard (2006)
1. Freundliches Marktumfeld
Portugal – seit Frühjahr 2011 ein Programmland des IWF und seiner europäischen Partner – ist erstmals seit rund zwei Jahren mit einer mehrjährigen Anleihe an den Markt zurückgekehrt. (Kurzlaufende Geldmarktpapiere wurden auch in den vergangenen zwei Jahren immer wieder begeben.) Konkret wurde eine Anleihe mit Fälligkeit Oktober 2017 zu einer Rendite von 4,89 Prozent um 2,5 Milliarden Euro aufgestockt. Nach Angaben des Finanzministeriums lagen Gebote über rund 12 Milliarden Euro vor. 93 Prozent der neuen Papiere wurden von ausländischen Investoren übernommen – 30 Prozent gingen nach Amerika, 30 Prozent nach Großbritannien und 9 Prozent nach Asien. Die weitaus wichtigsten Käufer waren Fonds. Portugal will die günstige Marktlage nutzen, um bald mit einer zehnjährigen Anleihe an den Markt zu gehen. Der Sanierungsplan sieht vor, dass Portugal Anleihefälligkeiten über 5,8 Milliarden Euro im Herbst 2013 aus eigener Kraft erneuert und dafür nicht auf Hilfsgelder zurück greift.
Portugal profitiert – wie der gewaltige Renditerückgang über die vergangenen zwölf Monate in der Grafik zeigt – von eigenen Anstrengungen, aber auch von einer generell besseren Marktlage für die Peripherie. Spanien setzte in dieser Woche eine zehnjährige Staatsanleihe im Volumen von 7 Milliarden Euro ab – es lagen Gebote über 22 Milliarden Euro vor; ein historischer Rekord in der Geschichte Spaniens.
Zurück zu Portugal: Die wachsende Zuversicht an den Finanzmärkten ist erfreulich, aber der Weg zur Gesundung von Wirtschaft und Politik in dem kleinen Land im Südwesten Europas wird sehr lange dauern und Standfestigkeit erfordern, denn die Fehlentwicklungen haben lange vor der Einführung des Euro ihren Anfang genommen. Portugal hatte bereits in den Jahren 1978 und 1983 Hilfen des IWF in Anspruch nehmen müssen. Dieser Beitrag versucht einen Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung in der jüngeren Vergangenheit zu liefern.
2. Der Übergang in die Wissensgesellschaft vollzieht sich langsam
Einen sehr guten Überblick über die längerfristige wirtschaftliche Entwicklung Portugals gibt ein Aufsatz von Santos Pereira/Lains. Demnach ist das Land erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Industriegesellschaft eingetreten: “By 1950, more than half of those employed still worked in the agricultural sector. The big breakthrough for the Portuguese economy occurred when industrialization gathered speed, when hundreds of thousands of people left their occupations in the countryside and flocked to the cities in search of urban and industrial jobs, or emigrated.” Von Mitte der fünfziger bis Mitte der siebziger Jahre bescherte die späte Industrialisierung Portugal im europäischen Vergleich sehr hohe Wachstumsraten.
Danach allerdings gingen die Wachstumsraten zurück, unterbrochen nur von einem Zwischenhoch in den späten achtziger Jahren, als Portugal im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt marktwirtschaftliche Reformen und Privatisierungen vornahm. Sehr langfristig lässt sich gleichwohl ein Aufholprozess gegenüber Kerneuropa erkennen: Lag das Pro-Kopf-Einkommen Portugals unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bei rund 30 Prozent, beträgt es heute rund 60 Prozent: “Nevertheless, in the course of the last century, Portugal mutated from being an agrarian economy to become a middle-income, industrialized country. The country became an exporter of traditional products, such as textiles, shoes and clothing, as well as certain intermediate products, namely electronic components and industrial molds.”
Es lässt sich aber nicht bestreiten, dass der Aufholprozess gegenüber den wirtschaftlich weiter entwickelten europäischen Nationen in den neunziger Jahren ins Stocken geraten ist, auch wenn die Arbeitslosenquote damals von 7 auf 4 Prozent sank. Santos Pereira/Lains sprechen von einem “reversal of Portugal’s fortunes”. Die Autoren nennen vier Gründe:
– eine unbefriedigende Produktivitätsentwicklung (siehe den nachfolgenden Absatz)
– eine nicht gelungene Anpassung an die Europäische Währungsunion ab 1998 (was übrigens bald von Ökonomen konstatiert wurde, zum Beispiel von Olivier Blanchard in einem Aufsatz aus dem Jahre 2006)
– fallende Erträge aus Sachinvestitionen
– eine falsch konzipierte Wirtschafts- und Finanzpolitik, die zu wenig zur Überwindung struktureller Schwächen der Wirtschaft, zum Beispiel einem Mangel an hochqualifizierter Arbeit, leistete, aber dafür Haushaltsdefizite perpetuierte. Man gab viel Geld für den Bau und für den Konsum aus, vernachlässigte aber die Bildung: “…on average Portugal has the lowest number of years spent in school at all levels and in the whole European Union. Similarly, Portugal has one of the lowest rates in the average years spent in secondary schooling – better than only Bulgaria, Poland and Slovenia – and the lowest average of years spent in university education in the whole European Union.”
3. Regulierungen haben der Produktivitätsentwicklung geschadet
Die langfristigen Schwierigkeiten zeigen sich in der Entwicklung der Arbeitsproduktivität, gemessen an der Entwicklung des Outputs je Arbeitsstunde. Die Entwicklung ist seit geraumer Zeit sehr unbefriedigend, gleichwohl darf man diesen gesamtwirtschaftlichen Trend nicht einfach auf alle Sektoren übertragen. Santos Pereira/Lains schreiben über den industriellen Export: “If the composition of Portuguese exports is examined over the past two decades, some interesting changes occurred in their technological content. From the mid Nineties, they became less ‘traditional’. They were no longer goods with low value added, that drew on the intense use of unskilled labour. Rather, they began incorporating more medium and medium-high technologies (such as rubber and plastic products, machinery and electrial equipment, motor vehicles and chemical products) particularly in the case of industrial exports…The technologial element in exports rose. Exports based on high and medium-high technology currently account for about 40 per cent of all manufactured products.”
Auch wenn es hier Fortschritte zu verzeichnen gibt, bleibt die Produktivitätsentwicklung in der Gesamtwirtschaft (und das gilt nicht nur für die Arbeitsproduktivität) schwach. Besonders auffällig ist eine international eher seltene Entwicklung: Die durchschnittliche Größe eines Unternehmens in Portugal ist zurückgegangen. Die Autoren Braguinsky/Branstetter/Regateiro führen ihre Entdeckung – “The Incredible Shrinking Portuguese Firm” – nur etwa zur Hälfte auf die Zerschlagung von Monopolen und die stärkere Hinwendung von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft zurück. Vielmehr scheinen Regulierungen des Arbeitsmarkts auch eine wichtige Rolle zu spielen: “We argue that Portugals’s uniquely strong protections for regular workers have played an important role. Drawing upon an emerging literature that attributes much of the productivity gap between advanced nations and developing nations to the misallocation of resources across firms in developing countries, we develop a theoretical model that shows how Portugal’s labor market institutions ouldprevent more produtive firms from reaching their optimal size, thereby constraining GDP per capita.” Einfacher ausgedrückt: Wenn die Unternehmen als Folge von Regulierungen ihre optimale Größe nicht erreichen, fällt es ihnen schwerer, zu exportieren, ausreichendes Sachkapital anzuschaffen und Personal (weiter) zu bilden.
4. Die Regierungen haben lange für finanzpolitische Laxheit optiert
Der Gouverneur der Bank von Portugal, Carlos da Silva Costa, hat die Fehlentwicklungen kürzlich in zwei Reden vor portugiesischen Ökonomen klar zum Ausdruck gebracht (hier und hier). Die Unwucht in der Wirtschaftsstruktur wurde von einer Finanzpolitik begleitet, die in den Jahren zwischen 1999 bis 2010 zu einem Haushaltsdefizit von durchschnittlich rund 5 Prozent des BIP führte. Die Außenhandelsbilanz geriet ebenfalls in eine bedenkliche Schieflage (siehe den nächsten Abschnitt).
Die Sünden in der Finanzpolitik werfen lange Schatten, wie eine Arbeit von Afonso/Claeys/Sousa belegt: “Portugal has a long record of persistently high and variable fiscal deficits. Since 1978 it did not exceed the 3% of GDP threshold only in seven years. Indeed, Portugal was the first EU country to breach the rules of the Stability and Growth Pact (SGP) in 2002, and to become therefore subject to the Excessive Deficit Procedure (EDP). This situation occurred again in 2005 and 2009.”
Fehler hat es viele gegeben: “Our main finding is that budgetary problems have been chronic over the period 1978-2007. A lack of adjustment on the spending side has contributed to debt accumulation. Temporary gains from high economic growth and the reduction in debt service in the transition to EMU were missed as an opportunity for an overhaul in public finances. Erratic changes in tax policy have made fiscal policy procyclical. Economic booms have been typically used to relax tax pressure. One-off measures have been preferred over structural measures to contain the deficit during economic crises. The stricter surveillance of budget deficits under the SGP has only accentuated these problems. The EU fiscal rules forced temporary consolidation, but did not structurally change the budget process. The root cause of fiscal trouble is a lack of transparency on budget decisions, insufficient budget management, and a lax application of fiscal rules.”
Bei aller berechtigten Kritik muss man auch sehen, dass Portugal seinen öffentlichen Schuldenstand lange unter oder bei 60 Prozent des BIP halten konnte; seit 2008 hat sich die Lage allerdings erheblich verschlechtert. Das 2011 vom IWF und den europäischen Partnern verschriebene Sanierungsprogramm sieht einen Abbau zunächst der Neuverschuldung vor – ein deutlicher Rückgang des Schuldenstandes würde viel Zeit erfordern. Anders als die Regierung in Athen ist die Regierung in Lissabon mit den Privatisierungen gut voran gekommen. Schon heute hat Portugal mit Verkäufen von Staatsbeteiligungen mehr Geld erlöst als insgesamt im Sanierungsplan angenommen, obgleich das Privatisierungsprogramm noch nicht abgeschlossen ist. Die Neuverschuldung dürfte in diesem Jahr vor allem wegen der Rezession etwa 5 Prozent des BIP erreichen nach 4,5 Prozent im vergangenen Jahr.
5. Leistungsbilanzdefizite haben eine hohe Auslandsverschuldung erzeugt
Die Außenhandelsbilanz geriet ebenfalls in eine bedenkliche Schieflage, weil die Exportwirtschaft an Wettbewerbsfähigkeit einbüßte, aber ein Teil des ausufernden Konsums durch steigende Importe befriedigt wurde. Da Silva Costa stellt heraus, dass die Leistungsbilanzdefizite das Ergebnis einer nicht ausreichenden inländischen Ersparnis darstellen – und dass dieses Problem Portugal schon seit sehr langer Zeit begleitet: “Saving insufficiency is a structural trait of the Portuguese economy. This is clearly shown in the external accounts: Over the last 60 years, the current and capital accounts, whih measure the economy’s financing capacity, posted a surplus only twice in 16 occasions; meanwhile over the same period, the balance of goods and services was always negative.”
In den ersten zehn Jahren der Währungsunion fiel ein Leistungsbilanzdefizit von durchschnittlich 8,3 Prozent des BIP im Jahr an. In der Folge stieg die Auslandsverschuldung von 64 auf 230 Prozent des BIP. Finanziert wurden diese Defizite überwiegend durch die portugiesischen Banken, die lange Zeit keinerlei Schwierigkeiten besaßen, auch im Ausland großzügig Mittel aufzunehmen. Man mag im Nachhinein räsonieren, ob die Gläubiger eher unter Leichtsinn und Überschwang litten oder von Beginn an darauf bauten, dass entgegen aller entgegen lautenden Bekenntnisse in Schwierigkeiten befindliche Euro-Mitgliedsländer herausgehauen würden. Die Portugiesen erhielten jedenfalls das Geld, das sie wünschten, und dies zu günstigen Bedingungen. Die Party dauerte bis ins Frühjahr 2011. Dann war Schluss.
Das Leistungsbilanzdefizit, das vor der Krise noch fast 10 Prozent des BIP betrug, dürfte nach neuesten Schätzungen im Jahr 2012 nahe Null gewesen sein; für die kommenden beiden Jahre werden Überschüsse erwartet. Diese Anpassung darf man als dramatisch bezeichnen. Diese Veränderungen sind zum größeren Teil das Ergebnis stark rückläufiger Einfuhren als Folge der Rezession, in die Portugal mit dem Eintritt in das Sanierungsprogramm gestürzt ist. Aber gleichzeitig steigen auch die Exporte; die Wettbewerbsfähigkeit nimmt langsam wieder zu.
Hier lässt sich auch eine geografische Neuorientierung beobachten, indem die portugiesische Wirtschaft mehr in Zielländer außerhalb Europas ausführt. Mit Blick auf den hohen Bestand an Auslandsschulden müsste Portugal auf längere Sicht Leistungsbilanzüberschüsse erzielen, um sein Haus in Ordnung zu bringen. Das erscheint nicht undenkbar, aber diese Herausforderung ist auch nicht gering. (Die aus den erheblichen Auslandsschulden des Südens entstehenden Anpassungsprobleme werden unter anderem von Daniel Gros thematisiert.)
Der Gouverneur des Banco de Portugal, de Silva Costa, kommt zu dem Schluss: “Sustained growth involves rebalancing the allocation of resources towards the tradable sector. The infrastructure and support services are available investments in the non-tradable sector have been made; these now must be put to work to create capacity in the tradable sector… Contrary to common opinion, the Portuguese economy has a low level of openness considering its relative size. Thus, countries like Sweden, Austria, Switzerland, Denmark or Belgium have much higher export market shares than Portugal, adjusted for population size. Also, penetration of Portuguese exports is particularly low in the geographies expected to grow the most in the next few years. This situation, along with the high capacity available in the manufacturing sector and the relative cost adjustments under way, suggest that the potential for economic growth based on exports is probably much higher than we tend to believe. However, let us not be naive: realising the growth potential from expansion of the tradable sector is not automatic. It depends crucially on behaviours adopted by the economic agents.”
6. … und alle Fragen offen?
Zusammengefasst: Mit dem Hilfsprogramm des IWF und der europäischen Partner hat im Frühjahr 2011 eine tiefgreifende Transformation Portugals begonnen, die nicht ohne erhebliche makroökonomische Kosten verläuft: Das mit der Sanierungspolitik verbundene Konjunkturtal ist noch nicht durchschritten. Die finanzpolitische Schrumpfkur und die in Angriff genommene Reform des Staatswesens hat die gesamtwirtschaftliche Nachfrage fallen lassen, worauf Portugal in eine Rezession gestürzt ist. Das BIP dürfte im vergangenen Jahr um 3 Prozent gefallen sein und wird nach den Prognosen im laufenden Jahr noch einmal um 2 Prozent nachgeben. Die Arbeitslosenquote beträgt rund 15 Prozent. Nachdem eine Mehrheit im Parlament und in der Bevölkerung die kurzfristig schmerzliche Reformpolitik lange mitgetragen hat, ist in den vergangenen Monaten der Widerstand gewachsen. Aber trotz erheblicher Reformfortschritte, die in den Berichten der „Troika” auch angemessen gelobt werden, ist besonders die Reform des ineffizienten Staatswesens noch lange nicht abgeschlossen.
Der Europa-Chefvolkswirt von Goldman Sachs, Huw Pill, hat die Sanierung Portugals dieser Tage als eine Art Generationenprojekt beschrieben. Festhalten kann man heute, dass über Jahrzehnte die Entwicklung in die falsche Richtung ging. Vor zwei Jahren wurde die Wende beschlossen, und mittlerweile sind erste Reformschritte klar erkennbar, die von den Kapitalmarktteilnehmern offensichtlich honoriert werden. Alles Weitere wird die Zukunft zeigen.
Dieser Beitrag ist eine sehr stark überarbeitete und erweiterte Version eines Artikels, der am 20. Januar 2013 als “Sonntagsökonom” in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist.
Der zweite und der dritte Teil unserer kleinen Portugal-Reihe sind hier:
Lissaboner Langlauf (2): Austerität ist notwendig – ein Vortrag von Finanzminister Vítor Gaspar
Lissaboner Langlauf (3): Struktureformen und Privatisierungen
In den vergangenen Wochen haben wir bereits einen Zweiteiler über die wirtschaftliche Lage in Spanien veröffentlicht:
Das spanische Paradoxon (1): Warum steigen die Exporte, obwohl die Wirtschaft (angeblich) nicht wettbewerbsfähig ist?
Das spanische Paradoxon (2): Spanien muss sich aus der Krise exportieren