Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Gespräche mit Ökonomen (5): Raghuram Rajan über Exzesse der Geldpolitik, holistische Finanzmarktregulierung und das Potential Indiens

Raghuram Rajan zählt zu den führenden Ökonomen seiner Generation. Im Jahre 1963 in Indien geboren, lehrt er seit 1995 an der Universität Chicago. Von 2003 bis 2006 war er Chefökonom des IWF. Schon damals warnte er vor den Risiken zu expansiver Geldpolitik für die Stabilität der Finanzmärkte. Rajan ist Spezialist auf dem Gebiet der Finanzen; sein Buch "Fault Lines" zählt zu den wichtigsten Büchern, die in der laufenden Krise erschienen sind.

Pr Raghuram Rajan (Foto: Verena Müller)ofessor Rajan, mehr als fünf Jahre nach Ausbruch der Krise sind die Einbußen in den Vereinigten Staaten noch lange nicht aufgeholt, Europa steckt in einer Rezession. Allgemein sind die Wachstumsraten der industrialisierten Welt geringer als vor der Krise. Warum?

Das Wachstumsmuster vor der Krise war unhaltbar. Es war durch eine enorme Kreditaufnahme getrieben, durch einen Mix von privater und öffentlicher Verschuldung, je nach Land unterschiedlich. Immer mehr Geldleihe ist jetzt nicht mehr verfügbar, deshalb muss es eine Anpassung geben. Es gibt eine Nachfrageschwäche, verglichen mit der Nachfrage vor der Krise. Es gibt aber auch eine verzerrte Angebotsstruktur. Die muss auch korrigiert werden. Wer nur über mangelnde Nachfrage klagt und mehr öffentliche Ausgaben fordert, verkennt die verzerrte Produktionsstruktur. In den Vereinigten Staaten hatten wir zu viele Häuser produziert und es gab zu viel Makler, in Großbritannien zu viele Leute im Bankensektor. Das ist keine normale zyklische Rezession mit einer normalen Erholung, sondern eine Strukturkrise.

Und im Euroraum, in der Peripherie?

In Spanien zum Beispiel hatten sie den Bau-Boom mit Hypothekenkrediten, deshalb gibt es jetzt eine Bankenkrise. In Griechenland wurde der Staatsapparat exzessiv ausgeweitet, das muss jetzt korrigiert werden. Auch die Angebotsstruktur der Kernländer muss man bedenken. Sie haben sich auf die Nachfrage eingestellt, die aus der Peripherie kam. Auch sie müssen sich umstellen. All das dauert aber Zeit. Die Medizin schmeckt nicht. Aber die angenehmere Medizin wäre verkehrt.

Viele Politiker haben zuletzt optimistisch gesagt, in der Krise der Eurozone sei „das Schlimmste vorbei”. Teilen Sie diese Einschätzung?

Einige extreme Sorgen im vergangenen Jahr haben sich jetzt etwas abgeschwächt. Aber ich glaube nicht, dass die Krise schon ausgestanden ist. Die extremen Sorgen wie ein Zusammenbruch der Eurozone und des Bankensystems auch im Kern sind gedämpft – vor allem durch die Bereitschaft der EZB, „alles zu tun, was notwendig ist”. Aber deshalb sind die Probleme noch nicht gelöst. Das angekündigte Anleihekaufprogramm Outright Monetary Transactions (OMT) hat geholfen, vor allem Italien und Spanien. Aber die politische Anpassung in diesen Ländern geht nicht vollständig voran. Deshalb könnte der Vertrauenseffekt durch das OMT durchaus von den Märkten getestet werden.

Die EU arbeitet an einer Bankenunion mit einer gemeinsamen Bankenaufsicht unter dem Dach der EZB, zudem wird der Fonds ESM zur Rekapitalisierung und Restrukturierung angeschlagener Banken genutzt. Reicht das, um die Eurozone sicher zu machen?

Naja, die Vereinigten Staaten von Amerika haben eine Bankenunion und trotzdem schwere Bankenkrisen. Eine Bankenunion hilft Europa, das Vertrauen zu stärken, dass die Eurozone zusammenbleibt, aber sie verhindert nicht notwendigerweise künftige Bankenkrisen. Die Qualität der Bankenregulierung muss verbessert werden. Es braucht nicht zwangsläufig mehr, aber eine bessere und durchsetzbare Regulierung.

Was haben wir in den vergangenen Jahren über die Effizienz von Finanzmärkten gelernt, vor allem über die Effizienz von Staatsanleihemärkten? Sie haben jüngst ein Forschungspapier über die Kurzsichtigkeit von Regierungen und Märkten veröffentlicht.

Das Problem ist, dass die Risiken sehr konzentriert sind. Das Problem der Finanzmarktregulierung ist, dass sie den Finanzsektor hin zu einer „guten Praxis” koordiniert. Manchmal führte es aber auch zu einer hohen Konzentration der Risiken, die dann das ganze System gefährdet. Sie erinnern sich, hypothekenbesicherte Papiere (MBS) bekamen vor der Krise sehr gute Ratings und die Regulatoren haben die Banken folglich dahin gelenkt, solche Papiere zu kaufen. Die Folge war eine Risikokonzentration. Vor der Eurokrise hat die Regel, dass ein Investment in Staatsanleihen nicht mit Eigenkapital unterlegt sein muss, Staatsanleihen sehr attraktiv gemacht, vor allem weil Banker wussten, dass sie im Zweifel herausgehauen werden. In der Peripherie halten die Banken sehr viele Anleihen ihrer eigenen Regierungen. Das hat enorme Risiken geschaffen: Die Banken hängen an den Staaten und die Staaten an den Banken. Mehr diversifizierte Anlagen wären viel besser. Die Banken sollten nicht nur Anleihen ihrer eigenen Länder halten, sondern auch anderer europäischer oder sogar außereuropäischer Staaten.

Brauchen wir nicht eine ganzheitliche, holistische Sicht in der Regulierung? Es gibt die Bankenregulierung, daneben die Regulierung für Versicherer, und andere sprechen über das Schattenbanksystem. Wäre nicht ein integrierter Ansatz besser?

Natürlich. Nötig wäre etwas mehr Regulierung des Schattenbankensystems, aber eine etwas leichtere, doch effektivere Regulierung der Banken. Wenn man die Banken überreguliert, drückt man Aktivitäten in den Schattenbereich. Wenn man diesen reguliert, kommt etwas Aktivität zurück. Wir müssen das ganze System sehen. Am besten wäre eine leichte, aber effektive Regulierung über alle Bereiche hinweg.

In Europa und Amerika wird über ein Trennbankensystem gestritten. Würde das mehr Stabilität bringen?

Die ganze Diskussion über eine Rückkehr zum Glass-Steagall-Act und dem Trennbankensystem unterstellt, dass es einen Einlagenbereich gibt, der sicher sein soll, und einen Handelsbereich, der beliebig riskant sein kann. Zwischen den Bereichen gibt es aber viele Verbindungen, Zäune funktionieren nicht.

Zur Geldpolitik: Anfangs sagten Sie, dass wir Probleme sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite haben. Mit Blick auf das Nachfrageproblem könnte man sich für sehr niedrige Leitzinsen aussprechen, mit Blick auf die Angebotsseite wahrscheinlich nicht.

Ich bin für niedrige, aber nicht ultra-niedrige Zinssätze. Wenn man die Leitzinsen sehr lange sehr niedrig hält, dann versucht man, neue Transmissionskanäle für die Geldpolitik zu schaffen, etwa um Vermögensgüterpreise anzuheben, statt über den Kreditkanal zu gehen, der nicht funktioniert. Das ist problematisch. Niemand weiß, wie man aus dieser Politik wieder herauskommt. Mehr allgemein: Wenn es Strukturprobleme gibt, dann sind diese Art Nachfragestimuli, indem man die Zinsen sehr niedrig lässt und hofft, dass die Leute das Geld ausgeben, nicht unbedingt hilfreich. Sie sollten gar nicht angewandt werden. Es wäre besser, wenn man das System sich reinigen lässt, statt nicht-nachhaltige Nachfragequellen weiter aufrecht zu erhalten.

In ihrem Buch „Fault Lines” schreiben Sie, dass die gewachsene materielle Ungleichheit in den Vereinigten Staaten ein Faktor war, der den Kreditblase bedingt hat, mit dem die Armen ihren Konsum finanziert haben. Stimmt das allgemein? Mehr materielle Ungleichheit verstärkt das Risiko von Kreditkrisen?

Nicht unbedingt. In den Vereinigten Staaten hat man zum Teil deshalb so stark auf Kredite gesetzt, weil man sich scheut, einen Wohlfahrtsstaat aufzubauen. In den achtziger und neunziger Jahren – von der Reagan- bis zur Clinton-Ära – war die allgemeine Tendenz gegen Sozialtransfers und Steuern. Die zurückfallenden Bevölkerungsteile haben ihren Konsum zunehmend auf Pump finanziert. Jetzt sind ihre Kreditmöglichkeiten zusammengebrochen. Wir sehen jetzt in Teilen des politischen Spektrums eine Bewegung hin zu mehr Transfers, mehr Besteuerung der Reichen und mehr Umverteilung hin zum Rest. Besser wäre es aber, die Chancen der Zurückgebliebenen zu verbessern, indem man ihnen mehr Bildung und Ausbildung gibt, damit sie bessere Arbeitsplätze bekommen. Das dauert natürlich länger. Das Problem mit kurzfristigen Lösungen – der Nachfragepolitik – ist, dass darüber eine langfristige Lösung vernachlässigt wird.

Sie haben schon früher – schon vor der Krise, als sie noch IWF-Chefvolkswirt waren – vor einer zu lockeren Geldpolitik gewarnt und die Gefahr einer Abfolge von Blasen gesehen. Die Zentralbanken reagieren auf jeden Abschwung mit Zinssenkungen, aber sie warten lange mit einem Ausstieg aus der lockeren Geldpolitik. Glauben Sie, dass die Zentralbanken es dieses mal besser machen werden oder sind sie skeptisch?

Das macht mir Sorgen. Ich glaube, die Zentralbanken verwenden die falschen Werkzeuge. Die Vorstellung, dass es an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage fehle, treibt die Zentralbanken dazu, so stark Gas zu geben. Aber lösen wir damit die grundlegenden Probleme? Mit Leitzinsen von nahe null seit fünf Jahren haben wir keine signifikante Rückkehr zu normalen Bedingungen erreicht. Zur gleichen Zeit hatten wir hier in Amerika staatliche Haushaltsdefizite von 8, 9 oder 10 Prozent. Wenn sie dem Patienten über so lange Zeit so viel Medizin geben, dann ist das fragwürdig. Einerseits könnte man sagen, dass man den Patienten damit vor dem Tod bewahrt. Aber andererseits: Wenn der Patient sich nicht erholt, dann muss man nochmal über die Diagnose nachdenken. Wir müssen die zugrunde liegenden, strukturellen Probleme korrigieren. Das dauert, aber eine kurzfristige Politik hilft eben nicht. Damit verkauft man die Leute für blöd.

 Zuletzt einigen Fragen zu den Schwellenländern. Sie beraten auch die indische Regierung. Die Wachstumsraten in Indien liegen seit vielen Jahren deutlich unter denen in China. Warum liegt Indien so zurück?

Indien hat mit den Reformen etwa zehn bis zwölf Jahre später angefangen. China hatte eine spektakuläre Wachstumsphase im letzten Jahrzehnt. Ich sage nicht, dass Indien da herankommt, aber es könnte stärker wachsen. Der demokratische Prozess in Indien verlangsamt Entscheidungen, doch langfristig gesehen macht es den Entscheidungsprozess stabiler. Viele Infrastrukturprojekte stecken fest, weil die Genehmigung aus Umweltgründen nicht erfüllt werden oder weil sie den nötigen Grund und Boden nicht erwerben können. In Indien wird auf den demokratischen Konsens der Bevölkerung geachtet. Wie viele Prozentpunkte man dafür bezahlt? Etwa 2 Prozentpunkte, schätze ich. Ist das schlecht? Nicht unbedingt. Die Leute haben recht, sich über Umweltverschmutzung zu sorgen. Aber Wachstum ist auch wichtig. Indien hat eben einen anderen Ansatz als China.

Welche Reformen bräuchte Indien für mehr Wachstum?

Das Land muss die Bedingungen für kleine und mittlere Unternehmen verbessern. Es gibt enorm viele Leute, die die Landwirtschaft verlassen werden oder wollen. In China ist der Anteil der Agrarbeschäftigten innerhalb einer Dekade von 50 auf 40 Prozent gesunken. Das könnte in Indien ähnlich laufen. Aber es muss die Bedingungen schaffen, um diesen Leute andere Beschäftigungen zu ermöglichen. Chinas große Herausforderung wird der demokratische Wandel sein.

Könnte Indien China in den kommenden Jahrzehnten wirtschaftlich überholen?

China stößt ans Ende seiner Bevölkerungsaufschwungs, die demografische Dividende läuft aus. Indien hat eine viel jüngere Bevölkerung, sein Arbeitskräftepotential wächst noch einige Zeit. Wenn man Beschäftigungsmöglichkeiten schafft, wird die indische Wachstumsrate in den nächsten Jahrzehnten China übertreffen. Es wird aber noch lange dauern, bis das chinesische Pro-Kopf-Einkommen oder das Bruttosozialprodukt erreicht wird.

Wird das eher in der ersten oder der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts passieren?

In fünfzig Jahren kann viel passieren, gewaltige politische und wirtschaftliche Veränderungen. Wenn es keinen Bruch gibt, wird Indien in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts wirtschaftlich überholen – wenn alles nach Plan läuft, aber die Dinge laufen ja nie nach Plan. Ich wage lieber keine Prognose.

 

——————————————————— 

*) Der Preis wird vom Center for Financial Studies (CFS) und der Goethe-Universität in Frankfurt verliehen. Rajan ist der fünfte Preisträger. Zuvor wurden Gene Fama (2005), Michael Woodford (2007), Robert Shiller (2009) und Kenneth Rogoff (2011) ausgezeichnet. Das Foto stammt von Verena Müller.

Hier ist die Pressemitteilung des CFS zur Preisvergabe.

Eine kürzere Version dieses Interviews ist am 6. Februar 2013 im Finanzmarkt der F.A.Z. erschienen.

———————————————————

Frühere Beiträge aus der Reihe Gespräche mit Ökonomen:

1. Rüdiger Bachmann (RWTH Aachen) über DSGE-Modelle in der Makroökonomik

2. Daron Acemoglu (MIT) über die Anwendung seiner Institutionenökonomik auf die Eurokrise

3. Carl Christian von Weizsäcker (Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern) über die Begründung sehr niedriger Zinsen durch die Kapitaltheorie

4. Axel Ockenfels (Universität Köln) über die Grenzen der experimentellen Ökonomik

 

____________________________________________________________________

Das Blog finden Sie unter https://www.faz.net/fazit und auf:
Fazit-Blog auf Twitter  Fazit-Blog auf Facebook
Fazit-Blog auf Google Plus