Um sich als Ökonom unsterblich zu machen, benötigte der Mann mit der filmreifen Biographie gerade mal eine Seite. Nachzulesen ist sie in der Fachzeitschrift “Proceedings of the National Academy”, Jahrgang 1950: In knappen, hölzernen Sätzen analysiert John F. Nash Jr., damals 21 Jahre alt, wie sich Menschen in Konfliktsituationen verhalten, wenn sie nicht wissen, was ihr Gegenüber plant. Nash argumentiert mit Formeln und schlussfolgert nach wenigen Zeilen, es müsse stets ein Gleichgewicht geben, also eine Konstellation, in der es sich für niemanden lohnt, sein Verhalten zu ändern, solange alle anderen ihren “Strategien” treu bleiben.
Brisant ist diese Erkenntnis, weil es allen Beteiligten bessergehen könnte als in diesem Zustand, würden sie gemeinsame Sache machen. Doch dazu kommt es nicht, denn niemand hat im Gleichgewicht einen Anreiz, sein Verhalten zu ändern: Eine Welt ohne Atomwaffen wäre schön, aber wer fängt an, abzurüsten? Die Tragweite dieser Einsicht erkannten selbst namhafte Kollegen nicht sofort. Erst Jahre später entwickelte sich das “Nash-Gleichgewicht” zu einem zentralen Lösungskonzept der Spieltheorie mit weitreichenden Folgen für die Sozialwissenschaften. Den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt Nash 1994.
Veröffentlichungen des Amerikaners sind Raritäten. In einem Lebensabschnitt, in dem andere Forscher ihre produktivsten Phasen haben, publizierte der Architekt der Spieltheorie nicht eine einzige Zeile. Der Grund ist tragisch: Mit Anfang 30 erkrankte Nash an Schizophrenie, mehr als drei Jahrzehnte lang war er nicht in der Lage zu arbeiten, immer wieder musste er sich in der Psychiatrie behandeln lassen. Zwischen 1966 und 1996 klafft auf seiner Publikationsliste eine Lücke. Erst im fortgeschrittenen Alter konnte Nash die Krankheit hinter sich lassen und sich wieder der Forschung widmen, allerdings ohne größeren Drang, seine Arbeiten zu veröffentlichen. Ein Leben zwischen Genie und Wahnsinn, das Hollywood zu dem Oscar-prämierten Film “A beautiful mind” inspirierte.
Angesichts seiner Vorgeschichte ist Nashs jüngster Beitrag umso bemerkenswerter. Knapp 63 Jahre nach seiner visionären Veröffentlichung in den “Proceedings of the National Academy” ist Ende 2012 im selben Journal ein neuer Artikel des 84 Jahre alten Forschers erschienen. Gemeinsam mit einem weiteren Pionier der Spieltheorie, dem deutschen Nobelpreisträger Reinhard Selten (82), sowie den beiden Experimentalforschern Axel Ockenfels (Universität zu Köln) und Rosemarie Nagel (Universität Pompeu Fabra, Barcelona) ist Nash der Frage nachgegangen, wie unter Menschen Kooperation und Fairness entstehen können, wenn die Verhandlungsmacht zwischen ihnen ungleich verteilt ist. Das Forscherquartett gibt eine einfache Antwort: Wenn Menschen freiwillig Verhandlungsmacht an gewählte Repräsentanten abgeben, fördert das faire und effiziente Konfliktlösungen und unterbindet Machtmissbrauch.
Die gemeinsame Arbeit der Forscher begann 2006, als Nash und Selten einer Einladung nach Köln folgten. “Seitdem stehen wir in regelmäßigem Kontakt”, sagt Ockenfels, der Nash als sehr umgänglichen und vielseitig interessierten Kollegen beschreibt. Die Grundlage für die Studie legte Nash, indem er am Computer simulierte, wie sich Menschen in kleinen Gruppen verhalten, wenn sie Macht abtreten können. “Mit dem Einfluss von Professor Selten ist die Idee entstanden, die Ergebnisse in einem Experiment mit menschlichen Spielern zu testen”, sagt Nash. In einer Laborstudie teilten die Forscher 300 Probanden in Dreiergruppen ein. In jeder Gruppe wählten die Teilnehmer jeweils einen Vertreter, der entscheiden durfte, wie eine Auszahlung innerhalb der Gruppe verteilt wird. Der mächtige Gruppenrepräsentant konnte sich seiner Position dabei nie sicher sein, denn die Wahl wurde vierzigmal wiederholt. Im Labor zeigte sich, dass die Probanden sich zwar anfangs eigennützig verhalten und ihre starke Position in hohe persönliche Gewinne ummünzen. Langfristig jedoch führt das demokratische Verfahren zum Ausgleich der Interessen zwischen starken und schwachen Gruppenmitgliedern. Eigennützige Repräsentanten werden abgestraft und von der Gruppe diszipliniert. “Durch ein als fair anerkanntes Wahlsystem können Konflikte entschärft und Kooperation geschaffen werden”, folgern die Autoren. Die Bereitschaft, in einem gewissen Maße auch ungleiche Behandlung zu akzeptieren, steige, wenn das Wahlverfahren gerecht sei.
Das Ergebnis mag auf den ersten Blick nicht überraschen, doch die neoklassische Mainstream-Ökonomie könne das Verhalten der Probanden nicht erklären, sagt Forscher Ockenfels: “Die Wirtschaftswissenschaft ist bisher überfordert, Koalitionsbildung in komplexen Verhandlungssituationen deskriptiv überzeugend abzubilden.” Bemerkenswert ist, dass die Forschungsergebnisse eine Brücke zwischen zwei oft isolierten Gebieten der Spieltheorie schlagen: der “kooperativen” und “nicht-kooperativen” Spieltheorie. In der ersten Spielart sind Institutionen für das Zustandekommen von Kooperationen nebensächlich, in der zweiten sind sie zentral. Um die Laborergebnisse zu erklären, verwenden die Forscher beide konkurrierenden Ansätze.
Ockenfels will die Studie von ihrer Bedeutung nicht mit Nashs bahnbrechender Forschung von 1950 vergleichen. Dennoch hofft er, dass sie Impulse für Wissenschaft und Praxis geben kann. Den “Marktdesigner” treibt die Frage um, wie Märkte gestaltet sein müssen, damit sie die gewünschten Ergebnisse liefern. Etwa für die Vorbereitung von Klimaschutzverhandlungen könnten Erkenntnisse aus dem Labor weiterhelfen. Dieses Thema treibt auch Nash um. “Er interessiert sich dafür, wie es in Deutschland mit der Energiewende vorangeht”, verrät Ockenfels. Auf die Frage, welches Problem das drängendste unserer Zeit sei, nannte Nash 2006 in Köln die globale Erwärmung. “Aber wissen Sie, das ist nicht einfach.”