Die Wurzeln der Ökonomie als Wissenschaft liegen im Grübeln über Gut und Böse: Adam Smith, der Begründer der modernen Disziplin, nannte sich Moralphilosoph und erforschte Motivation und Folgen menschlichen Handelns. Ohne ihr ethisches Fundament wäre der fulminante Aufstieg der Ökonomie erst gar nicht denkbar gewesen.
Heute schweigen die allermeisten Ökonomen zur Ethik, während andere die Frage nach den moralischen Grenzen des Marktes aufwerfen und lautstark die Ökonomisierung des Lebens anprangern. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück poltert gegen eine “Marktgesellschaft”, und Harvard-Philosoph Michael Sandel ist mit seiner Kritik der Marktlogik zu einem Wissenschaftsstar aufgestiegen. Egal auf welchem Kontinent der Bestsellerautor auftritt (“Was man für Geld nicht kaufen kann”), Sandel zieht Tausende Zuhörer an. Sein Mantra: Der Markt macht sich auch da breit, wo er nicht hingehört. Wenn auf Gesundheit, Sicherheit oder Umweltschutz ein Preisschild klebt, sorgt das für Ungerechtigkeit und zerstört die Werte.
Das Schweigen der Ökonomen verwundert, denn zum einen fordert Sandel ausdrücklich zur Debatte auf, zum anderen bieten seine Schlussfolgerungen Ökonomen reichlich Angriffsfläche. Da ist zum Beispiel das Experiment mit den israelischen Kindergärten, das Sandel zitiert: Weil Eltern ihre Kinder nachmittags nicht pünktlich abholten und die Erzieher deshalb Überstunden machen mussten, führten Kindergärten ein Bußgeld für Zuspätkommer ein. Eine Idee, die nach hinten losging: “Die Eltern sahen das Bußgeld als Gebühr an, die sie bereitwillig zahlten”, schreibt Sandel. Die Zahl der zu spät kommenden Eltern verdoppelte sich nahezu. Und als die Kindergärten die Geldbuße wieder abschafften, ging sie nicht wieder zurück.
Sandel sieht in der Beobachtung seine beiden Hauptargumente bestätigt. Wenn der Markt darüber entscheidet, welches Kind länger bleiben kann, entstehe Ungleichheit, schließlich können sich nur die zahlungskräftigen Eltern die Extrabetreuung leisten. Zugleich korrumpiere die Marktlösung die Tugend der Pünktlichkeit und die Sensibilität dafür, dass auch die Erzieher irgendwann Feierabend machen möchten.
Auf den ersten Blick stimmt das natürlich. Niemand, auch kein Ökonom, würde bestreiten, dass Wettbewerb um knappe Güter, hier die Arbeitszeit der Erzieher, Gewinner und Verlierer hervorbringt. Auch, dass Marktanreize unter Umständen intrinsische Motivation zerstört, gestehen manche Ökonomen inzwischen ein. Darüber zu debattieren, in welchen Lebensbereichen Marktlösungen mit all ihren möglichen Nebeneffekten wünschenswert sind und in welchen Bereichen sie unbedingt außen vor bleiben sollten, ist deshalb ein legitimes Anliegen. Sandels große Anhängerschaft belegt zudem, wie sehr das Thema vielen unter den Nägeln brennt. Gelingen kann die Debatte allerdings nur, wenn wichtige Argumente, die Nicht-Ökonom Sandel vernachlässigt, nicht außen vor bleiben.
Das Kindergarten-Beispiel kann man nämlich auch so lesen: Offenbar besteht bei den Eltern ein Bedürfnis, ihre Kinder später als bisher abzuholen. Erst durch die Gebühr wird die Zahlungsbereitschaft der Eltern sichtbar und somit kalkulierbar. Mit dem zusätzlich eingenommenen Geld können höhere Gehälter gezahlt oder bisher arbeitslose Erzieher beschäftigt werden. Und Sandels zwei Kritikpunkte? Die längeren Öffnungszeiten müssen nicht selektierend wirken, denn auch dem Staat spielt das Entdeckungsverfahren des Marktes in die Karten. Passt er das Betreuungsangebot besser den nun sichtbaren Bedürfnissen der Eltern an, kann jeder das erweiterte Angebot nutzen. Auch die Pünktlichkeit, die in Sandels Beispiel übrigens nicht verschwindet, sondern nur geschwächt ist, dürfte dann wieder zunehmen.
Einzelne Ökonomen sehen die Sprachlosigkeit ihrer Profession kritisch. “Es ist schwer zu bestreiten, dass die Notwendigkeit an der Debatte über Märkte (und Regierungen) teilzunehmen und sich zu engagieren eine zentrale Verpflichtung der ökonomischen Profession ist”, schreibt Timothy Besley in seinem jüngst erschienenen Essay. Der Forscher der London School of Economics bezeichnet Sandels Bestseller einerseits als “großartig” und empfehlenswert. Andererseits formuliert er eine Kritik, die auch in dieser Zeitung schon zu lesen war (F.A.S. vom 13. Januar 2013): Besley fragt nach der Alternative von Marktlösungen und wirft Sandel vor, diese Frage – genau wie die kapitalismuskritische Occupy-Bewegung – offen zu lassen. “In früheren Zeiten”, schreibt Besley, “war es Sozialismus.” Tatsächlich geht Sandel in seinem Buch nicht näher auf in der Geschichte gescheiterte alternative Verteilungsmechanismen ein. Auch, dass die “Marktgesellschaft” kein neues Phänomen ist, sondern in der Geschichte schon weitaus bedenklichere Blüten getragen hat als heute (Sklaverei, Ablasshandel) kommt bei Sandel nicht vor.
In Deutschland haben der Spieltheoretiker Werner Güth (Max Planck Institut für Ökonomik, Jena) und Hartmut Kliemt (Frankfurt School of Finance & Management) Sandels Thesen kritisch aufgegriffen. In ihrer Studie “Fairness That Money Can Buy” kommen die Forscher zu dem Schluss, dass Geld keineswegs zwangsläufig freiwilliges kooperatives Verhalten zerstören. Wenn zum Beispiel in einer Wettbewerbssituation das Verfahren von allen als fair angesehen wird, verhielten sich die Menschen kooperativ.
Das Fazit erscheint paradox. Wie weit sich der Wettbewerbsmechanismus künftig ausdehnen wird, ist letztlich eine Frage des Wettbewerbs (der Ideen). Denn die Menschen sind mündig genug, um selbst abzuwägen, wo Marktmechanismen überlegen sind und weiterhelfen können – und wo sie eher Schaden anrichten. Diese Grenze auszutarieren ist eine gesellschaftliche Aufgabe, nicht die von Forschern. Ökonomen können, wenn sie ihr Schweigen brechen, aber eine wichtige Entscheidungshilfe sein.
Michael Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Ullstein Buchverlag, 2012.