Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Von List zu Rodrik: Debatten über Grenzen der Globalisierung

Friedrich List (1789 bis 1846) betrachtete Freihandel grundsätzlich als eine gute Sache, aber nur zwischen Nationen vergleichbarer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Lists wichtigster intellektueller Nachfahre heutzutage ist Dani Rodrik.

„Et la Patrie, et l‘Humanité“. Sowohl das Vaterland als auch die Menschheit stellte Friedrich List in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, als er das französischsprachige Motto einer im Jahre 1838 in Paris verfassten Schrift für die Französische Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften voranstellte. Der Platz des Nationalstaates in einer sich internationalisierenden Wirtschaft ist eines der großen Themen dieses württembergischen Feuerkopfes gewesen, der 1789 in Reutlingen zur Welt kam und seinem Leben 1846 in Kufstein selbst ein Ende setzte.

In deutschsprachigen Geschichten des ökonomischen Denkens findet List noch immer seinen Platz – etwa hier und hier -, aber insgesamt scheint sein Name in den Vereinigten Staaten und in Schwellen- sowie Entwicklungsländern heute bekannter zu sein als in seinem Heimatland.

© picture alliance / akgFriedrich List

“Freihandel ja, aber…” lautet die bekannteste These aus seinem reichen Werk  – eine These, die noch heute für Diskussionen sorgt.

List betrachtete Freihandel als eine grundsätzlich vorteilhafte Organisationsform internationalen Wirtschaftens. Als Deutschland nach den napoleonischen Kriegen in fast 40 Staaten mit fast ebenso vielen Zollgrenzen unterteilt war, verfasste er ein Manifest zur Beseitigung dieser Handelsschranken. Auch mit seinem Eintreten für Gewerbefreiheit, ein möglichst einfaches Steuersystem und einen effizienten Staat vertrat List liberale Perspektiven. “Herr List hält die vollendete bürgerliche Gesellschaft für das anzustrebende Ideal”, urteilte Karl Marx.

Allerdings befürwortete List Freihandel nur zwischen Staaten mit einem vergleichbaren wirtschaftlichen Entwicklungsniveau. Da das im frühen 19. Jahrhundert fragmentierte Deutschland aus überwiegend agrarisch geprägten Staaten bestand, ließ sich für Deutschland die Abschaffung der Handelsgrenzen befürworten. Ganz anders sah es im Handel mit England aus, das damals als erste große Nation in die Industrialisierung eingetreten war und im Vergleich zu Deutschland wie zu den damals jungen Vereinigten Staaten von Amerika eine deutlich höhere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit besaß, die sich aus technischem Fortschritt erklärte. “Nationen sind ihren Zuständen nach ebenso verschieden wie Individuen”, schrieb List, der wie andere Ökonomen seiner Zeit dem Denken in einem wirtschaftlichen Stufenmodell verhaftet war. “Da gibt es Riesen und Zwerge, Jünglinge und Greise, Krüppel und wohlgebaute Personen … Wie weise Männer allgemeine Regeln auf diese verschiedenartigen Körperschaften anwenden können, kann ich nicht verstehen.”

Länder auf eine niedrigeren wirtschaftlichen Entwicklungsstufe sollten nach Ansicht Lists das Recht haben, sich durch Handelsbeschränkungen gegen die Exporte aus dem fortgeschrittenen Land zu wehren, bis nach noch zurückgebliebene Land den Vorsprung des Konkurrenten aufgeholt hatte. Elmar Baeriswyl schreibt in seiner interessanten Dissertation über Lists Wahrnehmungen: “Er erlebte, wie zur Zeit der Kontinentalsperre deutsche Manufakturen, vor der übermächtigen englischen Konkurrenz geschützt, kurzzeitig einen bedeutenden Aufschwung erlebten. Nach dem Ende der Sperre Napoleons wurden die jungen deutschen Manufakturen wieder der englischen Konkurrenz ausgesetzt und verschwanden zu einem grossen Teil.”

Diese Idee des Schutzzolls oder Erziehungszolls verbindet sich bis heute mit dem Namen Friedrich Lists, obgleich sie bei früheren Autoren nachgewiesen werden kann. Anders als es die damals führende Klassische Wirtschaftslehre, vertreten etwa durch Adam Smith und Jean-Baptiste Say, postulierte, besaßen aus Lists Sicht nicht nur Individuen legitime Interessen, sondern gerade auch Nationen:  „Als charakteristischen Unterschied des von mir aufgestellten Systems bezeichne ich die Nationalität. Auf die Natur der Nationalität als des Mittelgliedes zwischen Individualität und Menschheit ist mein ganzes Gebäude gegründet.“List betrachtete seinen eigenen Ansatz nicht als völligen Bruch mit der Klassischen Ökonomie, sondern als notwendige Ergänzung: „Adam Smith behandelt die Individualökonomie und die Ökonomie der Menschheit. Er lehrt, wie der einzelne in Gesellschaft mit anderen Individuen Wohlstand schafft, denselben vermehrt und konsumiert, und wie der Fleiss und Wohlstand der Menschheit den Fleiss und Wohlstand des einzelnen beeinflussen. Er hat ganz vergessen, wovon der Titel seines Buches über den ,Wohlstand der Nationen‘ zu handeln versprach. Da er den unterschiedlichen Zustand der verschiedenen Nationen bezüglich ihrer Macht, Verfassung, Bedürfnisse und Kultur nicht in Betracht zieht, ist sein Buch einzig eine Abhandlung über die Frage, wie es um die Wirtschaft der Individuen und der Menschheit stünde, wenn die Menschheit nicht in Nationen geschieden, sondern durch ein gemeinsames Gesetz und eine gleiche Geisteskultur geeint wäre. Diese Frage behandelt er ganz logisch, und unter dieser Annahme enthält sein Buch große Wahrheiten.“Im Grunde lehnt List damit die Allgemeingültigkeit von Ricardos berühmtem Theorem von der Vorteilhaftigkeit des Außenhandels ab – ein Theorem, dessen theoretischer Ruf vorzüglich ist und das  empirisch, jedenfalls in Grenzen, als gut abgesichert gilt.List war zeitlebens ein Mann, der mit seinen Ideen lauthals hausieren ging. Er war ungeheuer fleißig und begeisterungsfähig bis zur Besessenheit, aber auch unbequem, halsstarrig und verletzend. Als junger Mann im Staatsdienst brachte er es der Reutlinger „Generalsyndikus der deutschen Zukunft“ (Theodor Heuss) ohne akademische Ausbildung kurzzeitig zum Professor an der Universität in Tübingen. Als Abgeordneter des Ständehauses in Stuttgart geriet er in Händel mit dem Königshaus, worauf er nach Zwischenstationen in Straßburg und in der Schweiz in die Vereinigten Staaten emigirierte. Dort vertrat er die Schutzzollidee und schrieb viel über Politische Ökonomie, was dazu führt, dass „Frederick List“ unter amerikanischen Ökonomen lange kein unbekannter Name geblieben ist.

In den Vereinigten Staaten entdeckte List aber auch eine andere große Leidenschaft: die Eisenbahn als junges Verkehrsmittel, die mit ihren Transportmöglichkeiten die Voraussetzung für wirtschaftlichen Wohlstand schuf. List ist als „Eisenbahnpionier“ ebenso in die Geschichtsbücher eingegangen wie als Ökonom und als Befürworter eines politischen Nationalliberalismus. Er sah eine „enge Wechselwirkung zwischen der Manufakturkraft und dem Nationaltransportsystem“.

Als List in seinen späten Jahren nach Europa zurückkehrte, bemühte er sich vielerorts um eine Beschäftigung als Planer von Eisenbahnstrecken und als Manager von Eisenbahnen. Lists Kompetenz wurde geschätzt, ihm aber nicht vergolten – der Württemberger scheiterte immer wieder an seiner komplizierten Persönlichkeit, aber auch an politischen Vorbehalten des deutschen Adels gegenüber dem nunmehrigen amerikanischen Staatsbürger. Am Ende sah List, körperlich und seelisch schwer erkrankt und von Armut bedroht, im Selbstmord den letzten Ausweg.

Die Idee des Schutzzolls ist ebenso umstritten wie populär geblieben. Man denke etwa an die früheren Versuche lateinamerikanischer Staaten, sich durch Importsubstitution ein Stück weit unabhängig von den westlichen Industrienationen zu machen – eine Konzeption, deren bekanntester Vertreter der argentinische Ökonom Raul Prebisch war.

Bis heute finden sich in Schwellen- und Entwicklungsländern Anhänger solcher und ähnlicher Ideen zur Begründung von Handelsbeschränkungen. Auf Widerstände aus den Industrienationen verweisen sie auf deren eigene Geschichte: Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatten auch damals wirtschaftlich weit entwickelte Nationen wie das Deutsche Reich zur Zollpolitik gegriffen. Mit der damaligen Schutzzollpolitik sollte unter anderem die unter Konkurrenzdruck stehende und nur eingeschränkt wettbewerbsfähige ostelbische Landwirtschaft geschützt werden – unter dem Beifall von Industriellen.

Die Zunahme der Handelsbeachränkungen auch als Folge des Ersten Weltkrieges gilt als ein Grund für die wenig erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung in derZwischenkriegszeit. Generell aber sind die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eine Zeit der Liberalisierung des internationalen Handels gewesen; gerade Zölle spielen heutzutage kaum noch eine Rolle. Alleine in dem Vierteljahrhundert vor Ausbruch der Finanzkrise ist die Weltwirtschaft deutlich gewachsen und eine stärkere marktwirtschaftliche Ausrichtung gilt als ein wesentlicher Grund hierfür, wie zum Beispiel Andrei Shleifer in einem bekannten Aufsatz demonstriert hat: “Between 1980 and 2005, as the world embraced free market policies, living standards rose sharply, while life expectancy, educational attainment, and democracy improved and absolute poverty declined.” Shleifer befasst sich allerdings auch mit Einwänden gegen diese These.

Die Debatte, ob der Freihandelsgedanke einer Zähmung bedarf, ist gleichwohl niemals verstummt. Sie reicht heute weit über die Zollfrage Lists hinaus. Eine prominente Rolle in dieser Debatte spielt der aus der Türkei stammende Ökonom Dani Rodrik (Foto: Andrzej Barabasz) , der lange an der Universität Harvard lehrte und seit kurzem am Institute for Advanced Studies im amerikanischen Princeton arbeitet. Rodrik wirft nicht nur konkrete Fragen auf wie jene, ob eine finanzielle Globalisierung auch für Länder mit wenig entwickelten Banksystem und Kapitalmärkten vorteilhaft sein muss, wenn diese mit massiven Zuströmen und Abflüssen ausländischen Kapitals ausgesetzt sind. Er geht das Thema auch grundsätzlich an.

In einem im Jahre 2009 erschienenen Buch “Das Globalisierungs-Paradox” postuliert Rodrik (hier eine Rezension aus meiner Feder), der sich als Marktwirtschaftler und nicht als linker Globalisierungsgegner versteht, ein „fundamententales politisches Trilemma“ der Weltwirtschaft: „Wir können nicht gleichzeitig Demokratie, nationale Selbstbestimmung und wirtschaftliche Globalisierung betreiben. Wenn wir die Globalisierung weiterführen wollen, müssen wir entweder den Nationalstaat oder demokratische Politik aufgeben. Wenn wir die Demokratie behalten und vertiefen wollen, müssen wir zwischen dem Nationalstaat und internationaler wirtschaftlicher Integration wählen. Und wenn wir den Nationalstaat und Selbstbestimmung bewahren wollen, müssen wir zwischen einer Vertiefung der Demokratie und einer Vertiefung der Globalisierung wählen.“ Rodriks Argumentation zielt darauf ab, dass Märkte nach seiner Ansicht eines staatlichen Rahmens bedürfen. Globale Märkte bräuchten dann einen globalen Rahmen, aber Rodrik sieht keine Legitimation für eine Weltregierung. *)

Rodrik hat sich auch mehrfach sehr skeptisch zu der Annahme geäußert, mit dem wirtschaftlichen Aufstieg von Schwellenländern verbinde sich notwendigerweise die Vorstellung einer allmählichen ökonomischen Konvergenz von reichen und nicht so reichen Volkswirtschaften.

Einen Vortrag über die aktuelle Bedeutung von Nationalstaaten aus dem Jahre 2012 fasste Rodrik wie folgt zusammen: “The nation-state has long been under attack from liberal economists and cosmopolitan ethicists alike. But it has proved remarkably resilient and remains the principal locus of governance as well as the primary determinant of personal attachments and identity. The global financial crisis has further underscored its centrality. Against the background of the globalization revolution, the tendency is to view the nation-state as a hindrance to the achievement of desirable economic and social outcomes. Yet it remains indispensable to the achievement of those goals.”

Rodrik hat kürzlich in einem sehr interessanten und sehr gelobten Interview – hier in FAZIT zusammengefasst – über seine Erfahrungen als Ökonom geschrieben. Rodrik bedient sich der Arbeitstechniken des Mainstream-Ökonomen, was es ihm in den vergangenen Jahrzehnten erlaubt hat, in den führenden Fachzeitschriften zu publizieren und sich einen vorzüglichen Ruf als Ökonom zu erarbeiten. **) Somit ist er kein völliger Außenseiter in seiner Zunft. Rodrik berichtet aber auch über die Misshelligkeiten, die er erlebt hat, weil er gelegentlich zu Ansichten und Einschätzungen neigt, die nicht jene des Mainstreams sind. List hingegen ist zu seinen Lebzeiten immer ein Außenseiter geblieben, auch wenn ihn Karl Häuser später als “den bekanntesten und volkstümlichsten deutschen Nationalökonomen” bezeichnet hat und es bis heute eine “List Gesellschaft” gibt (von der allerdings in den vergangenen Jahren nicht mehr viel zu hören und zu sehen war).

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Dieser Artikel entstand aus einem Beitrag über Friedrich List, der im Rahmen einer Serie über bedeutende Ökonomen am 4. August 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist.

*) Damit hat Rodrik sicherlich recht, aber ein überstaatlicher Rahmen kann auch durch enge Kooperation von Nationalstaaten entstehen – wie weit so etwas, verfassungsrechtlich wie politisch, gehen kann, ist eine Frage, die zum Beispiel aktuelle Debatten in der Eurozone prägt.

**) Was aber natürlich nicht bedeutet, dass seine Thesen unanfechtbar wären. So wäre es reizvoll, Rodriks institutionenökonomisches Denken mit jenem seines Freundes und Kollegen Daron Acemoglu zu vergleichen – was wir bei Gelegenheit einmal tun werden.