Ein Fliegenfischer ist dafür verantwortlich, dass die wichtigste geldpolitische Konferenz des Jahres abgeschieden zwischen den Großen Busenbergen stattfindet und nicht in einer großen Stadt mit ihren glitzernden Hochhäusern. Das Tal, in dem sich der Versammlungsort befindet, durchzieht der sogenannte Schlangenfluss, und wer Glück hat, kann neben anderem Getier auch Schwarzbären antreffen. Eigentlich fehlte nur noch, dass John Wayne um die Ecke geritten käme.
In den kommenden Tagen versammeln sich wie in jedem Jahr namhafte Vertreter aus Wissenschaft, Geldpolitik, Finanzwelt und Medien zum sogenannten Ökonomischen Symposium der Federal Reserve Bank of Kansas. Oder, kurz ausgedrückt: Sie treffen sich in Jackson Hole. Die Konferenz ist als Begegnungsort für Geldpolitiker, Wissenschaftler, Politikberater und Leute aus der Finanzbranche sowie für einige Journalisten konzipiert. Der Zugang ist streng reglementiert und die Teilnehmer müssen ausnahmslos eine Gebühr zahlen. Alle wichtigen Geldpolitiker und monetären Ökonomen der vergangenen Jahrzehnte waren schon in Jackson Hole. *) Und auch wenn in diesem Jahr mit Ben Bernanke und Mario Draghi die beiden aktuell wichtigsten Geldpolitiker nicht in das Bergtal ins ferne Wyoming reisen, verspricht die Konferenz interessanten Gesprächsstoff.
Jede der regionalen Banken des amerikanischen Notenbanksystems („Federal Reserve System“) organisiert Konferenzen. Als die regionale Fed in Kansas im Jahre 1978 erstmals ihr sogenanntes Symposium veranstaltete, war der spätere Ruhm noch nicht zu erahnen. Damals trafen sich Fachleute der Agrarwirtschaft in Kansas City, um sich über ihr Fachgebiet auszutauschen. Dem seinerzeitigen Vorsitzenden der Fed in Kansas war dieser Auftritt aber zu bescheiden, und er begann darüber nachzudenken, wie er den mächtigen und bekannten Vorsitzenden der Fed-Führung in Washington, Paul Volcker, in seinen Distrikt locken könnte.
Nach der Überlieferung erinnerte sich der Mann in Kansas an Volckers Hobby, das Fliegenfischen. Da im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten das Fliegenfischen in einem Tal in Wyoming besonders attraktiv sein soll, wurde das Symposium in den Ferienort Jackson Hole verlegt, wo es abseits der Touristenzentren in einem zu einem Nationalpark gehörenden Gebäude stattfindet. Und nicht nur Volcker kam wie erhofft, sondern nach ihm weitere Prominente aus der geldpolitischen Szene. Und so ist man trotz einer umständlichen Anreise in diesem Tal geblieben, das von hohen Bergen, den Grand Tetons, überragt wird. Deren Name stammt eigentlich aus dem Französischen („tétons“) und bedeutet so viel wie „große Brüste“.
Der Erfolg der Veranstaltung ruht auf mehreren Säulen. Zum einen gelang es tatsächlich, viele führende Geldpolitiker der Welt nach Jackson Hole zu locken mit dem Vorsitzenden des Federal Reserve Board an der Spitze. Zwar sagte Bernanke dieses Jahr mit ein paar abfälligen Bemerkungen ab, aber davor muss man bis in das Jahr 1988 zurückgehen, um die Abwesenheit eines Washingtoner Chefs der Fed zu konstatieren. Zweitens behandelt jede Konferenz ein Thema, das für viele Teilnehmer aus geldpolitischen Zirkeln wichtig ist, aber nicht unbedingt an der Tagesaktualität hängt. Drittens behandeln die von Ökonomen dort vorgestellten und diskutierten Arbeiten praxisrelevante Themen, die für ein Publikum aufbereitet werden, das etwas von Geldpolitik versteht, ohne mit den neuesten mathematischen Modellen oder ökonometrischen Techniken vertraut zu sein. Sprich: Papiere aus Jackson Hole sind lesbarer als viele andere Papiere von Ökonomen. Viertens haben die Vorsitzenden der Fed die Konferenz benutzt, um sich auch zu aktuellen Fragen der Geldpolitik zu äußern – was spätestens seit Ausbruch der Krise für Aufmerksamkeit sorgte.
Die Lektüre von Ökonomenpapieren und Diskussionen aus Jackson Hole erlaubt dem Außenstehenden interessante Rückschlüsse auf den Zustand der Zunft und die sie gerade prägenden Themen. Am Anfang gab es noch verbale Schlachten zwischen Keynesianern und Monetaristen. In den Jahren vor dem Ausbruch der aktuellen Krise war in Jackson Hole große Selbstzufriedenheit mit dem Zustand von Theorie und Praxis der Geldpolitik verbreitet. Ein speziell zu Ehren des damals noch gefeierten Fed-Chefs Alan Greenspan veranstaltetes Symposium geriet zu einer in Teilen geradezu peinlichen Lobhudelei amerikanischer Ökonomen für ihren damaligen „Großen Vorsitzenden“.
Als Glanzstunde im Nachhinein galt ein damals mit eisigem Schweigen aufgenommenes Papier, in dem der indische Ökonom Raghuram Rajan vor Ausbruch der Krise herbe Kritik an Greenspans Geldpolitik äußerte. Rajan, heute einer der angesehensten Ökonomen der Welt, wird als Präsident der indischen Zentralbank jetzt selbst in das Lager der Geldpolitiker wechseln. Im vergangenen Jahr sorgte Andrew Haldane von der Bank of England für Aufmerksamkeit mit einem „The Dog and the Frisbee“ betitelten Papier, in dem er für einer sehr viel weniger komplexe Regulierung von Banken und Finanzmärkten plädierte. Die diesjährige Veranstaltung wird sich mit einem außerordentlich wichtigen Thema befassen: den Konsequenzen unorthodoxer Geldpolitik in Ländern wie den Vereinigten Staaten für die Weltwirtschaft.
Die Konferenz von Jackson Hole bietet aber auch Anlass, über das Verhältnis von Geldpolitik und Wissenschaft nachzudenken. Wohl kein anderer Zweig der Wirtschaftspolitik kann von sich behaupten, derart eng von der Wissenschaft beeinflusst zu sein und derart eng mit Wissenschaftlern zusammen zu arbeiten. Bekannte Ökonomen wie Ben Bernanke, Axel Weber und aktuell Raghuram Rajan haben es sogar auf die Chefsessel von Zentralbanken gebracht. Daraus müsste der Schluss zu ziehen sein, dass kein Zweig der Wirtschaftspolitik derart hochqualifiziert sein sollte wie die Geldpolitik. Die heutige Kritik an der Geldpolitik vor der Krise, die Unsicherheit über die Folgen der in der Krise betriebenen Geldpolitik und der lamentable aktuelle Zustand der Theorie der Geldpolitik lassen aber Zweifel aufkommen, ob die erlangte Weisheit tatsächlich so groß ist wie gerade von den Altvorderen immer wieder behauptet wurde.
Die Diskussionen der vergangenen Jahre belegen, dass sich die Zunft in einem Umbruch befindet. Manche Erkenntnis, die seit Jahren als sakrosankt gilt, wird in Frage gestellt, manche als vorsintflutlich abgelegte Weisheit aus früheren Jahrzehnten wieder entdeckt und mancher neue Weg gesucht. Die aktuelle Geldpolitik muss gerade in der schwersten Krise seit Jahrzehnten damit leben, dass in der Wissenschaft von der Geldpolitik kein Konsens besteht über das, was getan werden sollte.
Als John Maynard Keynes im Jahre 1936 seine „General Theory” veröffentlichte, sagte er sinngemäß, er habe wenig Hoffnung, ältere Fachkollegen mit neuen Gedanken zu überzeugen. Statt dessen müsse er die Jugend gewinnen. Auch in der Lehre von der Geldpolitik treten in unserer Zeit zunehmend jüngere Kräfte auf – so wie dieses Jahr unter anderem Hélène Rey im Tal der Schwarzbären.
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*) Nur sehr wenige deutsche Ökonomen durften bisher in Jackson Hole vortragen: Im vergangenen Jahr war Markus Brunnermeier (Princeton University) mit einem Papier dort (in FAZIT hier und hier behandelt). Danach muss man bis in die neunziger Jahre zurückgehen, um auf die Namen Horst Siebert (Institut für Weltwirtschaft) und Rudiger Dornbusch (MIT) zu stoßen. Daneben sind deutsche Geldpolitiker wie Otmar Issing in Jackson Hole aufgetreten, einzelne deutsche Ökonomen auch als Diskutanten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Brunnermeier und Dornbusch Deutschland früh verlassen und ihre Karriere überwiegend im Ausland gemacht haben. Von den an deutschen Universitäten lehrenden Ökonomen, die häufig in geldpolitischen Debatten in Deutschland auftreten, hat niemand in Jackson Hole tiefe Spuren hinterlassen.
Eine kürzere Version dieses Artikels ist am 18. August 2013 als “Sonntagsökonom” in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen.
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