Einer der Giganten der Wirtschaftsgeschichtsforschung ist abgetreten: David S. Landes, der rund vier Jahrzehnte in Harvard lehrte, ist, wie erst jetzt bekannt wurde, am vorvergangenen Samstag gestorben. “Wir Wirtschaftshistoriker betrauern alle den Tod von David Landes”, hat J. Bradford DeLong in seinem Blog geschrieben. Für Studenten gebe einfach keine bessere Einführung in die Geschichte der Industriellen Revolution als Landes’ 39-seitige Einführung in seinem Buch “The Unbound Prometheus”. Der Titel spielt auf den antiken Menschen Prometheus an, der den Göttern das Feuer – die Erkenntnis – raubte, dafür zur Strafe an einen Felsen im Kaukasus gekettet wurde; bei Landes geht es darum, wie die Menschen sich mittels technischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse aus ihrem früheren einfachen Leben befreien.
Der 1924 in New York geborene Historiker hat bahnbrechende Werke über eine zentrale Frage der Wirtschaftsgeschichte geschrieben: Warum wurden einige Nationen – letztlich der europäisch geprägte Westen – so unglaublich reich, und warum blieben andere Länder und Kontinente so elend arm? Landes hat als Gründe für die rasante Entwicklung des Wohlstands in den vergangenen zweihundertfünfzig Jahren im Westen dessen technische Innovationen, den offenen ökonomischen und politischen Wettbewerb und eine arbeits- und wirtschaftsfreundliche Kultur (letztlich Max Webers „Protestantische Ethik) in den Vordergrund gestellt, andererseits als Ursachen für andauernde Armut in anderen Erdteilen auch Klima und Geographie nicht ausgeschlossen.
Sein Buch, das seinen internationalen Ruhm begründete, trug den Titel „Der entfesselte Prometheus“ (1969). Vor fünfzehn Jahren folgte das Opus magnum „Wohlstand und Armut der Nationen“. In diesen Büchern erklärte Landes die Explosion an neuen technischen Erfindungen und Neuerungen in Europa seit 1750, welche die industrielle Revolution vorangetrieben haben. Warum gelang nicht China der Sprung in die industrielle Moderne? Der Grund laut Landes: Das Reich der Mitte fühlte sich zu sehr kulturell überlegen.
„Das größte Problem für erfolgreiche Gesellschaften und Staatswesen ist die Gefahr, sich überlegen zu fühlen und zu glauben, man habe es nicht mehr nötig, von anderen zu lernen“, stellte er fest. Das sei den Chinesen zum Verhängnis geworden. „Stolz ist Gift“, sagte Landes. Das zentralisierte chinesische Reich behinderte Innovationen. In Europa war nach dem Zerfall des Römischen Reichs ein politisch zersplitterter Kontinent entstanden. Die Fragmentierung habe die Herrscher gezwungen, wirtschaftliche Tätigkeit nicht zu stark zu belasten, sonst wandern Händler und Unternehmer ab. Die vergleichsweise geringere Regulierung und Besteuerung habe Europa geholfen.
Die islamische Welt sah Landes kritisch, erstarrt in religiösen Dogmen und zurückgehalten von der Geschlechterungleichheit. In der Neuzeit habe die islamische Welt den Anschluss verpasst, weil sie die Verbreitung von Wissen durch den Buchdruck verhinderte. Heute lähme die Unterdrückung der Frauen, die an Bildung und am Wirtschaftsleben nur eingeschränkt teilnehmen können. Islamischer Machismos, der Erwerbsarbeit scheue, sei eine Hürde für die Entwicklung. Für Afrika sah Landes wegen des ungünstigen, extrem heißen Klimas keine gute Perspektive.
Der mit vielen Ehrendoktorwürden und akademischen Auszeichnungen dekorierte Landes war ein liberaler Historiker, der von Niall Ferguson, Jeffrey Sachs und J. Brad DeLong bewundert, aber auch vom ganz links stehenden Eric Hobsbawm geschätzt wurde. “Es gibt wenige Historiker, die nicht stolz wären, Verfasser dieses Buchs (Wohlstand und Armut der Nationen) zu sein”, schrieb der Altmarxist Hobsbawm über das Werk seinen wirtschaftsliberalen Kollegen.
Wenn ihm eine „eurozentristische“ Betrachtung der Welt vorgeworfen wurde, entgegnete er , dass die wichtigsten Innovationen der Moderne nun mal im europäischen Westen gemacht worden seien. „Political Correctness“ und Egalitarismus hielt er für große Fehler. “Die Ansicht, dass man sich im Denken an gewisse Richtlinien halten muss, ansonsten man nicht ‘korrekt’ ist, ist höchst unglückselig, ich bin total dagegen”, sagte er vor einigen Jahren in einem Interview mit der Schweizer “Weltwoche”. “Ich glaube auch nicht, dass die ‘politische Korrektheit’ Bestand hat.”
Lebenslang interessiert war Landes an der Frage, ob Familienunternehmen eher eine Bremse oder ein Garant für langfristigen Erfolg seien. In einem frühen Essay nach dem Weltkrieg argumentierte er noch, dass zu wenig innovative französische Patrons den relativen Niedergang der französischen Wirtschaft im neunzehnten Jahrhundert verschuldete hätten. Doch wenn sie wirklich so wachstumsschwach sind, warum machen familiengeführte Unternehmen in der EU noch immer zwei Drittel aller Unternehmen aus? Landes hinterlässt einen Sohn, Richard Landes, der ebenfalls Geschichtsprofessor ist, sowie zwei Töchter.
Sein Sohn Richard hat hier einen Nachruf verfasst. Erstaunlicherweise haben andere große Zeitungen – weder in Europa noch in den Vereinigten Staaten – vom Tod dieses bedeutenden Wissenschaftlers noch keine Notiz genommen.