Die Volatilität von Preisen an Finanzmärkten der Schwellenländer geht einher mit einer Volatilität von Wahrnehmungen. Nachdem vor gut zehn Jahren der damalige Chefökonom von Goldman Sachs, Jim O‘Neill, die vier großen Schwellenländer und ihre Wachstumsperspektiven unter dem Markenzeichen „Bric“ erfolgreich vermarktet hatte, stiegen die Kurse an den Börsen in Brasilien, China, Indien und Russland. Nunmehr, nachdem Kapitalabflüsse an den Märkten in Brasilien, Indien und, eingeschränkt, Russland erhebliche Turbulenzen ausgelöst haben, spricht O‘Neill sinngemäß von „Bri“ und „C“: China hält sich gut, aber die drei anderen Volkswirtschaft enttäuschen.
Ein anderes Beispiel für eine geänderte Wahrnehmung eines Schwellenlandes bildet die Türkei: Als die Kurse in der Türkei stiegen, lobten Ökonomen und Analysten das dynamische Wirtschaftswachstum und stellten sowohl das Leistungsbilanzdefizit als auch die wachsende Verschuldung im Ausland als typische, keineswegs zu tadelnde Eigenschaften einer aufstrebenden Wirtschaft da. Die lange Zeit zweistelligen Inflationsrate wurde weitgehend verdrängt. Heute, da der Kurs der Lira am Devisenmarkt fällt, zeigen sich Marktteilnehmer über das Leistungsbilanzdefizit und die Auslandsverschuldung beunruhigt. Plötzlich fällt auch auf, dass in der Türkei, wie in Indien oder Brasilien, das Wirtschaftswachstum nicht von einem kräftigen Produktivitätszuwachs begleitet wurde.
Das kräftige Auf und Ab der Finanzmarktpreise in den Schwellenländern ist seit gut zwei Jahrzehnten beobachtbar. Es hat sich in beeindruckenden Aufschwüngen, aber auch immer wieder in schweren Krisen, zum Beispiel im Jahre 1997 in Südostasien manifestiert. Es ist unter Fachleuten weitgehend unbestritten, dass Banken und andere Anleger aus den Industrienationen diese Zyklen von Hausse und Baisse in den Schwellenländern maßgeblich beeinflussen. Für die Frage, warum sie dies tun, liegen zwei sehr unterschiedliche, sich eher ergänzende als ausschließende Erklärungen vor.
Die erste, in den vergangenen Jahren sehr einflussreich gewordene Erklärung, sieht die großen Kapitalanleger aus dem Westen am Gängelband ihrer Notenbanken. Nach dieser Lesart ist es vor allem die amerikanische Fed – und zu einem geringeren Maße die Europäische Zentralbank (EZB), die Bank of England und die Bank of Japan -, die mit ihrer Geldpolitik das Verhalten westlicher Großanleger beeinflussen. Demnach hat eine Politik niedriger Zinsen in den Industrienationen die Investoren zu Kapitalanlagen in den Schwellenländern veranlasst, wo höhere Renditen lockten. Diese Kapitalzuströme in die Schwellenländer setzten die dortigen Währungen unter Aufwertungsdruck und verschlechterten damit die Exportchancen lokaler Unternehmen. Umgekehrt veranlasst nach dieser Lesart die Aussicht auf eine weniger lockere Geldpolitik der Fed westliche Anleger seit dem Mai, Anlagen aus den Schwellenländern nach Amerika zu transferieren.
Ein Problem dieser Umkehrung von Kapitalströmen liegt in der Heftigkeit, mit der die Finanzmärkte in den Schwellenländern reagieren. So hat die indische Rupie in den vergangenen Monaten rund ein Fünftel ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren. Für die Heftigkeit der Kursreaktionen lassen sich im wesentlichen zwei Gründe anführen: Zum einen sind viele Finanzmärkte in Schwellenländern nach westlichen Maßstäben klein und wenig entwickelt. Die Umsätze, mit denen westliche Großanleger agieren, hinterlassen an diesen Märkten schnell erkennbare Spuren.
Zum zweiten ist das Handeln der westlichen Großanleger oft durch eine Art Herdentrieb gekennzeichnet. Dieser Herdentrieb lässt sich vor allem dann beobachten, wenn, wie ab Mai 2013 zu beobachten, westliche Anleger innerhalb kurzer Zeit Wertpapiere in Schwellenländern verkaufen. Ökonomen sprechen vom Phänomen des plötzlichen Halts („sudden stop“), mit dem Kapitalzuströme in die Schwellenländer versiegen und umgekehrt Kapitalabflüsse einsetzen.
Dass die Geldpolitik in den Industrienationen die Anlagepolitik wichtiger Finanzmarktteilnehmer beeinflusst, ist weitgehend unumstritten. So hat der Ökonom Hyun Song Shin (Princeton University) in einer Reihe von Arbeiten – zum Beispiel hier – gezeigt, wie vor allem europäische Banken in der Zeit vor dem Jahr 2008, also zur Zeit niedriger Zinsen und hoher Zuversicht, in Amerika billig Dollar aufgenommen und diese in die Schwellenländer transferiert hatten. Erst vor wenigen Tagen hat die Ökonomin Hélène Rey (London Business School) auf der Konferenz in Jackson Hole (hier der FAZIT-Beitrag meines Kollegen Patrick Welter) eine umfassende Analyse des Einflusses westlicher Geldpolitik auf die internationalen Finanzmärkte vorgelegt.
Zwar haben unter dem Eindruck der Krise europäische Banken ihr internationales Geschäft reduziert. An ihre Stelle traten Hedgefonds und andere Fonds, die Anlagen in Schwellenländern vornahmen. Auch in Deutschland wurde für solche Investments in den vergangenen Jahren viel Werbung gemacht. Zwar wollen vor allem amerikanische Geldpolitiker konsequent nichts von einem erheblichen Einfluss ihrer Geldpolitik auf die Schwellenländer wissen, aber der Befund erscheint recht klar. „Die Notenbanken in den reichen Ländern betreiben ihre Politik nicht in einem Vakuum“, warnt Mohamed El-Erian, der Leiter von Pimco, der weltgrößten Fondsgesellschaft für Anleihen.
So nachvollziehbar die Geschichte vom Einfluss der westlichen Geldpolitik auf die Geschicke der Schwellenländeranlagen auch wirkt: Sie ist nicht exklusiv. Der Ökonom John Kenneth Galbraith hat in seinem Klassiker über den Börsenkrach von 1929 sinngemäß geschrieben, eine Spekulation an Finanzmärkten entstehe nicht nur, weil billiges Geld zur Verfügung stehe. Notwendig sei auch das Vorhandensein einer attraktiven Anlageidee. Auf unsere Zeit bedeutet dies: Westliche Anleger haben nicht nur Geld in die Schwellenländer gebracht, weil die Zinsen in den Industrienationen niedrig waren. Sie verbanden mit den Schwellenländern die Idee einer aus sich heraus attraktiven Anlage.
Die vorgebrachten Argumente sind geläufig: Viele Schwellenländer wachsen nicht nur überdurchschnittlich schnell, sie besitzen auch noch ein erhebliches Aufholpotential. Die Staatsfinanzen sind in vielen Schwellenländern gesund. Viele – nicht alle – Schwellenländer haben eine für wirtschaftliches Wachstum günstige Demografie. Viele Schwellenländer produzieren Massengüter mit niedrigen Kosten für den Weltmarkt, andere verfügen über erhebliche Rohstoffreserven.
Dies ist alles richtig, aber es ist nur ein Teil der Wahrheit. Im Jahre 1990, also vor der aktuellen Niedrigzinsphase im Westen, veröffentlichte der spätere Nobelpreisträger Robert Lucas einen der in der Fachwelt meist zitierten Aufsätze der vergangenen Jahrzehnte („Why doesn‘t capital flow from rich to poor countries?“) , in dem er die Frage aufwarf, warum eigentlich per Saldo mehr Kapital von Entwicklungs- und Schwellenländer in Industrienationen fließt als umgekehrt. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Bis heute legen die Schwellenländer mehr Geld in den reichen Nationen an als die reichen Nationen in Schwellenländern, obgleich es in den Schwellenländern eigentlich sehr viel mehr attraktive Anlagen geben müsste als in den Industrienationen. Lucas’ Bebachtung, die eine bis heute nicht endende Fülle von Untersuchungen zur Folge gehabt hat, wird in der Literatur als “Lucas-Paradox” bezeichnet. *)
Eine Antwort lautet: Die Schwellenländer besitzen neben Qualitäten auch sehr viele wirtschaftliche Schwachstellen, die ihre eigenen Anleger besser erkennen als die Anleger aus den reichen Nationen, die sich immer wieder vom schönen Schein blenden lassen. Diese Schwächen sind nicht zuletzt institutioneller Natur: Potentiell unsichere Eigentumsrechte in vielen Ländern (die dazu führen, dass sehr langfristige Finanzierungen etwa von Infrastruktur aus dem Westen unterbleiben), erhebliche Strukturschwächen, teilweise hoch reglementierte Märkte, Klientelwirtschaft und unterentwickelte Finanzmärkte gehören trotz zahlreichen beeindruckenden Fortschritten zur wirtschaftlichen Wahrheit.
Es ist auch das lange Verkennen und plötzliche Erkennen dieser Wahrheit, das zum Auf und Ab der Finanzmärkte in den Schwellenländern erheblich beiträgt. Wiederum spielt der Herdentrieb eine Rolle, aber er ist nicht alleine durch die Geldpolitik gesteuert. Oft führt auch das Fehlen präziser Informationen über die Schwellenländer zu Anlageentscheidungen, die später kurzfristig wieder korrigiert werden müssen. **) Vor allem sind Schwellenländer keine homogene Ländergruppe, wie sich auch mit Blick auf die Kapitalmarktentwicklung zeigt. Es ist eine Mode unserer Zeit, Geldpolitik als allmächtiges und alleinerklärendes wirtschaftspolitisches Instrument zu begreifen. Geldpolitik ist sicherlich mächtig, aber nicht allmächtig.
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*) Es ist wirklich kein Thema des Jahres 2013, aber da wir in einem früheren Leben auch Rudolf Hilferding gelesen haben, möchten wir darauf hinweisen, dass das Lucas-Paradox Anhängern (so es denn noch welche geben sollte) der alten ökonomischen Imperialismustheorien nicht ins Weltbild passen dürfte.
**) Wir kennen mehrere erfahrene und in der Branche angesehene Finanzmarktteilnehmer, die erst kürzlich einen genauen – und dann ziemlich entsetzten – Blick auf Brasilien geworfen haben, obgleich ihre Häuser seit Jahren auch in den lateinamerikanischen Märkten engagiert sind. Es wurde über die Jahre viel gutes Research gerade über die Bric-Staaten aus Finanzhäusern veröffentlicht, aber es gab eben auch Anleger, die im Vertrauen auf die “Bric-Story” und ohne genaue Kenntnisse dort investiert haben
Eine kürzere Version dieses Beitrags ist am 30. August 2013 im Finanzmarkt der F.A.Z. erschienen.