Jetzt kommt es auf Kleinigkeiten an. Glaubt man den Demoskopen, haben viele Bürger noch immer nicht entschieden, ob sie am 22. September wählen gehen. Groß ist die Zahl der Unentschlossenen, die zwar wählen wollen, aber kurz vor der Wahl nicht wissen, wo sie ihr Kreuzchen machen werden. Wähler werden wankelmütiger. Das könnte den Einfluss von Faktoren erhöhen, die im strengen Sinn nichts mit Politik zu tun haben, aber mitentscheidend dafür sind, in welche Richtung das Pendel bei den Kurzentschlossenen letztendlich ausschlägt. Das Aussehen eines Kandidaten, die Entscheidung des Partners und sogar das Wetter, all das kann im Einzelfall wahlentscheidend sein, behaupten Forscher, die mit den Mitteln der Ökonomie Wahlen untersuchen.
Wie wichtig ein anziehendes Äußeres sein kann, haben die Soziologie-Professoren Ulrich Rosar (Universität Düsseldorf) und Markus Klein (Universität Hannover) gleich in mehren Studien beobachtet. Die Forscher lassen Probanden die Attraktivität ihnen unbekannter Kandidaten anhand von Fotos bewerten, die Politiker auf ihren Websites veröffentlichen. Die Ergebnisse des Schönheitswettbewerbs vergleichen sie dann mit den Wahlresultaten. Dabei zeigt sich: Wer besser aussieht, bekommt im Schnitt auch mehr Stimmen.
In ihrer jüngsten Studie nahmen sich die Forscher die Bürgermeisterwahlen in Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2009 vor, zu denen insgesamt 264 Direktkandidaten antraten. Dabei zeigte sich nach Berechnung der Forscher, dass die Attraktivität die Abstände zwischen den Kandidaten um bis zu 5 Prozentpunkte beeinflussen kann. Dieser Effekt müsse als sehr bedeutend angesehen werden, schreiben die Forscher, da er in einem Kopf-an-Kopf-Rennen den Ausschlag geben kann. Im Fall der Bundestagswahl 2002 schreiben die Forscher dem Beauty-Bonus in Einzelfällen wahlentscheidende Bedeutung zu: In jedem zehnten Wahlkreis hätte demnach der unterlegene Kandidat gewinnen können, wäre er von den Wählern als besonders attraktiv bewertet worden.
Die Liste der Länder, in denen Forscher ähnliche Effekte beobachtet haben, ist lang. Sei es in Finnland, Frankreich, Irland, der Schweiz oder Großbritannien, überall ziehen im Durchschnitt attraktiver bewertete Politiker Studien zufolge mehr Wähler an. Auffällig ist, dass kulturelle Grenzen bei der Einschätzung, wer attraktiv ist und wer nicht, kaum eine Rolle zu spielen scheinen.
Über die Ursachen des Beauty-Bonus spekulieren die Forscher munter. Viele vermuten, gutes Aussehen werde besonders häufig mit fachlicher Kompetenz und positiven Charaktereigenschaften assoziiert. Außerdem garantiere gutes Aussehen Aufmerksamkeit. “Sie werden häufiger wahrgenommen, intensiver beobachtet, und an ihre Aussagen und Aktionen erinnert man sich besser”, schreiben Klein und Rosar. Überzeugte Demokraten, die bislang allein an die Kraft der Argumente geglaubt haben, mögen die Ergebnisse betrüben. Doch – und das beruhigt ein wenig – gerade bei der Frage, ob Angela Merkel oder Peer Steinbrück mehr Wähler anziehen kann, dürfte das Aussehen nur eine äußerst untergeordnete Rolle spielen. Denn je prominenter ein Kandidat ist, desto geringer der Beauty-Bonus, vermuten die Forscher. Die Entscheidung, zur Wahl zu gehen oder zu Hause zu bleiben, trifft jeder für sich alleine, ganz unabhängig und aus innerer Überzeugung heraus. Das zumindest behaupten die meisten Menschen. Doch in der Realität könnte es anders sein, legen Studien nahe, die den sozialen Einfluss auf die Wahlentscheidung beleuchten. Zwei Feldexperimente in Minneapolis und Denver zeigen, wie sehr das Wahlverhalten einer nahestehenden Person abfärbt. In den amerikanischen Städten wurden rund 1000 Haushalte identifiziert, in denen jeweils zwei Wahlberechtigte leben. In einem Teil der Haushalte wurde bei einem Bewohner intensiv für die Wahlbeteiligung geworben. Die Kampagne hatte durchschlagenden Erfolg. Nicht nur die umworbene Person nahm signifikant häufiger an der Wahl teil als die Personen in den nicht umworbenen Haushalten. Auch die Wahlbeteiligung der Mitbewohner, in den meisten Fällen wohl der Lebenspartner, stieg sichtbar an. Das Experiment “liefert starke Hinweise darauf, dass zwischenmenschlicher Einfluss das Verhalten von Personen in einem Haushalt formt”, schlussfolgert David Nickerson, Politikwissenschaftler an der Universitiy of Notre Dame (Indiana). Ein Team um die deutsche Ökonomin Ulrike Malmendier, die in Berkeley forscht, kommt gar zu dem Ergebnis, dass manche Menschen allein deshalb wählen gehen, “weil andere danach fragen könnten“. Die Forscher nehmen an, das Zugeständnis, zu Hause geblieben zu sein, würde bei Nichtwählern ein Schamgefühl auslösen. Und auf die Frage nach der Wahlbeteiligung mit einer Lüge zu reagieren, sei ebenfalls unangenehm. In ihrer empirischen Studie errechnen die Forscher, das Zugeständnis oder eine Lüge sei mit Kosten von 10 bis 15 Dollar gleichzusetzen. Diese, nur theoretisch zu zahlende Summe, reiche aus, um manche Menschen vom Nichtwählen abzuhalten.
Und selbst das Wetter kann Wahlen beeinflussen. Nicht nur, weil es bequemer ist, bei Regen und Kälte zu Hause zu bleiben, sondern auch, weil die Bequemlichkeit offenbar ungleich verteilt ist. Forscher in den Niederlanden haben erkannt, dass in den zurückliegenden 40 Jahren die Sozialdemokraten bei schlechtem Wetter im Schnitt mehr Stimmen verloren haben als die Christdemokraten.
Und Tommaso Nannicini, ein Ökonom der Mailänder Wirtschaftsuniversität Bocconi, der derzeit die zurückliegenden Parlamentswahlen in seiner Heimat erforscht, ist sich sicher: “Wäre das Wetter besser gewesen, hätte die Protestpartei von Beppe Grillo noch besser abgeschnitten.”