Ein Gastbeitrag von Malte Faber und Thomas Petersen *)
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Die Finanzkrise als Bestätigung der marxschen Kapitalanalyse?
Im Jahre 2007 entstand in den USA, ausgelöst durch zahlreiche notleidende Immobilienkredite, eine Finanzkrise, die ein Jahr später durch den Zusammenbruch der Bank Lehmann Brothers Inc. die ganze industrialisierte Welt erfasste. Um einen Kollaps des Bankensystems zu verhindern, haben zahlreiche Staaten mit großem finanziellem Einsatz bedrohte Banken gestützt. Das führte zu einem weiteren Anstieg der Staatsschulden, insbesondere in den USA und Europa. Diese Entwicklung löste in Europa eine Staatsschuldenkrise, die sogenannte Eurokrise aus.
In der öffentlichen Wahrnehmung wurde die Krise durch die hemmungslose Gewinnsucht von Banken und anderen Finanzinstituten wie Hedgefonds und Versicherungen, deren Mitarbeiter sowie von Kapitalanlegern verursacht. Diese Akteure gingen profitable, jedoch hoch riskante Geschäfte ein und belohnten ihre Mitarbeiter mit exorbitanten Bonuszahlungen.1 Dass diese Finanzakteure, als sie in ernste Schwierigkeiten gerieten, durch staatliche Gelder „gerettet“ wurden, wurde weithin als eine „Umverteilung von unten nach oben“ interpretiert. Die Staaten erschienen als Handlanger des Großkapitals.
Die Marx-Renaissance, die bereits seit dem Ende des sozialistischen Regimes in Osteuropa zu beobachten war, bekam durch die Finanzkrise neuen Auftrieb, denn diese Krise schien die marxschen Diagnosen der kapitalistischen Wirtschaft eindrucksvoll zu betätigen. Wenn man nämlich nicht den schlechten Charakter und die hemmungslose „Gier“ von Bankern für die Krise verantwortlich machen wollte, so ließ sie sich doch offenbar gut auf den von Marx diagnostizierten Selbstvermehrungstrieb des Kapitals zurückführen. Dieser Selbstvermehrungstrieb, so hatte Marx dargelegt, ist in einem Produktionsverhältnis begründet und institutioneller oder struktureller Natur. Die Gier der Finanzakteure ließ sich dann gut als eine „Charaktermaske“ dieses anonymen Triebes verstehen. Marx hatte im dritten Band des Kapital festgestellt, dass in der Finanzwirtschaft „das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form“ (MEW 25: 404) erreicht habe. „Der sich selbst verwertende Wert“ wird „Geld heckendes Geld“: „Das gesellschaftliche Verhältnis ist vollendet als Verhältnis eines Dings, des Geldes, zu sich selbst.“ (405) Im „zinstragenden Kapital“, so hieße das, ist der „sich selbst verwertende Wert“ ganz bei sich selbst, da dieses sich anscheinend direkt vermehrt, ohne den Umweg über die materielle Produktion zu nehmen. Und der Vermehrungstrieb des Wertes oder des Geldes hatte doch offenbar die globale Krise herbeigeführt. Vor dem Hintergrund des marxschen Wert- und Kapitalbegriffs konnte man die 2007 beginnende Finanzkrise als den Auftakt einer finalen Krise des Kapitalismus interpretieren.2 Zugleich schien sich die marxsche Einschätzung des Staates zu bestätigen: In der „Bankenrettung“ hatte sich der Staat offenbar als „ideeller Gesamtkapitalist“ (MEW 20, 260) erwiesen.
Eine kurze Geschichte der Finanzkrise
Anders als die verbreitete Sicht, die Finanzkrise von 2007 sei als der Auftakt einer finalen Krise des Kapitalismus zu interpretieren, die die Prognosen von Marx bestätige, sind wir der Auffassung, dass die Finanzkrise nicht die Stärken, sondern im Gegenteil die Schwächen der marxschen Analyse offenlegt. Das zeigt sich, wenn man die Finanzkrise einmal näher betrachtet.3 Der Auslöser für die Krise war die extreme Erhöhung des amerikanischen Diskontsatzes (primary rate) der Federal Reserve Bank New York (FED) von 2 % am 25.06.2003 auf 6.25 % am 29.06.2006 (Labonte und Makinen 2008: 2)4, aber andere Faktoren haben die Folgen wesentlich vergrößert. Einer dieser Faktoren war die großzügige Vergabe sogenannter „Subprimekredite“ für Immobilien. Subprimekredite sind Kredite, bei denen nicht die üblichen „prime“-Bedingungen gelten. An die Bonität des Schuldners wurden wesentlich geringere Anforderungen durch die Kreditgeber gestellt, insbesondere benötigten die Kreditnehmer kein Eigenkapital. Außerdem konnte die Kreditsumme den Wert des Hauses bis zu 20 Prozent übersteigen, so dass die Kreditnehmer mit dieser Summe nicht nur das neue Haus, sondern auch dessen neue Einrichtungen kaufen konnten. Um möglichst viele Immobilienkäufer zum Abschluss eines solchen Kreditvertrages zu bewegen, gewährten die Kreditgeber in den ersten Jahren niedrige Zinsen.
Hinter dieser großzügigen Kreditvergabe standen aber nicht nur Geschäfts- und Gewinninteressen der Banken, sondern vor allem politische Entscheidungen. Zum einen drängte der Staat auf die Vergabe von Subprimekrediten an einkommensschwache Personen, um möglichst vielen Bürgern den Erwerb eines eigenen Hauses zu ermöglichen.5 Auf der anderen Seite ermöglichte die FED durch ihre Politik des billigen Geldes jahrelang günstige Zinsen. Da die Preise der Immobilen in den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Ausbruch der Krise im Jahre 2007 ununterbrochen gestiegen waren, wurden allgemein weitere Preissteigerungen erwartet. Die großzügige Vergabe von Subprimekrediten erschien daher als ein vergleichsweise sicheres Geschäft, da die Kredite ja durch die zu erwartenden weiteren Wertsteigerungen der Immobilien gesichert zu sein schienen.
Die Kreditvergabe wurde nicht zuletzt durch neue Finanzinstrumente erleichtert. Die Banken gingen dazu über, Kredite in Schuldverschreibungen zu verbriefen und diese Schuldverschreibungen dann weltweit zu verkaufen. Dabei wurden Kredite unterschiedlicher Bonität gebündelt. Eine solche Bündelung ist als ein Instrument der Risikoabsicherung grundsätzlich sinnvoll. Wird nämlich einer der Kredite notleidend, das heißt, kann er von dem jeweiligen Schuldner nicht mehr bedient werden, so hat man gute Chancen, dass die übrigen Kredite in dem entsprechenden Bündel dies nicht tun und Verluste sich begrenzen lassen. Die Verbriefung und der Verkauf von Kreditverträgen brachte den Banken neues Geld und damit die Möglichkeit, weitere Kredite zu vergeben. Derartige Schuldverschreibungen werden als CDOs (Collateralized Debt Obligations) bezeichnet, deren Komplexität noch einmal gesteigert wurde zu sogenannten RMBS (Residential Mortgage-Backed Securities) „mit mit Hypotheken auf Privatimmobilien besicherten Wertpapieren besicherte Schuldverschreibungen“ 6(Ferguson 210: 242).
Im Laufe der Zeit wurden nun zahlreiche Subprimekredite notleidend, und zwar vor allem dann, als die Phase der billigen „Lockzinsen“ vorbei war. Mit höheren Zinsen konnten viele Schuldner ihre Kredite nicht mehr bedienen. In dieser Situation erwies sich nun überdies die Sicherung der Kredite aufgrund des amerikanischen Haftungsrechts als unzureichend. Nach diesem Recht nämlich haftet der Kreditnehmer nur mit der Immobilie, nicht aber mit anderen Vermögenswerten oder mit seinem Einkommen. Er konnte seiner Verpflichtungen einfach ledig werden, indem er aus seinem Haus auszog und den Hausschlüssel seiner Bank mit der Post zusandte. Weil auf diese Weise viele Kreditnehmer ihre Häuser an die Banken zurückgaben, kam es zu einem Überangebot auf dem Immobilienmarkt. Die Preise für Häuser fielen. Alle die Banken gerieten nun in Schwierigkeiten, die Kredite hielten oder CDOs in ihren Depots hatten, welche ebenfalls einen erheblichen Wertverlust erlitten. Hieraus entstand die internationale Bankenkrise: Banken drohten, insolvent zu werden und waren nicht mehr bereit, sich untereinander Geld zu leihen. Ein Kollaps des gesamten Bankensystems schien möglich. Die Staaten sahen sich daher gezwungen, das Bankensystem durch Bereitstellung großer Geldmittel zu stützen.
Was kann Marx nicht sehen?
Aus unserer Sicht sind dabei drei Dinge von entscheidender Bedeutung.
(i) Die Politik spielt in diesem Geschehen eine autonome Rolle und hat sogar die Initiative: sie ist ein Antreiber dieses Prozesses.
(ii) Der Zins und die Bedingungen der Kreditvergabe haben eine allokative Funktion, d.h. sie haben einen entscheidenden Einfluss darauf, wie wirtschaftliche Ressourcen verwendet und welche Investitions- und Produktionsentscheidungen getroffen werden.
(iii) Im Laufe der Entwicklung vor dem Ausbruch der Krise spielen neuartige Finanzinstitute (z.B. Hegefonds) und Finanzinstrumente (z.B. Verbriefungen) eine Rolle. Diese Institute und Instrumente werden oft verdächtigt, ein im Grunde betrügerisches Handeln zu maskieren, d.h. sie erscheinen dann nur als Instrumente, mit denen sich Gewinne auf Kosten anderer machen lassen. Man kann nicht bestreiten, dass diese komplexen Instrumente dazu benutzt worden sind, da man gerade auf ihre Undurchschaubarkeit vertraute. Doch das darf nicht übersehen lassen, dass der Sinn dieser Instrumente in Effizienzgewinnen und Risikoabsicherungen liegt. Diese Instrumente haben ebenso wie der Zins eine allokative Funktion. Verdeutlichen kann man sich das an einem klassischen Finanzinstrument, nämlich dem der Versicherung. So wurde der umfangreiche Seehandel der Niederlande im 17. Jahrhundert erst dadurch möglich, dass die Kaufleute die Möglichkeit bekamen, ihre Schiffe und deren Ladung gegen Schiffbruch, Sturm und Seeräuberei zu versichern (vgl. Ferguson 2010:115-123).
Alle diese drei Punkte, die in der Finanzkrise eine entscheidende Rolle spielen, können von einem Ansatz her, wie ihn Marx formuliert, nicht richtig gesehen werden.
Zu (i). Die Dominanz, die Marx dem Ökonomischen einräumt, führt, wie wir gesehen haben, zu einer unzureichenden Staatstheorie (siehe oben Abschnitt 9.1). Für Marx ist der Staat in den wenigen spärlichen Formulierungen, die sich bei ihm finden, nur ein Agent der Bourgeoisie oder der Kapitalistenklasse. Doch auch wenn man Marx, wie Jon Elster (1986), eine Auffassung des Staates zubilligt, in der der Staat als autonomer Akteur gesehen wird, ist damit die Rolle der Politik in der gegenwärtigen Finanzkrise nicht zu erfassen. Denn auch in dieser „staatsfreundlicheren“ Auffassung ist die Ökonomie nur eine Beschränkung für den Staat, nicht aber ein Bereich, den der Staat beeinflussen kann; er kann daher in der Wirtschaft keine eigenen Ziele verfolgen oder das wirtschaftliche Geschehen beeinflussen.
Zu (ii). Dass Marx die beiden anderen oben genannten Faktoren, nämlich die allokative Funktion des Zinses und die Rolle von Finanzzinnovationen nicht in den Blick bekommt, hängt mit der Produktionslastigkeit seines Ansatzes zusammen. In diesem Ansatz ergeben sich allokative Entscheidungen nur aus dem Fortschritt der Produktivkräfte oder der Technologie, kurz aus dem technischen Fortschritt. Die Kapitalisten investieren dort, wo die Technologie am fortgeschrittensten ist und die höchsten Profite zu erwarten sind. Der technische Fortschritt ist ein wichtiger Faktor für Investitionsentscheidungen, aber er ist nicht der einzige. Die Sache wird nun dadurch kompliziert, dass die Kapitalisten als Eigentümer der Produktionsmittel das Kapital, das sie investieren wollen, nicht zur Gänze zur Verfügung haben. Sie müssen sich einen Teil des zu investierenden Kapitals leihen, nämlich bei Besitzern großer Vermögen oder bei Akteuren, die über Ersparnisse verfügen. Diese Besitzer von Geldkapital verleihen ihr Geld gegen einen Zins.
Doch welche Höhe hat dieser Zins? Abgesehen von der Feststellung, dass „die Durchschnittsrate des Profits als die endgültig bestimmende Maximalgrenze des Zinses zu betrachten“ ist, (MEW 25: 372; MEGA II/15: 351) glaubt Marx, über die Höhe des Zinses lasse sich wissenschaftlich nichts sagen: „Die Minimalgrenze des Zinses ist ganz und gar unbestimmbar.“ (370)7
Zu diesem Schluss kommt Marx ohne große Umstände. Er hält sich mit der Frage nach der Höhe des Zinses vermutlich deshalb nicht lange auf, weil sie in seinen Augen nur von nebensächlicher Bedeutung ist. Denn Marx hat keinen Blick für eine mögliche allokative Funktion des Zinssatzes. Diese Funktion wird aber wesentlich von der Höhe des Zinses bestimmt. Marx schreibt dem Zins nur eine distributive Funktion zu. Der Zins bestimme nur, welchen Anteil des Profits den Besitzern von Geldkapital zufällt: „Es ist in der Tat nur die Trennung der Kapitalisten in Geldkapitalisten und industrielle Kapitalisten, die einen Teil des Profits in Zins verwandelt, die überhaupt die Kategorie des Zinses schafft; und es ist nur die Konkurrenz zwischen diesen beiden Sorten Kapitalisten, die den Zinsfuß schafft.“ (MEW 25: 383; MEGA II/15: 361) Im marxschen Ansatz hat die Höhe des Zinses also mit der Investitionsentscheidung selbst gar nichts zu tun. Die Höhe des Zinses gibt nur eine Art Kompromiss an, wie die beiden Kapitalisten“sorten“, die Unternehmer und Geldkapitalisten, sich den aus der Investition entstandenen Profit teilen. Was dabei nicht in den Blick kommt, ist, dass die Bereitschaft, Geld zu verleihen, an Bedingungen geknüpft ist. Profitable Investitionen können so unterbleiben, weil der geforderte Zins zu hoch ist. Der Grund dafür liegt in der Bedürfnisstruktur der Geldkapitalisten. Diese ist in der Regel durch Minderschätzung zukünftigen Konsums gekennzeichnet. Minderschätzung zukünftigen Konsums bedeutet kurz gesagt: man will eine Einheit eines Konsumgutes lieber heute als morgen haben. Der Zins, den man dafür verlangt, ist der Preis dafür, dass man in der Gegenwart auf den Konsum verzichtet. Der Zinssatz hängt damit von Präferenzen oder eben von den Bedürfnissen ab. Bedürfnisse sind jedoch in sich komplex und spielen eine autonome Rolle bei der Entwicklung der Wirtschaft. Diese Rolle wird bei Marx verkannt, der zu der Meinung neigt, Bedürfnisse seien selbst entweder naturgegeben oder Resultat einer Produktion oder „Erzeugung“ (vgl. MEW 3, 28; siehe auch oben Abschnitt 8.1).
Zu (iii). Für Marx ist der Finanzsektor eine im Grunde parasitäre Erscheinung; er reduziert sich im Wesentlichen auf die Verleihung von Geld gegen Zins und hat nur die Funktion, die Geldkapitalisten an dem in der Produktion erwirtschafteten Mehrwert zu beteiligen: „Qualitativ betrachtet ist der Zins Mehrwert“ (MEW 25: 390). Pointiert könnte man sagen, dass die marxsche Perspektive auf das Kreditwesen in den Grenzen der aristotelischen Auffassung vom Zinswucher bleibt. Marx hält das Finanzwesen für unproduktiv, und der Geldverleiher schneidet sich nur einen Teil des Profits des Kapitalisten ab. Wie der Zinswucher des Aristoteles ist auch der Geldverleih bei Marx ein Nullsummenspiel, in dem Gewinne der einen nur mit Verlusten der anderen erkauft sind.
In seinem Buch Das Finanzkapital (1910/1973), das auf marxschen Kategorien aufbaut und manchmal sogar als „der vierte Band des marxschen Kapital bezeichnet worden“ (Hilferding 1973: 5) ist, analysiert Rudolf Hilferding, wie der Finanzsektor die Konzentration des Kapitals befördert. Diese Wirkung des „Kreditwesens“ hatte Marx im Kapital I auch schon gesehen, ihr jedoch nur wenige Zeilen gewidmet. Immerhin sieht Marx darin „eine ganz neue Macht“, die „bald eine neue und furchtbare Waffe im Konkurrenzkampf wird und sich schließlich in einen ungeheuren sozialen Mechanismus zur Zentralisation der Kapitale verwandelt.“ (MEW 23: 655).8 Doch sowohl bei Marx9 als auch bei Hilferding werden wichtige Funktionen des Finanzsektors nicht gesehen. Insbesondere bleibt die schon damals zu beobachtenden Entstehung immer neuer Finanzinstitutionen und Finanzprodukte weitgehend unbemerkt, sieht man einmal von Hilferdings Würdigung der Aktiengesellschaft ab (136-172).
Die Funktionen des Finanzsektors (einschließlich des Versicherungssektors) bestehen zum einen in der Entscheidung, welche Investitionsprojekte Kapital erhalten und somit durchgeführt werden können. Weiter leistet der Finanzsektor eine Verteilung der Risiken und trägt damit zur Reduzierung der Unsicherheit bei. Unsicherheit ist zunächst eine Unsicherheit der Natur (so beeinflussen Wetterbedingungen den Agrarmarkt), es gibt Unsicherheiten auf den Rohstoffmärkten, Schwankungen der Wechselkurse etc. Schließlich sind auch die wechselnden und sich wandelnden Bedürfnisse eine Quelle der Unsicherheit.
All dies sind Dinge, die bei Marx keine wirkliche Rolle spielen. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang, dass die Versicherung gegen Risiken selbst allokative Wirkungen hat; denn sie ermöglicht, dass profitable, aber riskante Unternehmungen, etwa im Übersee- oder ganz allgemein im Außenhandel, sowie industrielle Produktionen mit großen Betriebsgefahren durchgeführt werden, die sonst unterbleiben würden.
Die Entwicklung des Finanzsektors kann, wie der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson (2010: 308-17) darlegt, als ein evolutionärer Prozess verstanden werden. In diesem Prozess bilden sich, wie Ferguson zeigt, immer neue Funktionen heraus, die auf wechselnde Bedürfnisse reagieren und auch Entwicklungen der Produktion entscheidend beeinflussen. Illustrieren kann diese Beobachtung die Entstehung moderner Aktiengesellschaften in Deutschland, die ganz wesentlich die große Dynamik der deutschen Wirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert bestimmt hat. Denn durch diese Gesellschaftsform wurde es möglich, das für die großen Investitionen erforderliche Kapital bereitzustellen. In heutiger Zeit wären die Entstehung von Pensions- und Hedgefonds zu nennen, aber auch die Herausbildung immer neuer komplexer Finanzinstrumente (wie Derivate und Zertifikate). Aus diesem Grund hält Ferguson die Konzentrationstendenzen im Finanzsektor zwar für unübersehbar, sie scheinen ihm aber weit weniger bedeutsam als die Entstehung immer „neuer Typen von Finanzinstitutionen“ (312).
Die Evolution der Finanzinstitutionen und –instrumente ist nach Ferguson ein Prozess, in dem nur wenige dieser Institutionen und Instrumente überleben. Und im Ganzen hält Ferguson diese Evolution für ein erfreuliches Phänomen, das maßgeblich zur Effizienz der Wirtschaft und zu Sicherheit vor Krisen beigetragen hat. Man muss sich dieser vorteilhaften Sicht des Finanzsektors nicht anschließen. Man kann auch geltend machen, dass die neuen Finanzinstitutionen und –instrumente auch das Gegenteil bewirken können. In beiden Fällen aber haben sie allokative Wirkungen, die in einer marxschen Perspektive nicht gesehen werden können.
In der gegenwärtigen Finanzkrise haben aber vor allem die neuen, komplexen Finanzinstrumente eine große Rolle gespielt. Das zeigt zwar, dass diese Instrumente in ihrer Komplexität und ihrer Tendenz, eine immer größere Verflechtung der Banken (“interconnectedness”) zu fördern, große Gefahren in sich bergen (Admati und Hellwig 2013). Doch weil der marxsche Ansatz die eigentliche Funktion solcher Instrumente nicht in den Blick bekommen kann, bietet er auch keine Einsicht in ihre gefährlichen und im Extremfall desaströsen Wirkungen. Das bedeutet: Aus dem marxschen Ansatz ergibt sich nicht nur keine solide Strategie, wie die Krisen der kapitalistischen Wirtschaft und ihres Finanzsektors überwunden werden können. Dieser Ansatz leistet nicht eine adäquate Diagnose.
Ist die marxsche Perspektive auf die Finanzkrise also vollkommen wertlos? Das wird man so nicht sagen können. Was die vielfach zitierte Gier der Banken, der Anleger und sogar der kleinen Sparer angeht, kann Marx ein gutes Korrektiv gegen den Moralismus mancher Debatten bieten. Schon Aristoteles war ja aufgefallen, dass alle, die sich mit Geldgeschäften befassen, ihren Reichtum ins Unermessliche vermehren wollen. Aristoteles bemerkt also, dass die Pleonexia in einer spezifischen Weise mit dem Geld zusammenhängt und sich vornehmlich auf das Geld richtet. Im Grunde stößt Aristoteles darauf, dass zwischen der Pleonexia und dem Geld eine intime Beziehung besteht. Die Pleonexia ist kein Laster, zu dem die Menschen im Allgemeinen mehr oder weniger neigen, sondern eines das bestimmte institutionelle Bedingungen hat. Die Frage, warum Menschen Gier oder Habsucht entwickeln, ist daher eine Frage nach den institutionellen Bedingungen solcher Dispositionen. Und Marx hat eine solche Antwort gegeben, selbst wenn die nicht in jeder Beziehung zu überzeugen vermag. In jedem Fall lehrt er uns, plötzlich endemisch auftretende Gier nach Geld als ein sekundäres, seinerseits zu erklärendes Phänomenen zu sehen.
Weiterhin haben wir oben die Tendenz zur Konzentration angesprochen. Dieser Tendenz schenkt Ferguson nur geringe Aufmerksamkeit. Doch sie ist ein klassisches Thema der marxschen und der marxistischen Kapitalanalyse. Die Probleme, die sich aus der Konzentration von Banken ergeben, sind freilich keinesfalls gering zu schätzen (vgl. z.B. Admati und Hellwig 2013). Denn sie erhöhen den Druck auf Staaten, große Banken vor der Insolvenz zu bewahren, und machen die staatliche Politik erpressbar.
Im Übrigen bleiben noch drei Punkte, zu denen Marx’ Analyse möglicherweise noch etwas beizutragen hat, nämlich die Rolle des Staates, das Verhalten der Banken und die Einkommensverteilung.
1. Wir kommen zunächst zur Rolle des Staates. Aus marxscher Perspektive kann der Staat nichts anderes tun, als den Interessen des Kapitals, in diesem Fall den Interessen der Banken und der Anleger, zu dienen – zumindest kann er diesen Interessen nicht zuwiderhandeln. Für diese Auffassung scheint nun in der Tat einiges zu sprechen. Der Finanzsektor hat auf die Politik einen erheblichen Einfluss. Sowohl bei der Aufstellung von Regeln wie bei der faktischen Regulierung sind die Akteure des Finanzsektors maßgeblich beteiligt, und sie haben offenbar einen privilegierten Zugang zur Politik; in Fragen der Finanzpolitik haben sie in besonderer Weise das Ohr des Machthabers (Schmitt 1973: 437-439; Admati und Hellwig 2013: 190 ff.). Dieser privilegierte Zugang wird durch die Neigung der Politiker erleichtert, die Aufgabe der Banken vor allem in der Staatsfinanzierung zu sehen (Admati und Hellwig 2013: 200-204). Man kann daher mit einem gewissen Recht von einem „staatlich-finanzindustriellen Komplex“ sprechen. Dies alles verleiht der marxschen Staatsauffassung eine gewisse Plausibilität und macht sie suggestiv. Doch dieser Suggestivität gilt es gerade durch eine solide polit-ökonomische Analyse (ibid.) zu widerstehen.
2. Banken werden auf Kosten der Staatshaushalte und damit der Steuerzahler „gerettet“, während gleichzeitig exorbitante Boni an Bankmitarbeiter und ähnliches gezahlt werden. Das verstärkt die Ungleichverteilung von Einkommen. Diese Tendenz wird weithin als ungerecht empfunden. Ist dies nicht eben das, was die marxsche Kapitalanalyse voraussagt? In der Tat entwickelt Das Kapital die These, dass bei zunehmender Produktivität der Lohnanteil des erwirtschafteten Reichtums gegenüber dem Anteil des vom Kapitalisten angeeigneten Mehrwertes immer weiter zurückgeht. Doch ist daran zu erinnern, dass Marx keine Grundlage bietet, bestimmte Einkommensverteilungen als ungerecht zu kritisieren. Im Gegenteil hat er Forderungen nach einer gerechteren Verteilung in einer kapitalistischen Wirtschaft als ungereimt zurückgewiesen. In der kommunistischen Gesellschaft dagegen, so seine Erwartung, werde das Problem der Gerechtigkeit ohnehin verschwinden. Auch ist die Behauptung, die Tendenz zu einer immer größeren Ungleichverteilung sei unausweichlich, nicht überzeugend. Sie kann aber dazu verleiten, eine polit-ökonomische Analyse der Faktoren zu unterlassen, die zu dieser Ungleichverteilung führen. Einen solche Analyse kann zeigen, dass es in einer kapitalistischen Marktwirtschaft keinen unumkehrbaren Trend zu immer größeren Ungleichverteilung geben muss (Admati und Hellwig 2013, Stiglitz 2010)
3. Eine ähnlich problematische Suggestion übt Marx auch auf die populäre Kritik der Banken aus. Wenn oft gesagt wird, die Banken erfänden neue und komplexe Finanzinstrumente, um Anleger und Sparer über Risiken zu täuschen und dadurch ihren Gewinn zu steigern, dann bietet die marxsche Perspektive diesem Argument Unterstützung. Gerade weil in dieser Perspektive die allokative Funktion dieser Instrumente nicht zu erkennen ist, können diese Instrumente nur als Mittel erscheinen, durch die die „Geldkapitalisten“ sich einen größeren Anteil des von den Industriekapitalisten erwirtschafteten Profits verschaffen.
Anmerkungen:
1 “The average salary, including bonus, of a Goldman Sachs employee exploded at the end of the first decade of the millennium to 600 000 Dollars.[ …]In 2011, Goldman Sachs reported of 4 billion dollars [earnings, die Verf.], the average salary was less-than expected 367 000 Dollars and there was talk of great disappointment.” (Lachowski, 2012: 193)
2 Zu dieser Meinung neigt etwa Graeber (2012) und auch Ferguson (2012) stellt sich eine solche Frage, wenn auch aus ganz anderen Gründen.
3 Ausführliche Darstellungen der Geschichte der Finanzkrisen geben Kindleberger und Aliber (2005), Reinhart und Rogoff, (2011). Die gegenwärtige Finanzkrise wird ausführliche aus unterschiedlichen Perspektiven behandelt von Sarrazin (2012), Sinn (2012) sowie Admati und Hellwig (2013). Eine knappe Darstellung geben Bernholz, Faber und Petersen (2009).
4 Gegenwärtig (2013) bewegen sich die Diskontraten in den USA und in der Eurozone unter 1 %, was seinerseits extrem niedrig ist.
5 Die Politik, einkommensschwache Schichten zu Hausbesitzern zu machen, sollte sozial ausgleichend wirken. Wenn ein solcher Ausgleich nicht durch eine Erhöhung der Löhne erfolgen musste, ließ die Wettbewerbsposition der amerikanischen Wirtschaft sich besser behaupten. Bei dieser Politik spielt jedoch sicher auch eine große Rolle, dass sich die USA als eine „Hausbesitzerdemokratie“ (Ferguson 2010: 215) verstehen.
6 Es geht also um Schulverschreibungen, die mit Wertpapieren besichert sind, welche Wertpapiere ihrerseits wiederum mit Hypotheken auf Privatimmobilien besicherte sind.
7 Die herkömmliche Kapitaltheorie zeigt, dass diese Behauptung nicht zutrifft; vgl. dazu die Literaturhinweise in Abschnitt 8.2. – Marx’ Fehleinschätzung beruht auf dem Umstand, dass er nur die Nachfrage von Unternehmern nach Kapital berücksichtigte und nicht das Angebot an Kapital durch die Sparer und andere Geldanleger.
8 „Konkurrenz und Kredit“ sind „die beiden mächtigsten Hebel der Zentralisation“ (ibid.).
9 Marx’ Ansatz ist als ganzer produktionslastig, wie oben erwähnt. Daher rührt nicht nur eine Unterschätzung der Eigendynamik der Bedürfnisentwicklung, sondern wohl auch eine systematische Unterschätzung des Finanzsektors und der Funktion, die der Finanzsektor für den Sektor der Realwirtschaft hat. Für diese Vermutung spricht, dass sich Marx nur sehr kursorisch über das Finanz- und Kreditwesen äußert. Die Abschnitte über das zinstragende Kapital im dritten Band des Kapitals sind aus fragmentarischen Äußerungen von Marx hervorgegangen, die der Herausgeber Engels zusammengestellt hat.
In diesem Punkt sind auch die Beiträge im Compendium on Marxian Economics, das in der Regel eine wohlwollende Haltung gegen Marx einnimmt, recht kritisch: “Yet what we inherit from Marx comes in part as a set of disorganised notes and references to others‘ work on finance, these then reorganized by Engels in Capital III. Foundational as his ideas are, the dynamics of finance have become more developed and complex than in Marx’s time.” (Marols 2012: 138) Der Autor stellt weiter fest, dass auch nach Marx keine wesentlichen Einsichten zur Finanzwirtschaft aus marxistischer Perspektive gewonnen wurden: ”Unlike many other aspects of Marxism, there have been relatively few elaborations of the theory of finance from a Marxist perspective, and these have failed to keep up with material developments themselves.” (ibid.)
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*) Dieser Beitrag ist ein Kapitel aus dem Buch Thomas Petersen/Malte Faber: “Karl Marx und die Philosophie der Wirtschaft”, das im Verlag Karl Alber erscheinen wird. Dort findet sich auch ein ausführliches Literaturverzeichnis.
Thomas Petersen ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Heidelberg sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am Helmholtz-Zentrum für
Umweltforschung Leipzig (UFZ).
Malte Faber war von 1973 bis 2004 Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftstheorie am Alfred-Weber-Institut der Universität Heidelberg.