1. Im Mai 2013 stellte der Vorsitzende des Federal Reserve Board, Ben Bernanke, eine Reduzierung der monatlich 85 Milliarden Dollar ausmachenden Anleihekäufe der amerikanischen Notenbank in Aussicht. Daraufhin stiegen rund um den Globus die Renditen von kurz- wie langfristigen Anleihen. Besonders hart traf es Schwellenländer mit negativer Leistungsbilanz wie Indien, deren Währungen ebenso an Wert einbüßten wie Aktien und Anleihen. Im Herbst 2013 ließ die Fed durchblicken, dass derzeit eine Reduzierung der Anleihekäufe nicht geplant sei.
2. Sind Worte mächtiger als Zinssätze? Können Ankündigungen mehr bewirken als milliardenteure Käufe oder Verkäufe von Wertpapieren? Glaubt man einer neuen Denkweise in der Theorie der Geldpolitik, kommt Ankündigungen von Geldpolitikern eine erhebliche Bedeutung für die Steuerung der Konjunktur und damit auch der Inflationsrate durch die Notenbanken zu. Das Konzept lautet „Forward Guidance“ und wurde zuerst in den neunziger Jahren von der Notenbank in Neuseeland betrieben. *) In den vergangenen Jahren wurde es in den Vereinigten Staaten in theoretischer Hinsicht unter anderem von dem Columbia-Ökonomen Michael Woodford (etwa hier und hier und hier und hier) und in der Praxis von der Fed popularisiert. Daraufhin schwappte es über den Atlantik, wo es unter anderem die Europäische Zentralbank (EZB) und die Bank of England beschäftigt.
Einen sehr lehrreichen Überblick über diese durchaus umstrittene geldpolitische Strategie liefert ein neues, von dem niederländischen Ökonomen Wouter de Haan herausgegebenes E-Book (Forward Guidance: Perspectives from Central Bankers, Scholars and Market Participants), in dem sich Fachleute aus Theorie und Praxis in 15 Beiträgen zu dem Thema äußern.
3. Die Idee ist einfach: Die meisten Notenbanken folgen in ihrer Politik Grundsätzen der in den vergangenen Jahrzehnten dominierenden makroökonomischen Theorie. Das bedeutet, sie wollen die Zinsstrukturkurve steuern, um damit Einfluss auf Konjunktur und Inflationsrate zu nehmen.
Traditionell beeinflussen die Notenbanken direkt aber nur einen kurzfristigen Zins. Der wichtigste Leitzins der EZB betrifft einwöchige Geschäfte der EZB mit den Geschäftsbanken. Die meisten Spar- und Investitionsentscheidungen in einer Wirtschaft, sei es ein Kredit für ein Auto oder eine Spareinlage sind deutlich langfristiger. Die längerfristigen Zinsen steuert die Geldpolitik traditionell nicht direkt, sondern versucht sie indirekt über den kurzfristigen Leitzins anzusteuern. Dieser Zusammenhang zwischen kurz- und langfristigen Zinsen ist in der Praxis nicht perfekt, aber er existiert. **)
4. In der laufenden Krise haben in vielen Ländern die kurzfristigen Zinsen die Null-Linie entweder erreicht oder sich ihr wenigstens sehr stark angenähert. Eine Notenbank, die in einer solchen Situation die längerfristigen Zinsen senken will, kann dies nicht mehr durch eine Rücknahme der kurzfristigen Leitzinsen erreichen. Daraus sind die sogenannten „unkonventionellen Maßnahmen“ der Geldpolitik entstanden. Dazu gehören zum einen die Käufe längerfristiger Anleihen durch Notenbanken wie die Fed und die Bank of England mit dem Ziel, die Ertragsraten dieser langfristigen Anlagen zu senken. Damit sollen Konsum und Investition belebt werden. Die bisherigen Erfahrungen mit dieser sogenannten „quantitativen Lockerung“ sind gemischt.
5. An dieser Stelle kommt die Geldpolitik durch Worte, die „Forward Guidance“, ins Spiel. Zuvor galt es für eine Notenbank als sinnvoll, Klarheit über die langfristigen Ziele ihrer Politik im voraus zu geben, also zum Beispiel die Zielmarke von knapp 2 Prozent für die Inflationsrate im Falle der EZB. In gewisser Weise binden sich Notenbanken durch solche Versprechen wie in der griechischen Antike der Held Odysseus, der sich an den Mast binden ließ, um nicht dem Gesang der Sirenen zu verfallen. In der Welt der Geldpolitik wäre Inflation die moderne Erscheinung der Sirenen.
6. Allerdings galt es bisher nicht als sinnvoll, Voraussagen über den langfristigen Einsatz geldpolitischer Instrumente wie Leitzinsen zu machen. Das Konzept der „Forward Guidance“ sieht nun aber vor, dass eine Notenbank auch Aussagen über das voraussichtliche Niveau von Zinssätzen oder Anleihekäufen über einen längeren Zeitraum trifft. Solche Aussagen sind gebunden an Prognosen der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Notenbank sagt normalerweise nicht: „Wir werden unter allen Umständen bis 2016 nicht erhöhen“. Sondern sie sagt eher: „Wir werden den Leitzins bis 2016 nicht erhöhen, sofern sich bis dahin nicht die Wirtschaft kräftig erholt.“
So kündigte die Fed im Dezember 2008 an, der Offenmarktausschuss “anticipates that weak economic conditions are likely to warrant exceptionally low levels of the federal funds rate for some time.” Am 4. Juni 2013 teilte die EZB mit: “The Governing Council expects the key ECB interest rates to remain at present or lower levels for an extended period of time. This expectation is based on the overall subdued outlook for inflation extending into the medium term, given the broad-based weakness in the real economy and subdued monetary dynamics.”
7. Eine Notenbank liefert eine Prognose für die Wirtschaftsentwicklung. Damit ähnelt sie, worauf amerikanische Ökonomen in einem viel beachteten Papier aus dem Jahr 2012 hingewiesen haben, dem aus der griechischen Antike bekannten Orakel von Delphi. Aber die Notenbank legt sich nicht präzise auf einen festen Zeitpunkt für den Instrumenteneinsatz fest.
Warum versucht sich eine Notenbank an einer solchen längerfristigen Prognose niedriger kurzfristiger Zinsen? Weil sie auf diese Weise Einfluss auf die Zinsstrukturkurve nehmen will: Indem sie längerfristig niedrige kurzfristige Zinsen verspricht, will sie auch die langfristigen Zinsen niedrig halten und damit Investition und Konsum anregen.
8. Ein Problem ist, dass die Geldpolitik Schwierigkeiten haben kann, glaubhaft gleichzeitig die Rolle des Odysseus und des Orakels von Delphi wahrzunehmen. In profanen Worten hat darauf Woodford im vergangenen Jahr in seinem Vortrag auf der Konferenz von Jackson Hole hingewiesen: In ihrer Rolle als Orakel will die Geldpolitik langfristig niedrige Zinsen zu versprechen, um die Wirtschaft anzuregen. Gleichzeitig aber will sie als Odysseus an ihrem Prinzip festhalten, dem Sirenengesang der Inflation nicht nachzugeben.
9. Es ist durchaus denkbar, dass eine Notenbank die beiden Rollen glaubhaft vereint, aber es ist nicht selbstverständlich. Gilt eine Notenbank als ein glaubhafter Inflationsgegner, kann es geschehen, dass die Öffentlichkeit nicht an eine Phase dauerhaft niedriger Zinsen glaubt. Dann triumphiert Odysseus über das Orakel und die von den Befürwortern der „Forward Guidance“ erhoffte wirtschaftliche Anregung unterbleibt. Daher hatte Woodford im vergangenen Jahr den Fed-Vorsitzenden Ben Bernanke gelobt und getadelt. Er hatte ihn gelobt, weil er die Fed für das Konzept der „Forward Guidance“ geöffnet hat. Er hat ihn getadelt, weil Bernanke ein moderner Odysseus bleiben und nicht am Inflationsziel der Fed von 2 Prozent rütteln wollte: “Thus, in the case of the Federal Reserve, the introduction of more explicit forms of forward guidance and aggressive expansions of the Fed balance sheet have been accompanied by assurances that these policies should in no way suggest that there will be any relaxation of the FOMC’s vigilance when it comes to preventing any increase in inflation. Such assurances tend to contradict precisely the kind of signals that one would want such policies to send in order for them to be effective in providing people a reason to spend more.”
10. Das Konzept der “Forward Guidance” weist mehrere Probleme auf:
a) Es fällt den Geldpolitikern nach den bisherigen Erfahrungen schwer, ihre Botschaften ohne Irritationen und Friktionen zu vermitteln. Das gilt für die Fed, die EZB und für die Bank of England. In dem E-Book schreibt David Cobham über die britischen Erfahrungen: “So far the upshot has been a mix of:
– confusion – notably over Governor Carney’s attempt to explain the policy to the Treasury Select Committee (Financial Times, 12 September);
– disbelief from financial markets and even firms (Financial Times, 30 September); and
– some evidence that households think interest rates will stay lower for longer (Financial Times , 6 September), though they may be interpreting the policy as time- rather than state-contingent.” ***)
b) Manche Voraussagen sind notwendigerweise schwer zu lesen: Eine Notenbank, die einen lange niedrigen Zins in Aussicht stellt, will damit eine positive Botschaft aussenden und die Wirtschaft über höhere Konsum- und Investitionsausgaben anregen. Eine lange Periode niedriger Zinsen kann von den Menschen aber auch als Ausdruck außerordentlich schlechter Erwartungen der Notenbank über die wirtschaftliche Entwicklung gedeutet werden. Dies kann sogar zu hoher Liquiditätspräferenz, Angstsparen und damit dem Gegenteil höherer Konsum- und Investitionsausgaben führen.
c) “Forward Guidance” entspricht in erster Linie den Wünschen von Finanzmarktteilnehmern, die (eventuell mit Kursverlusten verbundene) Überraschungen durch die Geldpolitik nicht schätzen. Hier stellt sich die Frage, ob “Forward Guidance” nicht Ausdruck einer wachsenden Abhängigkeit der Geldpolitik von Wünschen der Banken ist; unter Ökonomen wird eine solche Abhängigkeit als “Finanzdominanz” bezeichnet.
d) “Forward Guidance” überschätzt den Einfluss von Geldpolitik in der Krisenbewältigung. Geldpolitik ist sehr wichtig, und Steuerung der Erwartungen durch Geldpolitik erst recht, aber Geldpolitik ist nicht allmächtig und sollte in der Krisenbewältigung auch nicht überfordert werden. Die Überschätzung der Geldpolitik verdient am ehesten ein “homerisches Gelächter”.
——————————————————————————-
*) Die Reserve Bank of New Zealand war auch die erste Zentralbank, die “Inflation Targeting” betrieb.
**) Das ist die Erwartungstheorie der Zinsstruktur. Hier ist eine Einfuehrung.
***) Es gibt eine ganze Reihe empirischer Studien, ein Beispiel ist Kool/Thornton.
Dieser Beitrag beruht auf einem Artikel, der am 25. November 2013 im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist.