Warum gibt es heute noch extreme Armut auf der Welt? Am Geld kann es nicht liegen, so rechnet es der renommierte Princeton-Ökonom Angus Deaton vor: Wenigstens über die Schwelle von einem Dollar Kaufkraft am Tag könnte die Welt ihre Ärmsten problemlos heben. 800 Millionen Menschen haben weniger Geld, im Durchschnitt haben sie nur 0,72 Dollar pro Tag. Jeden von ihnen auf einen Dollar zu bringen würde nicht einmal 250 Millionen Dollar am Tag kosten. Wenn man berücksichtigt, dass das Leben in den Schwellenländern billiger ist, müssten die Briten, Franzosen, Japaner und Deutschen gemeinsam nur 15 Cent pro Kopf zahlen. Das kann doch nicht so schwer aufzubringen sein!
Tatsächlich fehlt es nicht am Geld, sondern daran, dass es sinnvoll eingesetzt wird: Das ist die These von Angus Deaton. Der britische Ökonom lehrt seit 30 Jahren an der Princeton University und hat einen herausragenden Ruf in der Wachstums- und der Glücksforschung. Er sieht die Ursachen für die Armut anderswo.
„The Great Escape“, „die große Flucht“, heißt Deatons Streifzug durch die Menschheitsgeschichte von Wachstum und Gesundheit, der sich liest wie ein großes Vermächtniswerk. Er beginnt seine Argumentation damit, wie Armut überhaupt entsteht – damit, wie einige Leute reicher werden als andere. Deaton sieht die ganze Menschheitsgeschichte als eine große Flucht aus Armut und Krankheit.
Früher, als die Menschen sehr arm und oft krank waren, begann ihre Abneigung gegen die Ungleichheit, so argumentiert Deaton. Jäger und Sammler konnten ihre Nahrung kaum lagern. Deshalb war es besser, das frisch erlegte Mammut zu teilen, so dass auch die etwas abbekommen, die gerade kein Jagdglück hatten. Bis heute sind die Gesellschaften ungleicher, deren Vorfahren erste Lagermöglichkeiten entwickelt hätten.
Wenn den Menschen so viel an der Gleichheit liegt, warum gibt es dann noch so viel Armut? „Ungleichheit ist oft die Folge von Fortschritt“, schreibt Daton gleich am Anfang: „Nicht jeder wird gleichzeitig reich, und nicht jeder bekommt sofort Zugang zu den neuesten lebensrettenden Erfindungen.“ Selbst in Gesundheitsfragen sei so Ungleichheit entstanden. Die Erkenntnis, wie schädlich das Rauchen ist, hat Millionen zusätzlicher Lebensjahre gebracht – aber es sind die gebildeten Leute, die das Rauchen zuerst aufgegeben haben und darum zuerst länger leben.
Afrikanischen Kindern von heute geht es besser als englischen Kindern vor 100 Jahren. Tatsächlich ist die Menschheit auf ihrer Flucht aus Armut und Krankheit schon weit gekommen. Selbst in den armen Regionen Afrikas geht es den Kindern heute besser als in England vor 100 Jahren, jedenfalls erleben mehr Kinder ihren fünften Geburtstag. Doch Deaton macht keine Hoffnung, dass sich Ungleichheit ganz beheben lässt. Man könne eben nicht beides haben: absolute Gleichheit und ausreichende Anreize, das Richtige zu tun.
Das ist schon in der Familie so: Wenn die Eltern ihren Kindern Taschengeld fürs Aufräumen versprechen, dann bekommen die Kinder mehr, die sowieso lieber aufräumen – und die, die viel Wert auf Taschengeld legen. Wer ungern aufräumt und wem das Taschengeld nicht so wichtig ist, der wird sich weniger anstrengen. Wenn dann auch noch einige der reicheren Kinder ihr Taschengeld sparen, wächst die Ungleichheit immer weiter.
Das lässt sich nicht einfach beheben, indem die Reichen den Armen mehr Geld abgeben, glaubt Deaton. Deshalb sieht er die Armutsbekämpfung auf dem falschen Weg. „Wir müssen irgendetwas tun“, dächten die Leute in den reichen Ländern oft – dabei sei das Wichtigste, aus dem Weg zu gehen und die Armen sich selbst helfen zu lassen. Viel zu oft richtet Entwicklungshilfe mehr Schaden an, als sie nutzt. Und den reichen Ländern hat schließlich auch niemand Vorschriften darüber gemacht, wie sie sich zu entwickeln haben.
Nach Deatons Streifzug durch die Geschichte von Wachstum und Gesundheit ist seine Argumentation überzeugend: Die Industrieländer können wenig tun. Deaton nennt ein Beispiel, das dieser Tage relevant wurde: Produkte aus Entwicklungsländern leichter ins Land zu lassen und weniger Zölle zu erheben – genau das ist gerade auf der Welthandelskonferenz geschehen. Die Industrieländer können auch ihren Pharmafirmen Anreize setzen, um wirksame Mittel gegen Armutskrankheiten wie Malaria und Tuberkulose zu entwickeln. Nur eines ist der falsche Weg: Geld direkt in die armen Länder zu schicken. Länder mit guter Politik können ihre Armut selbst bekämpfen, Ländern mit schlechter Politik hilft auch das Geld nicht.
Angus Deaton: The Great Escape. Princeton University Press, Princeton 2013, 376 Seiten, 29,95 Dollar