Die Europäische Union ist das Reich kraftvoller Sprachbilder, die den Sachverhalt allerdings nicht immer zweifelsfrei ins Bild setzen. Dies gilt zum Beispiel für die Metapher vom europäischen „Fahrrad“, das immer weiter bewegt werden müsse, damit es nicht umfällt – wo doch ein Radfahrer, der nicht absteigen kann, eigentlich aus dem Verkehr gezogen werden müsste. Und wenn dem britischen Premierminister vorgehalten wird, dass er sich in einem „Europa à la carte“ die „Rosinen herauspicken“ wolle – dann weiß der womöglich gar nicht, was gemeint ist, weil der inkriminierte Sachverhalt im Englischen als „cherry picking“ bekannt ist. Und als es vor 25 Jahren um die Einführung des Euro ging, rangen nicht weniger als die „Schöpfungstheorie“ und die „Krönungstheorie“ miteinander. Mittlerweile ist eine dritte Theorie hinzugekommen: das Bild von der „Nacht“, aus der ein Kind hervorgegangen ist, das nun einmal in der Welt ist und um das man sich jetzt kümmern muss. Auch dabei ist manches nicht ganz klar: die Vaterschaft etwa, und der Zeitpunkt.
Eine verbreitete Geschichte geht zurück auf die deutsche Wiedervereinigung von 1989/90, und sie präsentiert den Euro als deutschen Preis für die französische Zustimmung zur deutschen Einheit. Eine andere Geschichte, wie sie etwa von Wolfgang Schäuble und Theo Waigel zu hören ist, bestreitet diese Verbindung. Sie geht viel weiter zurück und setzt eine organische Vaterschaft beim gescheiterten Werner-Plan im Jahr 1970 an, von dem aus sie eine direkte Entwicklungslinie zur Währungsunion zieht. In beiden Lesarten ist ein politischer Unterton nicht zu überhören. Demgegenüber wird im Folgenden eine dritte Lesart vorgestellt, die die Entstehungsgeschichte des Euro in der großen Verwandlung Europas zwischen 1988 und 1992 verortet, als ein europäischer Integrationsschub und das Ende des Ost-West-Konflikts zusammenflossen und die deutsche Frage wieder auftauchte.
Wenn auch diese Geschichte auf die frühen siebziger Jahre zurückgreift, dann tut sie dies nicht, um langfristige europapolitische Kontinuitäten festzustellen, sondern weil um 1973 eine ökonomische Zäsur in der gesamten westlichen Welt zu beobachten ist, die für alle weiteren politisch-ökonomischen Entwicklungen von grundsätzlicher Bedeutung war.
I.
Die Atombombe
Die erste Ölkrise und der endgültige Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods im Jahr 1973 waren die äußeren Anzeichen dieser Zäsur. Billiges Öl und an den Goldstandard gebundene feste Wechselkurse hatten den langen Nachkriegsboom getragen, der nun zu Ende ging. Dem Boom folgten die Krisen der siebziger Jahre, eine Verbindung von Wachstumsschwäche und Inflation sowie die Turbulenzen frei floatender Währungen. Die Westeuropäer versuchten diese Turbulenzen abzudämpfen, indem sie ihre Währungen koordinierten: zunächst durch die sogenannte „Währungsschlange“, dann seit 1979 durch das Europäische Währungssystem das Schwankungsbreiten zwischen den Mitgliedswährungen festlegte und die Zentralbanken zu gegenseitigen Interventionen verpflichtete.
Aber auch dieses System war nicht krisenfest, und das lag zuerst an volkswirtschaftlichen Ungleichgewichten, die sich in den achtziger Jahren zunehmend bemerkbar machten – vor allem zwischen Frankreich und der Bundesrepublik. Genau hier liegt das Zentrum der Geschichte des Euro.
Nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten im Jahr 1981 betrieb François Mitterrand zunächst eine expansive Ausgabenpolitik in Frankreich. Zwar vollzog er bereits 1983 unter der Leitung seines Finanzministers Jacques Delors eine Kehrtwende hin zu einer Konsolidierungspolitik. Dennoch musste der Franc in den achtziger Jahren gleich drei Mal gegenüber der D-Mark abgewertet werden. Mitterrand beklagte, Abwertungen seien „niemals gering genug, um einen Gesichtsverlust zu verhindern, und niemals groß genug, um einen wirklichen Exportvorteil zu verschaffen.“
Anders verzeichnete die Bundesrepublik unter der Regierung Helmut Kohls, die bereits nach dem Regierungswechsel von 1982 eine Politik der Haushaltskonsolidierung betrieben hatte, ein zunächst langsames, aber stetiges Wachstum, das Ende der achtziger Jahre in einen veritablen Boom überging. Die stabilitätsorientierte Bundesbank reagierte darauf mit einer Hochzinspolitik, die zugleich die europäischen Volkswirtschaften drückte und dominierte. Kohl realisierte in aller Deutlichkeit, dass der wirtschaftliche Erfolg der Bundesrepublik eine „gewaltige Kehrseite“ offenbare: „erhebliche, ganz erhebliche psychologische Verwerfungen.“
In der Tat galt die D-Mark in Paris als „Deutschlands Atombombe“. Mitterrand zog daraus den Schluss, wie er 1989 der britischen Premierministerin Margaret Thatcher gegenüber äußerte, nur die europäische Union könne die deutsche Macht eindämmen. Ohne gemeinsame Währung seien alle europäischen Staaten dem deutschen Willen unterworfen. Allein eine europäische Zentralbank, in der die Entscheidungen gemeinsam getroffen werden, mache eine Mitsprache möglich.
Wenn seit 1985 die Idee einer gemeinsamen Währung zwischen Paris und Bonn ins Gespräch kam, dann geschah das in der folgenden Konstellation: dem französischen Interesse an der Vergemeinschaftung deutscher Machtressourcen; einer bundesdeutschen Bereitschaft zur Selbsteinbindung deutscher Stärke und einer weiter gehenden politischen Union; einem britischen Interesse an Binnenmarkt und Freihandel, nicht aber an weiteren Vergemeinschaftungen; sowie einer Kommission, seit 1985 unter der Präsidentschaft von Jacques Delors, die einen europäischen Integrationsschub mit Vertrauen aus Bonn betrieb, wo Delors als französischer Stabilitätspolitiker galt.
II.
Fronten
Dabei stießen zwischen Paris und Bonn, aber auch in Bonn selbst, unterschiedliche Positionen aufeinander, die mit ebenso kraftvollen wie erklärungsbedürftigen Begriffen etikettiert waren.
Als „Monetaristen“ wurden in diesem Zusammenhang, anders als zu vermuten, nicht die Vertreter der Geldwertstabilität, sondern im Gegenteil diejenigen bezeichnet, die erst eine gemeinsame Währung schaffen wollten und als deren Folge auf ökonomische Konvergenz zwischen den Teilnehmern hofften. Entsprechend der „Lokomotiv-“ oder „Schöpfungstheorie“ mit den Institutionen zu beginnen, war vor allem die französische Haltung.
Ihr standen mit den „Ökonomisten“ die Verfechter der Geldwertstabilität gegenüber: sie wollten zuerst ökonomische Konvergenz herbeiführen und die stabilitätspolitischen Grundlagen sichern, bevor eine gemeinsame Währung diesem Prozess als „Krönung“ aufgesetzt werden konnte. Dies war vor allem die Position der bundesdeutschen Stabilitätspolitiker in der Bundesbank und im Finanzministerium.
Freilich verlief die Trennlinie zwischen diesen Positionen nicht nur zwischen Paris und Bonn, sondern durch Bonn selbst: dort trennte sie die Integrationspolitiker um Außenminister Hans-Dietrich Genscher und die Ordnungspolitiker um Finanzminister Gerhard Stoltenberg, die sich einen veritablen Machtkampf lieferten.
Mit großem Verständnis für die französischen Positionen und in enger Abstimmung mit Delors ging Genscher im Februar 1988 mit einem Memorandum in die Offensive, das eine Währungsunion mit einer unabhängigen Zentralbank, aber ohne Bedingungen einer vorausgehenden ökonomischen Konvergenz vorschlug. Damit brachte er die Bonner Ordnungspolitiker in die Defensive, die knapp drei Wochen später mit einem Gegenmemorandum Stoltenbergs antworteten und eine Währungsunion gemäß der Krönungstheorie als langfristiges Ziel adressierten, für das die Zeit freilich noch nicht reif sei.
Und der richtlinienkompetente Kanzler? Kohl selbst zögerte zunächst, zumal er noch eine andere europäische Agenda verfolgte: die politische Union. Bis heute ist dieser Begriff inhaltlich zumeist unklar. Kohl verstand darunter vor allem eine institutionelle Demokratisierung der Gemeinschaft, insbesondere die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments, um einen „demokratischen europäischen Bundesstaat“ zu schaffen. Im Zweifelsfall war Kohl eher proeuropäisch als ordnungspolitisch orientiert, denn ihm war klar: „Wir können […] gar nicht genug Freunde und Verbündete haben.“ Während er sich von Stoltenberg zu Genscher bewegte, wurde er Ende der achtziger Jahre und mehr noch nach der Wiedervereinigung zum großen Europapolitiker.
III.
Showdown
1988 gewann die Frage einer europäischen Währungsunion an Fahrt, und der Weg zur Währungsunion wurde von vier entscheidenden Stationen zwischen dem Europäischen Gipfel von Hannover im Juni 1988 und der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht im Februar 1992 gesäumt. In diesen Jahren veränderte sich Europa grundlegend, indem das Ende des Ost-West-Konflikts und die Vertiefung der europäischen Integration zusammenkamen. Dabei verstärkte sich die deutsch-französische Allianz, während die deutsch-britischen (und die kontinentaleuropäisch-britischen) Wege auseinandergingen. Margaret Thatcher hatte eine klare Vorstellung von Problemen einer weiteren europäischen Integration, aber sie hatte keine Idee für eine europäische Ordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Kohl und Mitterrand hatten eine klare Idee für eine solche europäische Ordnung, aber sie hatten keinen Sinn für die ökonomischen Probleme der weiteren europäischen Integration.
Bereits auf der ersten Station des Weges zur Währungsunion fiel unterdessen eine Vorentscheidung im Machtkampf zwischen Integrationspolitikern und Ordnungspolitikern in Bonn. Der Europäische Rat setzte in Hannover Ende Juni 1988 ein Komitee ein, dem alle Notenbankpräsidenten angehörten und das “Prinzipien für die Entwicklung eines europäischen Währungsraums und ein Statut für die Errichtung einer Europäischen Zentralbank“ entwerfen sollte. Auf Betreiben Kohls fiel seine Leitung dabei nicht, wie im Vorfeld ventiliert, an den grundsätzlich skeptischen Bundesbankpräsidenten Pöhl, sondern, wie im Vorfeld arrangiert, an Kommissionspräsident Delors. So führte die Einrichtung einer Kommission nicht zum Ruin der Idee einer Währungsunion, sondern nahm die Skeptiker ins Boot, aus dem sie nicht mehr herauskamen – zumal das Komitee sich gegen alle Erwartungen Pöhls auf die Einrichtung einer unabhängigen, auf Geldwertstabilität verpflichteten Zentralbank nach dem Vorbild der Bundesbank einigte.
Der Delors-Bericht wurde – zweite Station – vom Europäischen Rat in Madrid Ende Juni 1989 angenommen. Damit war die Währungsunion grundsätzlich beschlossen, aber nicht unumkehrbar. Denn der Bericht ließ wesentliche Fragen (die engere Koordinierung der Wirtschaftspolitiken, die Einrichtung der Zentralbank und die Festlegung fixer Wechselkurse) offen, die eine Regierungskonferenz erforderten. Die Einsetzung der Regierungskonferenz wurde im Herbst 1989 zur zentralen Frage und zum Gegenstand eines offenen Konflikts zwischen Paris und Bonn. Die Währungsunion stand, so schien es in Paris, auf Messers Schneide – und dann kam auch noch die deutsche Frage hinzu.
Joachim Bitterlich, Referatsleiter für die Europäische Einigung im Bonner Kanzleramt, stellte die unterschiedlichen Positionen folgendermaßen gegenüber: Erstens gehe es Mitterrand „in den nächsten Jahren in erster Linie und vor allem um die Wirtschafts- und Währungsunion – sie ist für die verbleibenden Jahre seiner Amtszeit das Ziel schlechthin. Die anderen Fragenkomplexe haben für ihn e[ine] Nebenrolle.“ Für Bonn hingegen standen Währungsunion und politische Union auf der gleichen Stufe. Zweitens legte Bonn besonderen Wert auf Stabilitätssicherung, während Mitterrand der schnellen Herbeiführung der Währungsunion Vorrang gab. Und daraus resultierte drittens eine Differenz in Verfahrensfragen, die mehr waren als Verfahrensfragen: während Bonn erst Sachprobleme herausarbeiten und dann Verhandlungen führen, mithin erst Ende 1990 über die Einberufung einer Regierungskonferenz entscheiden wollte, bestand Mitterrand auf einem verbindlichen Beschluss zur Einsetzung der Regierungskonferenz auf dem Europäischen Rat in Straßburg, der für den 8. und 9. Dezember 1989 angesetzt war.
Mitterrand meinte auch verstanden zu haben, dass Kohl ihm dies zugesagt habe. So herrschte Ende Oktober an der Seine zunehmende Besorgnis, Kohl ziehe die Unterstützung zurück. Und dann kam nach dem Fall der Mauer am 9. November auch noch die deutsche Frage ins Spiel. Jetzt wurde das Problem für Paris erst recht ein Problem. Das Ergebnis war ein wahrer Showdown an zwölf Tagen zwischen dem 27. November und dem 8. Dezember 1989.
Am 27. November schrieb Kohl einen Brief an Mitterrand, der im Élysée-Palast wie eine Bombe einschlug. Zunächst äußerte der Kanzler seine „besondere Sorge“ über die „Tatsache, daß […] nach wie vor innerhalb der Gemeinschaft große Differenzen in der Stabilitätsentwicklung bestehen, die sich evtl. sogar noch vergrößern können. Dies hat seine Ursache in den nach wie vor hohen Haushaltsdefiziten einiger Mitgliedsstaaten.“ Er legte dem Brief zudem einen „Arbeitskalender“ bei, demzufolge auf dem Gipfel in Straßburg die Vorbereitungen für eine Regierungskonferenz in Auftrag gegeben werden könnten, über die Einsetzung der Regierungskonferenz aber erst ein Jahr später entschieden werden solle.
Diesem ersten Schlag ins Pariser Kontor folgte keine 24 Stunden später der nächste, als Kohl am 28. November – ohne jede Vorabsprache mit anderen Regierungen – sein Zehn Punkte-Programm „zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ im Deutschen Bundestag vorstellte und damit die deutsche Frage auf die politische Agenda setzte. In Paris herrschte Alarmstufe Rot über die incertitudes allemandes.
Dies bekam Genscher bei einem Gespräch mit Mitterrand am 30. November zu spüren. Das Protokoll spricht von „insistierenden Wiederholungen“, die sich als unverhohlene Drohungen verstehen lassen: „Wenn die West-Integration stehen bleibe, gehe sie zurück. Wenn sie zurückgehe, würden die Verhältnisse in Europa grundlegende Änderungen erfahren und neue privilegierte Bündnisse entstehen. Es sei sogar nicht ausgeschlossen, dass man in die Vorstellungswelt von 1913 zurückfalle.“ Und um auf keinen Fall missverstanden zu werden, legte Mitterrand noch nach: „Wenn Deutschland sich, um die DDR vergrößert, im europäischen Gesamtverband bewegt, wird sie in der Europäischen Gemeinschaft Freunde haben, sonst nur Partner mit eigenen Reflexen. Die einzelnen Länder, auch Frankreich, werden sich dann wieder unmittelbar an die Sowjetunion wenden.“
Man kann sich die Tage zwischen dem Zehn-Punkte-Programm und dem Straßburger Gipfel kaum turbulent genug vorstellen: während es Kohl mit dieser Initiative innenpolitisch und innerdeutsch gelungen war, die Führung im beginnenden Wiedervereinigungsprozess an sich zu ziehen, schlug Bonn aus den internationalen Hauptstädten ein Sturm der Entrüstung über dieses unabgesprochene Vorgehen entgegen – der sowjetische Außenminister Schewardnadse hielt Genscher sogar vor, so etwas habe sich „nicht einmal Hitler erlaubt“.
Hinzu kamen der sowjetisch-amerikanische Gipfel vor Malta und ein NATO-Gipfel in Brüssel, obendrein wurde zwei Tage nach dem Zehn-Punkte-Programm auch noch Alfred Herrhausen ermordet, mit dem Kohl ein enges persönliches Verhältnis verbunden hatte. Und dann eben noch der Gipfel in Straßburg mit der ungeklärten, aber weitreichenden Zentralfrage der Einsetzung der Regierungskonferenz.
Noch am 3. Dezember empfahl Bitterlich dem Bundeskanzler, an der deutschen Linie in Straßburg festzuhalten. Am 5. Dezember aber schrieb Kohl an Mitterrand, der Straßburger Gipfel solle beschließen, dass die Regierungskonferenz in einem Jahr eröffnet werde. Das war die Entscheidung, das war die entscheidende deutsche Konzession.
Am 8. Dezember beschloss der Europäische Rat in Straßburg die Einsetzung der Regierungskonferenz, die ihre Arbeit ein Jahr später aufnehmen solle. Zugleich wurde die politische Union zurückgestellt, während der Europäische Rat sich für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen aussprach und damit grünes Licht für eine deutsche Wiedervereinigung gab.
Der Straßburger Gipfel markierte die dritte und entscheidende Station auf dem Weg zur Währungsunion. Dieser Weg hatte vor Straßburg, vor der Wiedervereinigung begonnen. Insofern war die Zustimmung zur Währungsunion an sich keine deutsche Konzession für die französische Zustimmung zur Wiedervereinigung – im Gegenteil: eine entscheidende Initiative, die Initiative Genschers, kam aus Bonn. Aber: die heraufziehende Wiedervereinigung, der politische Druck nach dem Mauerfall und dem Zehn-Punkte-Programm, veränderte die deutsche Verhandlungsposition, und sie nötigte Bonn zu Konzessionen, die Kohl sonst so wohl nicht gemacht hätte: erstens die Zurückstellung der politischen Union hinter die Währungsunion; zweitens die frühe Festlegung auf den entscheidenden Schritt zur Währungsunion, die Einsetzung der Regierungskonferenz; und damit drittens ein stärker „monetaristisches“ Verfahren unter Hintanstellung stabilitätspolitischer Sicherungen – mit dem Zusatz freilich, dass die Festlegung auf eine unabhängige, der Geldwertstabilität verpflichtete Zentralbank allgemein als entscheidendes Zugeständnis an die Deutschen angesehen wurde.
Dass es sich nichtsdestoweniger um ein deutsches Entgegenkommen handelte, wusste Kohl sehr genau: „Er frage sich, was er denn noch mehr tun könne, als beispielsweise die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion mitzutragen“ – so Kohl vier Tage nach dem Straßburger Gipfel gegenüber dem amerikanischen Außenminister James Baker. „Diesen Entschluss habe er gegen deutsche Interessen getroffen. […] Aber der Schritt sei politisch wichtig, denn Deutschland brauche Freunde.“
Das Ergebnis von Maastricht zwei Jahre später war eine Währungsunion ohne weitergehende politische Union, in der auch die fiskal- und strukturpolitische Dimension im Sinne einer Fiskalunion oder Wirtschaftsregierung institutionell nicht weiter ausgestaltet wurde. Stattdessen beruhte die Währungsunion auf einer unabhängigen Zentralbank und einem System von ordnungspolitischen Regeln für die Einzelstaaten: den Konvergenzkriterien für den Beitritt (Obergrenzen der öffentlichen Verschuldung, Stabilität des Preisniveaus und des Wechselkurses, Zinssätze langfristiger Staatsanleihen innerhalb eines bestimmten Rahmens) und weiteren stabilitätspolitischen Regelungen (dem Verbot übermäßiger Haushaltsdefizite, dem Verbot der Staatsschuldenfinanzierung durch Zentralbanken sowie dem Haftungsausschluss). Die Währungsunion war mithin explizit nicht als Transferunion beschlossen. Auch der europäische Kohäsionsfonds blieb weit hinter diversen Wünschen und hinter den Volumina dessen zurück, was innerhalb der Nationalstaaten umverteilt wird.
Schließlich blieb die Frage, ob die Gemeinschaftswährung zu einem festen Stichtag eingeführt werden solle oder ob ihr Start vom Fortgang des Konvergenzprozesses abhängig sein solle, in der einmal mehr „monetaristische“ und „ökonomistische“ Argumentationen aufeinanderstießen. Kohl entschied bei den Verhandlungen in Maastricht im Dezember 1991 – offenbar ohne Rücksprache mit Bundesbank und Finanzministerium – zugunsten des fixen Einführungsdatums bis spätestens 1999 und somit abermals zugunsten eines „monetaristischen“ Vorgehens. Die Unumkehrbarkeit der Einführung hatte Vorrang vor der unbedingten Stabilitätsgarantie.
Die Frage, wie langfristige Stabilität innerhalb der Währungsunion zu garantieren sei, begleitete den weiteren Prozess bis zur Einführung des Euro. Um die Stabilitätskriterien für den Beitritt auf Dauer zu stellen, erreichten Bundesbank und Bundesfinanzministerium schließlich den Stabilitätspakt von 1996/97, der Obergrenzen für Haushaltsdefizite von 3% und für die öffentliche Gesamtverschuldung von 60% des BIP einführte, allerdings weniger weit reichende Sanktionsmechanismen vorsah als von deutscher Seite gewünscht. Dabei enthüllt der Stabilitätspakt ein deutsches Spezifikum im gesamten Zusammenhang der Währungsunion: die Orientierung an vertragsrechtlichen Regeln.
Das war das eine. Das andere war der Primat der Politik. Und der kam abermals zum Tragen, als es 1998 um die konkrete Einführung des Euro ging. Der Zentralbankrat der Bundesbank äußerte in seiner Stellungnahme vom 26. März 1998 erhebliche Skepsis gegenüber der Teilnahme Belgiens und Italiens (Griechenlands ohnehin). Die entscheidenden Sätze aber lauteten: „Vor dem Hintergrund der erreichten Konvergenzfortschritte in vielen Mitgliedstaaten und nach Abwägung der noch bestehenden Probleme und Risiken erscheint der Eintritt in die Währungsunion ab 1999 stabilitätspolitisch vertretbar. […] Die Auswahl der Teilnehmer bleibt letztlich […] eine politische Entscheidung.“ Wie diese politische Entscheidung ausfiel, ist bekannt.
Damit sind wir bei der Einführung des Euro angekommen, und bei der ersten von fünf Schlussfolgerungen.
IV.
Konsequenzen
Erstens: es gab den Primat der Politik. Die Währungsunion war ein ökonomisches Projekt zu politischen Zwecken: Sicherheit vor Deutschland bzw. Vergemeinschaftung deutscher Machtressourcen auf französischer Seite, Selbsteinbindung Deutschlands und europäische Integration als Ziel an sich auf Seiten Genschers und Kohls, wobei die politischen Motive den Vorrang vor ökonomischen Argumenten besaßen. Und was den politischen Prozess betrifft, so wurde die europäische Integration im Allgemeinen und die Einführung des Euro im Besonderen von einer kleinen Gruppe von Akteuren in den Zentren der nationalen Exekutiven und in Brüssel betrieben, während Partikulargewalten und Lobbygruppen, ökonomische Expertise oder die nationalen Öffentlichkeiten faktisch nicht einbezogen wurden. Und auch die sogenannten Veto-Spieler wie die Bundesbank und das Bundesverfassungsgericht in Deutschland erhoben zwar stets Bedenken. Sie legten aber gerade kein Veto ein, sondern erkannten letztlich immer den Primat der Politik an.
Zweitens: die deutsche Wiedervereinigung hatte Auswirkungen auf die europäische Währungsunion. Im entscheidenden Moment, vor dem Gipfel von Straßburg im Dezember 1989, schränkte die heraufziehende Wiedervereinigung die deutsche Verhandlungsposition in der Frage der Währungsunion ein, weil die Bundesrepublik nun zusätzlich die Zustimmung für die Wiedervereinigung benötigte. Bonn musste die politische Union zurückstellen, sich früher als geplant auf die Regierungskonferenz festlegen und sich stärker als geplant auf das „monetaristische“ Verfahren einlassen.
Nicht die Währungsunion an sich war die deutsche Konzession für die Wiedervereinigung, sondern der Verzicht auf eine stärker ordnungspolitische Ausgestaltung. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Ordnungspolitiker in Bonn gegenüber den Integrationspolitikern schon vor 1989 in die Defensive geraten waren – und dass der Kompromiss von Maastricht, v.a. die Regelung der Zentralbank, in Europa als Triumph der deutschen Stabilitätspolitik angesehen wurde.
Ob eine stärker ordnungspolitische Ausgestaltung die Tragfähigkeit der Währungsunion grundlegend verändert hätte, ist wieder eine andere Frage. Denn gerade aus heutiger Sicht ist deutlich erkennbar, dritte These, dass die institutionellen Regeln der Währungsunion mit grundlegenden politisch-kulturellen Differenzen in Europa kollidieren: was für den Norden, was v.a. für Deutschland der Primat der Verträge und des Rechts, ist für Frankreich und den Süden der Primat der Politik; was für Deutschland die Stabilität der Währung, ist für Frankreich der Sozialstaat; und schließlich ist das Trauma der Deutschen die Inflation, das der Franzosen hingegen die deutsche Dominanz. Und wenn, um ein anderes Beispiel zu nennen, der Solidarismo in Italien eine Kultur der „Vergemeinschaftung von Leistung und Verdienst ebenso wie von Verantwortung und Schuld“ (Christiane Liermann) hervorbringt, dann steht dies im direkten Gegensatz zur angelsächsischen Vorstellung, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Diese Differenzen waren der Europapolitik des Integrationsschubs, waren auch Helmut Kohl durchaus bewusst, aber gerade Kohl hat sie am Ende nonchalant zur Seite geschoben.
Das führt zur vierten These, dass die Wiedervereinigung die integrationspolitische Bereitschaft der politischen Eliten in Deutschland noch einmal deutlich verstärkt hat. „Um die Ängste […] ringsum in der Nachbarschaft abzubauen“ – so Kohl im März 1992 – „gibt es nur eine wirkliche Chance: Das ist die volle Integration, die Politische Union in Europa, und zwar die Wirtschafts- und Währungsunion ebenso wie die Politische Union.“ Ein politisches Projekt von solcher Tragweite ohne verlässliches Wissen über die notwendigen Voraussetzungen einer funktions- und tragfähigen Währungsunion und gegen vielfältige ökonomische Expertise durchzusetzen, ist ein enormer Kraftakt. Um ihn durchzustehen, dürfen handelnde Politiker nicht permanent ins Zweifeln geraten, sondern sie müssen sich ihrer Sache sicher machen. Dazu verwenden sie komplexitätsreduzierte Bilder und Rechtfertigungsnarrative mit eindeutigen Gegensätzen: „Die Alternative“ zur europäischen Währungsunion, so Kohl im Oktober 1990, „heißt zurück zu Wilhelm II., das bringt uns nichts“ – oder: „Die Frage des Baus des europäischen Hauses unter irreversibler Einbindung des mit Abstand stärksten Landes, Deutschland, ist die Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert.“
Krieg und Frieden – rückwärts oder nach vorn – dafür oder dagegen: mit diesen dichotomischen Mustern öffentlicher Rede hat die deutsche Europapolitik seit den neunziger Jahren etabliert, was Hans Joas die „Sakralisierung Europas“ genannt hat. Dass diese Gewissheiten inzwischen von der Realität eingeholt und in Frage gestellt werden, erklärt auch die Gereiztheit der gegenwärtigen Debatten in Deutschland.
Denn die europäische Einbindung Deutschlands war nicht zuletzt ein Projekt der Generation Kohls und Genschers: Nie wieder Krieg, nie wieder deutsche Vormacht in Europa. 2013 bleibt nur die nüchterne Erkenntnis: die deutsche Dominanz ist wieder da, ohne dass die Deutschen sie gewollt hätten – selbst zwei Weltkriege, zwei Inflationen, die Ermordung der europäischen Juden und Vertreibung weiter Teile der deutschen Eliten, eine sozialistische Diktatur und die Belastungen der Wiedervereinigung konnten sie nicht dauerhaft zurückdrängen.
Was auch immer über den Bedeutungsverlust der Einzelstaaten gesagt wird: gerade die Euro-Krise hat gezeigt, dass – fünftens – die nationalen Exekutiven die entscheidenden politischen Größen sind, die an Macht noch gewonnen haben, und dass die deutsche Frage, die Frage der deutschen Stärke nach wie vor eine, wenn nicht die Zentralfrage in Europa ist. Hier liegt im Übrigen nachgerade die Tragik des Euro aus französischer Perspektive: Mitterrand hat bekommen, was er wollte, aber es hat das Problem nicht gelöst – im Gegenteil.
Eindeutig wie selten sind wir in der Euro-Frage mit dem Umstand konfrontiert, dass die Analyse der Entstehung eines Problems faktisch nichts zu seiner Lösung beiträgt. Insofern ist das Bild von dem Kind, das nun einmal da ist, durchaus zutreffend: Der Euro ist da, und es gibt kein einfaches Zurück auf Los, etwa vor den Gipfel von Hannover 1988. Zugleich ist auch diese Metapher ein Instrument der politischen Sprache, das nicht nur Verantwortung verschleiert, sondern auch Optionen ausschließt. Nach wie vor wird keine wirklich offene Debatte darüber geführt, welche Lösung für Europa und die einzelnen Beteiligten am besten wäre.
Hinzu kommt, dass die Weltfinanzkrise von 2008 fundamentale politisch-ökonomische Konfusion hinterlassen hat, wie sich etwa an der Einschätzung von Mario Draghis Politik des „whatever it takes“ zeigt: was Ordnungspolitiker als nicht rückholbaren Sündenfall beklagen, begrüßen andere Liberale als entscheidendes Instrument, mit dem es im Gegensatz zur vorherigen Rettungspolitik gelungen ist, die Märkte zu beruhigen.
Die Krisen haben Routinen zerstört, und neue zeichnen sich noch nicht ab. Es fehlt an verlässlichem Orientierungswissen, und gerade die Geschichte der Euro-Einführung hat gezeigt, wie problematisch es ist, auf einer solchen Grundlage weitreichende politische Veränderungen durchzusetzen. Insofern ist ein realistisches, pragmatisches piecemeal engineering wahrscheinlich die angemessenste Reaktion.
Auch dann wird Europa freilich in zwanzig Jahren ganz anders aussehen als heute, ganz anders aber auch, als wir uns heute vorstellen, wie es in zwanzig Jahren aussehen wird. Denn die Geschichte der Entstehung des Euro führt uns eine Grunderfahrung des modernen Menschen vor Augen: er kann Kräfte entfesseln, aber er kann sie nicht beherrschen.