„De gustibus est disputandum“ hatte Theodor W. Adorno in seinen „Minima Moralia“ (1951) eine Sentenz überschrieben: Über Geschmack lässt sich streiten. Ökonomen sind meist gegenteiliger Ansicht und vertreten die Auffassung des überkommenen Sprichworts, wonach die Geschmäcker der Menschen verschieden sind und man sich als Wissenschaftler besser nicht einmischen sollte. „Revealed Preferences“, heißt sinnigerweise das theologisch klingende Konzept, wonach die Präferenzen der Menschen wie die Offenbarung Gottes vom Himmel gefallen sind und es geboten ist, diese Vorlieben der Menschen nicht zu hinterfragen. Es sind die Präferenzen des einzelnen Bürgers, die in den Modellen der Ökonomen seine Entscheidungen bestimmen. Er maximiert seinen Nutzen gemäß seiner Präferenzen.
Menschen, die nicht schon als Ökonomen auf die Welt gekommen sind, fanden dieses Konzept der starren Präferenzen immer schon wunderlich und wenig plausibel. Der Alltagserfahrung viel näher kommt der Verdacht, dass Präferenzen sich ändern je nach Umgebung, in der wir gerade leben, oder nach der Rolle, die wir gerade spielen. Präferenzen befinden sich im Wettstreit nicht nur inter-, sondern auch innersubjektiv: Der Gelegenheitsraucher sucht langfristig Gesundheit und kurzfristig Genuss und leidet durch diesen inneren Widerspruch ständig an sich selbst. Kognitive Dissonanzen pflegt man solche Widersprüche vornehm zu nennen.
Carl Christian von Weizsäcker, einer der anregendsten Ökonomen, die man in Deutschland treffen kann, hat jetzt bei einem Symposion aus Anlass des 70. Geburtstags von Bertram Schefold – auch Schefold gehört wie von Weizsäcker in die Kategorie äußerst anregend und stupend gebildet – aus der Abkehr vom Homo Oeconomicus mit festen Präferenzen eine Theorie des Fortschritts entwickelt und sie zugleich mit Sozialwissenschaftlern der späten Frankfurter Schule (Rainer Forst) diskutiert. Ich referiere zunächst in groben Zügen (und ohne Mathematik) Weizsäckers Position, um daraus ein paar kritische Folgerungen abzuleiten.
Weizsäckers provozierende These lautet in Kurzform: Der Staat (das politische System) ist zentralistisch, konservativ, träge und innovationsavers. Der Fortschritt muss von woanders her kommen, aus dezentralen Systemen. Als dezentral operierende Kandidaten, die Neues schaffen, bieten sich an: die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft. Dass Präferenzen nicht statt sind, ist, so gesehen, ein Segen. Von Weizsäcker: „Es gibt in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in den Künsten den Präferenz-Entrepreneur.“ In der Wirtschaft führt er unter Inkaufnahme von Kosten ein neues Produkt in den Markt ein und nimmt dabei ein hohes Risiko auf sich. Denn die Präferenzen der Leute (und damit die Nachfrage) hätten ihn eigentlich von seinem Vorhaben abbringen müssen. Das Wagnis ist riskant, weil die Präferenzen der Menschen nicht auf dieses Produkt gerichtet sind: Sie kennen es ja noch gar nicht und leben nach der Devise „Was der Bauer nicht kennt…“.
Weizsäckers Held ist Steve Jobs. An ihm kann man sehen, was Innovation ist und wie neue Präferenzen entstehen. Ohne Steve Jobs hätten wir heute weder iPhone noch iTunes. Hätte man vorher die Menschen nach ihren Präferenzen gefragt, hätte niemand dafür votiert. Einmal in der Welt, wollen es aber plötzlich alle haben und der Hype ist groß. Erst kommt das Neue. Wenn es überzeugt, ändern die Leute ihre trägen Präferenzen. Dabei hätte man denken können, es sei umgekehrt: Erst verändern sich die Präferenzen – und dann bietet die Wirtschaft dafür Produkte und Lösungen an. Weizsäcker weiß natürlich, dass der Ahnherr der Erfindung dieser Präferenz-Unternehmer Josef Schumpeter heißt. Wirtschaft und Wissenschaft kommen auf Ideen, auf die vorher keiner gekommen ist – erst recht nicht das politisch-demokratische System.
Die Präferenzen lieben den Status quo
Daran sieht man: Präferenzen sind konservativ, sie lieben den jeweiligen Status quo. Die Mathematik dazu kann man sich bei Weizsäcker angucken. Er liefert aber auch eine quasi-pädagogische Begründung, die darauf hinaus läuft, dass Präferenzen durch Imitation entstehen. Eltern und Lehrer wollen den Kindern Haltungen („Präferenzen“) beibringen, die dann funktionieren, wenn es gelingt, dass die Kinder sich die Eltern zum Vorbild nehmen. Daraus folgert v. Weizsäcker, dass Präferenzen adaptiv sind. Das ist ein zentraler Begriff der Theorie flexibler Präferenzen. Wer will, dass seine Kinder im Erwachsenenalter gerne lesen oder gerne bergsteigen oder gerne musizieren, der veranlasst sie schon der Kindheit zu lesen, bergzusteigen oder zu musizieren. Wären die Präferenzen von Kindern anti-adaptiv, würden sie später umso weniger lesen, je mehr sie zum Lesen angeleitet worden sind (dass es solche Fälle auch gibt, will man nicht ausschließen). Dass also die Präferenzbildung auf Imitation beruht, erklärt ihre konservative Struktur. Weil Präferenzen so starr sind, ist der Fortschritt eine Schnecke, gibt es so wenige Revolutionen und kommt Veränderung nach Karl Popper eher vom „Piecemeal-Egineering“, dem Weg der kleinen Schritte.
Weizsäcker will das Konzept der adaptiven Präferenzen auch auf die Normbildung (die Veränderung von Werten oder Regeln in einer Gesellschaft) ausdehnen. Dann läuft die Theorie der adaptiven Präferenzen auf den Slogan der „normativen Kraft des Faktischen“, hinaus, ebenfalls eine konservative Kraft. Denn auch normativ ändern sich die Präferenzen, wie Weizsäcker am Boom der Umweltwerte zeigt. Weil im Lauf der letzten Jahrzehnte Schritt um Schritt die Rechte der Umweltschädiger beschnitten und die Rechte der von Umweltschäden Betroffenen gestärkt wurden, kippen allmählich auch die Präferenzen der Leute in Richtung Umweltschutz, weshalb für Politiker eine staatliche Umweltpolitik plötzlich attraktiv wird, die wiederum Auswirkungen auf die moralischen Rechtsnormen der „Nachhaltigkeit“ hat. Auch hier entwickeln sich also die Präferenzen als Folge einer veränderten Rechteverteilung, anstatt dass die Rechteverteilung von veränderten Präferenzen erzwungen würde. Und abermals ist hier der konservative, unflexible-zentrale Staat nicht Treiber, sondern Nachläufer auf der Suche nach politischem Profit.
Dass Rainer Forst, Philosoph am Frankfurter Exzellenzcluster Normative Ordnungen, in Weizsäckers Konzept der Staat zu schlecht und die Wirtschaft zu positiv wegkommen, überrascht nicht. Überzeugend daran ist daran sowohl der Gedanke, dass es auch sein kann, dass die dezentrale ökonomische Innovation Probleme (und nicht nur guten Fortschritt) mit sich bringen kann, die dann gesellschaftliche Rechtfertigungsnarrative (ein Lieblingsbegriff der neuen Frankfurter Schule) provozieren, die die Wirtschaft selbst nicht erzeugen kann: Erzählungen für die Legitimität oder Illegitimität normativer Ordnungen. Weizsäcker selbst nimmt die Werbung als Beispiel für adaptive Präferenzen, ein Vorgang, der als Manipulation beschrieben, tatsächlich das kritische Korrektiv erzwingt und nicht automatisch die im Sinne der Werbung als wünschenswerten angesehenen Haltungen und Präferenzen.
Volker Caspari, ein an der TU Darmstadt lehrender Ökonom, ließ sich von Weizsäcker zu der Frage anregen, warum die Wirtschaftsgeschichte sich nie mit „Bewegungsgesetzen von Präferenzen“ beschäftigt hat. Die ganze Geschichte der Industrialisierung wird immer nur beschrieben als technische und ökonomische Revolution aber nie als Präferenz-Revolution. Caspari sieht nur eine Ausnahme: Jan de Vries: The industrious revolution: consumer behavior and the household economy, 1650 to the present, ein 2008 erschienenes Buch, beschäftigt sich mit den veränderten Lebensgewohnheiten der Menschen nach der Erfindung von Herd, Licht (eine Verlängerung der Arbeitszeit) oder Baumwollkleidung und die daraus sich ergebende Definition von Freizeit und Arbeit.
Einfallstor für den Paternalismus
Die Grundsatzfrage allerdings wurde auf dem Symposion nicht gestellt: Was gibt man auf, wenn man die Idee stabiler Präferenzen aufgibt? Auch der Homo Oeconomicus wusste immer schon, dass er nicht perfekt ist. Er weiß auch, dass er Fehler macht und ist bereit zu lernen. Ebenso ist ihm bewusst, dass konsistente Entscheidungen zu fällen, keinesfalls bedeutet, sich immer gleich zu entscheiden. Mit anderen Worten: Der Homo Oeconomicus ist klüger und flexibler als viele es heute wahrhaben wollen. Ob man also die Idee „stabiler Präferenzen in wechselnden Bedingungen“ – wie das mein Kollege Patrick Bernau nennt – allzu rasch aufgeben sollten, wäre noch einmal zu bedenken. Mehr noch, das deutet von Weizsäcker selbst an, bietet das Konzept veränderlicher Präferenzen ein willkommenes Einfallstor für den Paternalismus, er mag sich so„libertarian“ tarnen wie er will – es läuft immer auf Manipulation und Social Engineering hinaus. Kohorten von Verhaltensökonomen haben längst begonnen, die Designs zu zimmern, mit denen sie unsere Präferenzen in die „richtige“ nämlich von ihnen gewünschte Richtung lenken. Das letzte Wort über die „revealed preferences“ scheint mir also noch nicht gesprochen (anregend dazu auch Jilles Saint Paul: The Tyranny of Utility. Behavioral Science and the Rise of Paternalism. Princeton Univ. Press 2011).
P.S:
Das Symposion zu Ehren von Betram Schefold klang aus mit einer Laudatio seines Schülers Volker Caspari. Schefold, ein Homme de Lettres ist nicht nur eine überragender Theoriegeschichtler und Dogmenhistoriker, sondern zugleich auch ein glänzender Mathematiker: Er hat Mathematik, Physik, Philosophie und Volkswirtschaftslehre studiert. Mit Carl Christian von Weizsäcker verbinden ihn Lehrjahre beim legendären Edgar Salin in Basel, von wo aus man mit deutlicher Distanziertheit rheinabwärts nach auf die Freiburger Ordos blickte. In der Debatte über die Präferenzen war es Schefold, der kognitive Dissonanzen bereits bei den Unterschieden zwischen epikureischen und stoischen Präferenzen festmachte. Caspari charakterisierte Schefolds Vorlesungen mit den Worten eines seiner Studenten als „Kontrastprogramm zu den Predigten der Maser of Business Apocalypse“ und ihn als ungewöhnlichen akademischen Hochschullehrer, wie er heutzutage selten geworden ist. Wenige wissen im übrigen, dass Schefold – begründet in der Basler Geschichte seines Vaters, des Archäologen Karl Schefold – vierzehn Jahre lang Vorsitzender der Stefan George Gesellschaf war (und von 1995 bis 2009 das Stefan George Museum in Bingen aufbaute). Mehr dazu kann man in der Geschichte des George-Kreises von Ulrich Raulff nachlesen. Caspari nannte Schefold einen Meister des Gedichtsvortrags und erzählte von den Lesegruppen, die sich um ihn scharen.