Im Kern des Liberalismus steht der Mensch
Von Karen Horn
Denkanstöße sind eine feine Sache. Der Liberalismus hat davon nicht nur eine Menge auf Lager; er kann sie wie jede politische Philosophie auch selber gut gebrauchen. Wie ich deshalb in meiner Rezension Lisa Herzog nachdrücklich beipflichtend schon schrieb, gibt es in der Tat thematische blinde Flecke des Liberalismus, die dringend behoben werden sollten – von der Frage der Macht bis hin zum Umgang mit der Umwelt und der „sozialen Gerechtigkeit“. Die Augen zu verschließen vor den zum Teil alten, aber auch immer wieder neuen Herausforderungen und Spannungen, die eine Ordnung der Freiheit mit sich bringt, wäre ein Zeichen von ideologischer Borniertheit.
Wenn es also darum geht, den Liberalismus, der vielleicht ein wenig glanzlos geworden ist, gründlich zu entstauben und zu polieren, dann besteht der erste Schritt darin, sich zu überlegen, was den Kern dieser politischen Philosophie ausmacht. Ganz klar: der Mensch. Man traut sich kaum noch, diese Prämisse mit dem Wort vom „Individualismus“ zu verknüpfen, weil einem dann der populistische Vorwurf droht, man sehe den Menschen isoliert von seinem sozialen Umfeld, seinen Mitmenschen und seiner Kultur, als „Leibnizsche Monade“. Ich will diesen Begriff trotzdem verwenden. Denn in der liberalen Tradition bedeutet „Individualismus“ nur, dass man sich der Frage, wie ein Gemeinwesen tunlichst zu sortieren sein mag, nicht organisch von oben nähert, sondern aus dem Blickwinkel des Menschen – und zwar des einzelnen. Jedes einzelnen. Alles andere ist eine diffamatorische Unterstellung, über die man sich nur wundern kann. Hier handelt es sich auch mitnichten um einen „egoistischen Freiheitsbegriff“, wie Anton Hofreiter meint. Die Abwehrrechte gegenüber der potentiell diktatorischen Mehrheit, die sich aus ihm herleiten, dienen den anderen nicht weniger als mir selbst. Der „Andere“, um den wir uns sorgen, wäre im abstrakten Kollektiv verloren.
Im Liberalismus zählt die kleinste Einheit: der Mensch, dem seine natürliche Freiheit belassen sein möge, er selbst zu sein, im Rahmen seiner Möglichkeiten, mit seinen Stärken, aber auch seinen Schwächen und Mängeln. Im Zentrum steht eben nicht das von Ideologen überhöhte und romantisch, mitunter auch nationalistisch aufgeladene Kollektiv, in dem der einzelne auch mal geopfert wird. Wer kennt ihn nicht, den pathetischen Satz aus John F. Kennedys Antrittsrede: „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt.“ Dem ersten Halbsatz vermag ein Liberaler noch zu folgen. Beim zweiten Halbsatz indes wird ihm ungemütlich.
Im Liberalismus genießt Lieschen Müller Priorität, nicht Deutschland, nicht ihre Wohngemeinde Hintertupfingen oder ein anderes sie umgebendes Kollektiv. Was nicht heißt, dass ihr Land und ihr Dorf nicht wichtig für sie sind; schon gar nicht deren Politik. Aber die Gesetze, die im politischen Prozess dieses Gemeinwesens entstehen, sollen Lieschen Müller und jedem anderen Individuum dienen und nicht umgekehrt. Es ist nicht Lieschen Müllers Berufung, sich einem platonischen Ideal unterzuordnen. Im Liberalismus ist jeder einzelne wertvoll, so wie er ist und wie er leben will. Es gibt keinen Grund, seine Interessen, wenn sie denen anderer Menschen widersprechen, zu ignorieren. Jeder hat Rechte. Und zwar die gleichen. Von ihm aus ist Politik zu denken und zu begründen.
Das Gegenteil vom Individualismus ist der Kollektivismus. Hier werden die Ziele des abstrakten Kollektivs über die Ziele der einzelnen Menschen gestellt. Nach denen fragt keiner. Kollektivismus mündet automatisch in eine Beschneidung der Rechte der einzelnen, in die Willkür der einen über die anderen. Das ist es, wovor Liberale, seit es sie gibt, nimmermüde warnen und warnen müssen.
Kollektivismus bedeutet nicht nur eine Geringschätzung des einzelnen und seiner persönlichen Ziele. Kollektivismus bedeutet auch gesellschaftliche Koordination mittels zentraler Planung, mithin Ergebnisorientierung statt Prozessorientierung. Zentrale Planung aber verstopft systematisch die spontanen sozialen Koordinationsprozesse, ob diese nun in der ökonomischen Sphäre ablaufen oder woanders. Um den „Markt“ in diesem engeren Sinne geht es hier übrigens gar nicht, weshalb der gänzlich ungeregelte „freie Markt“ auch erst recht keine „Heilige Kuh“ der ja nicht bloß ökonomisch denkenden Liberalen sein kann, von der Geschmacklosigkeit der Metapher mit ihrem impliziten Vorwurf des Irrglaubens einmal abgesehen. Mit Glauben, auch dem womöglich rechten, sollte politische Philosophie möglichst wenig gemein haben. Eher schon mit Analyse und Erkenntnis.
Der Kollektivismus reklamiert ein Primat der Politik, die Dinge gesamthaft zu regeln, im Vorrang gegenüber ungeplanten dezentralen individuellen Lösungen, selbst wenn diese Planung sowohl Freiheitsrechten als auch der schieren Zweckmäßigkeit widerspricht. Liberale hingegen, die mit Friedrich August von Hayek das Problem des konstitutiven Nichtwissens des Menschen ernst nehmen und ihm mit größter Demut begegnen, setzen alles daran, „Raum für das Unvorhersehbare und Unvoraussagbare zu lassen“. Man muss nicht postulieren, dass freie Menschen mit der Freiheit gut zurechtkommen, immer rational handeln und dass alle Lösungen, die Individuen finden, optimal sind, für sie selbst und für die Gesamtheit, um aber doch darauf zu setzen, dass in spontaner Interaktion immerhin ein Bestand an Wissen wächst, auf das zu verzichten für niemanden ein Segen wäre.
Die kreative Kraft der individuellen Lösung zu betonen und ihr möglichst viel Raum zu verschaffen, impliziert nicht, dass man nicht begreift, dass es Dinge gibt, die gemeinschaftlich zu regeln sind und für die es eine durchaus umfassende staatliche Ebene braucht. Auch das ist eine diffamatorische Unterstellung. Den Staat abschaffen will heute nur noch die schmale „Lunatic fringe“ der Libertären, die ungefähr so ernst zu nehmen ist wie die guten alten Anarchisten. (Staatliche) Politik und (marktliche) Wirtschaft sind nichts anderes als zwei miteinander unauflöslich verbundene und mittels guter Institutionen in Balance zu haltende Plattformen der gesellschaftlichen Interaktion und Koordination mit dem Ziel des Interessenausgleichs zwischen freien Individuen. Einfach ist das nicht. „Die Ordnung der Freiheit ist keine Ordnung der Harmonie“, hat Peter Graf Kielmansegg treffend geschrieben, sondern eine Ordnung, die von „Konsonanz und Dissonanz in einem“ geprägt ist.
Den Kollektivismus abzulehnen, bedeutet also ganz gewiss nicht, gemeinschaftliche Belange zu verkennen. Natürlich darf, ja müssen sich die Menschen in einer Gemeinschaft in legitimen, idealerweise auf allgemeine Zustimmung oder doch wenigstens auf Zustimmungsfähigkeit aufbauenden Verfahren – siehe dazu die Arbeiten von James M. Buchanan und Viktor Vanberg – eine Geschäftsordnung geben, die sowohl Verfahrens- als auch Ergebnisziele umfasst und gegebenenfalls auch die freie Interaktion auf dem Markt einschränkt. Das geht mit der politischen Freiheit einher, deren Wert gerade unter Liberalen unumstritten ist. Eine andere Frage ist es, ob und ab wann eine solche Einschränkung missliche Folgen nach sich zieht und insofern ein Fehler ist, der wie ein Bumerang auf die Freiheitsrechte der einzelnen zurückschlagen muss. Hier gilt es klug abzuwägen, auch in Kenntnis der ökonomischen Zusammenhänge und der Eigengesetzlichkeiten des politischen Prozesses. Freie Menschen in einer freien Gesellschaft sind natürlich auch frei, sich und einander gemeinschaftlich zu schaden – aber wollen sie das überhaupt? Wollen sie wirklich, beispielsweise weil sie von mehr Freizeit träumen („Zeitsouveränität“), sich und anderen verbieten, mehr zu arbeiten und darin womöglich ihren Lebenssinn zu finden? Kann das gut sein? Vielleicht ist es doch besser, jeder bleibt seines eigenen Glückes Schmied.
Robert Skidelsky hat vor geraumer Zeit in einer Kontroverse mit mir im Standpoint Magazine (https://standpointmag.co.uk/features-september-12-hayek-the-market-and-the-good-life-an-exchange-robert-skidelsky-karen-horn-the-good-life-john-gray-hayek-s) bemängelt, dass schon Hayek gegenüber Keynes nicht präzise hat definieren können, wo denn die „Slippery slope“ beginnt und wie abzugrenzen ist, wieviel Staatshandeln notwendig oder gefährlich ist. Dummerweise liegt das aber in der Natur der Sache. Dysbalancen bemerkt man erst, wenn es schmerzt. Und wenn jemand dazu aufruft, im Kollektiv zu entscheiden, „wie wir leben wollen“ und „welche Form der Wirtschaft wir eigentlich wollen“, dann muss man schon wenig Schmerzempfinden haben, um nicht zu merken, dass damit mehrheitlich auch bestimmt wird, wie der Nachbar nicht leben soll und wie er sein Geld nicht verdienen darf. Dass er es deshalb auch nicht wird herausfinden dürfen. Und dass er damit seines höchsten Gutes, der Freiheit, verlustig geht.
Noch einmal: die Arbeit an der Geschäftsordnung der Gesellschaft, an der Ordnungspolitik, ist selbstverständlich ein gemeinschaftliches Projekt. Dafür allerdings den Namen „Kollektivismus“ zu wählen, den per Definition ein organisches Ideal charakterisiert, ist vollkommen unpassend. Man sollte einen solchen belasteten Begriff nicht nach Gutdünken umwerten und verharmlosen. Die von Lisa Herzog in ihrem Buch leider nur en passant zitierten Ordoliberalen der Freiburger Schule würden sich im Grabe herumdrehen, wenn sie wüssten, dass ihnen ihr ausgeprägtes Bewusstsein von der Notwendigkeit einer gedeihlichen, moralisch ausgewogenen staatlich garantierten Rahmenordnung als (wenn auch „guter“) Kollektivismus ausgelegt wird. Gerade sie waren Individualisten im liberalen Sinne. Geprägt von der traumatischen Jahrhunderterfahrung des Totalitarismus, stand für sie die Freiheit des einzelnen im Vordergrund – als universalisierbares und zugleich universelles Ziel.
Auch Adam Smith wusste übrigens um die Bedeutung geeigneter Regeln und Institutionen. Sein Werk ist von klugen ordnungspolitischen Empfehlungen für deren Ausgestaltung engmaschig durchzogen. Smith auf sein stoisches und naturrechtliches Erbe zu reduzieren und das dominante aufklärerische Element in seinen Schriften zu ignorieren, wird diesem Denker nicht gerecht. Gerade Smiths Weltbild bereitet den Boden für den Einsatz des Verstandes und eine kluge Gestaltung der Rahmenordnung – gerade weil sein Gott die Dinge zwar eingerichtet hat, aber eben nicht reparieren wird. Für Smith ist das Universum so angelegt, dass sich eine gute Ordnung ergeben kann. Das setzt aber voraus, dass die Menschen das Richtige tun. Dafür müssen sie ihren Grips nutzen – was leider nicht immer klappt. Denn der Mensch ist fehlbar. Schon erstaunlich, dass das nur Liberalen wirklich klar zu sein scheint.
Wenn der Liberalismus zeitgemäß werden soll, was ich mir genauso wie Lisa Herzog wünsche, dann muss es gelingen, seine Tabus zu brechen und Debatten neu anzustoßen. Ideologische Engführungen und Abschottungen sollten passé sein. Wir sind uns da ganz einig. Doch entgegen eigener Beteuerungen den Kern des Liberalismus aufzugeben, die legitimatorische Betrachtung der Ordnung des Gemeinwesens vom Individuum her, das mit der Gabe der Freiheit gesegnet und zu ihr berufen ist – das ist ein fataler intellektueller Unfall. Absicht wird es ja nicht sein.