Es ist erstaunlich, wie sehr sich unser Umgang mit Daten verändert hat. Vor gerade einmal 27 Jahren löste eine Volkszählung noch Proteststürme aus. Heute, im Internetzeitalter, geben wir private Details in sozialen Netzwerken freiwillig preis, mit Fitnessarmbändern vermessen wir uns gleich selbst und produzieren so riesige Datenmengen. Welche Folgen das hat, ist umstritten. Fest steht: “Big Data” ist nicht allein ein Thema für Informatiker, Datenschützer und Politiker, sondern auch extrem wichtig für Ökonomen. Denn die Verteilung von Informationen spielt auf Märkten eine Schlüsselrolle. Wenn sich die Hoheit über Informationen verschiebt, dann müssen Ökonomen ihre Theorien neu durchdenken. Besonders deutlich wird das auf dem Markt für private Krankenversicherungen.
Ökonomen sind ursprünglich davon ausgegangen, dass der Mensch einen Informationsvorsprung gegenüber den Versicherungskonzernen hat. Zwar können Versicherungen vor Vertragsabschluss Informationen über Vorerkrankungen und den aktuellen Gesundheitszustand einholen. Doch ob der potentielle Kunde seine Gesundheit im Alltag fahrlässig aufs Spiel setzt und ungesunde Gewohnheiten hat, das bleibt ihnen im Großen und Ganzen verborgen.
Diese Konstellation schafft ein Problem, das als “Adverse Selektion” in die ökonomischen Lehrbücher eingegangen ist: Weil die Versicherung nicht erkennen kann, ob ein Kunde in der Zukunft hohe oder geringe Kosten verursachen wird, kann sie nur eine Versicherung zum Einheitspreis anbieten. Kerngesunden Menschen ist dieser Preis zu hoch, sie bleiben lieber unversichert. Übrig bleiben die krankheitsanfälligen Kunden. Um diese Risikogruppe jedoch kostendeckend versichern zu können, muss die Versicherung den Durchschnittstarif anheben – und die Negativauslese beginnt von Neuem. Im Extremfall bricht der Markt zusammen. In einem Land, in dem es nur Privatversicherungen gibt, hätte das katastrophale Folgen. Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und sein Kollege Michael Rothschild haben zwar demonstriert, dass ein Zusammenbruch trotz des Informationsvorsprungs nicht zwingend ist. Doch gesündere Menschen würden dabei nicht gut wegkommen. Sie müssten – zum Beispiel durch hohe Selbstbeteiligungen – einen Aufpreis dafür zahlen, dass das System am Leben bleibt.
Wie verändert die Informationsflut die Situation? Angenommen, die Versicherungen schließen die Informationslücke, indem sie den digitalen Fingerabdruck ihrer Kunden auswerten. Beide Seiten befinden sich dann auf Augenhöhe. Für Ökonomen klingt das erst einmal gut. Hat auf Märkten niemand einen Wissensvorsprung, bringt der Wettbewerb die aus ökonomischer Perspektive besten Lösungen hervor.
Was für den Verkauf von Autos oder Uhren stimmen mag, ist für Krankenversicherungen leider nicht so einfach zu sagen. Denn wissen beide Seiten gleich gut Bescheid, entsteht für die Versicherten ein “Prämienrisiko”. Anstatt einer Durchschnittsprämie zahlt jetzt jeder den Tarif, der genau seine Risiken abbildet. Die Menschen müssen fürchten, deutlich mehr zahlen zu müssen als zuvor. “Das ist ein neues zusätzliches Risiko, es gibt aber keine unmittelbaren Effizienzgewinne”, sagt der Kölner Ökonom Achim Wambach. Das ist paradox: Mehr Informationen stellen einzelne schlechter und senken die gesamtgesellschaftlichen Kosten nicht. Die Ökonomen haben dieses Phänomen “Hirshleifer-Effekt” getauft.
Anders fällt das ökonomische Urteil aus, wenn wachsendes Wissen der Versicherungen zu Verhaltensänderungen bei den Kunden führt. Angenommen, die Konzerne können auswerten, wie viel Sport ein Mensch treibt und wie gesund er sich ernährt. Sie würden mehr Bewegung, mehr Salat und mehr Vorsorge dann mit günstigeren Prämien belohnen – im kleinen Maßstab tun sie das ja heute schon. Jeder hätte einen Anreiz, sich entsprechend zu verhalten und auf jedes Gramm Fett zu achten. Im Schnitt wären die Menschen dann gesünder, die Kosten im Gesundheitssystem würden sinken – doch der Preis des Freiheitsverlusts ließe sich kaum beziffern. Auch ökonomisch würden neue Probleme entstehen. In einem System, in dem es nur private, individualisierte Versicherungsverträge gibt, müsste es für diejenigen mit hohen Risiken und entsprechend hohen Prämien einen finanziellen Ausgleich geben, damit sie sich überhaupt versichern können.
Was aber passiert – und auch das ist denkbar -, wenn die Versicherungen dank Big Data mehr wissen als wir selbst? Bertrand Villeneuve (Université Paris-Dauphine) hat diese Konstellation schon vor einem Jahrzehnt erforscht. Selbst bei funktionierendem Wettbewerb, bilanziert der französische Forscher, komme es zu einer ineffizienten Absicherung. Die Ursache dafür ist die Skepsis der Menschen, dass die Versicherungen sie über den Tisch ziehen könnten. Wer nicht weiß, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit in Zukunft hohe Kosten verursachen wird, der wird das Vertragsangebot der Versicherung für überteuert halten und Betrug vermuten. Obwohl es finanziell für ihn die beste Lösung wäre, wird er den Vertrag nicht unterschreiben. Und die Gruppe, die es eigentlich am nötigsten hätte, steht am Ende mit leeren Händen da. Allerdings bezieht Villeneuve nicht in seine Überlegungen ein, dass sich diese Menschen Angebote mehrerer Konzerne einholen können – irgendwann würden sie dann vielleicht akzeptieren, dass sie zur Hochrisikogruppe gehören.
Wie man es dreht und wendet – mehr Informationen führen weder für den Einzelnen noch für die gesamte Gesellschaft automatisch zu besseren Lösungen. Dass Versicherungen längst nicht alles dürfen, was technisch schon heute möglich ist, ist daher eine gute Nachricht.