Die Risiken moderner Geldpolitik sind nirgendwo einprägsamer zu beobachten als in Schweden. Das Ringen um den richtigen Kurs ist so verbissen, dass eine Mehrheit der Führung in der Schwedischen Reichsbank ihren Präsidenten Stefan Ingvers brüskierte und gegen seinen Willen eine Senkung des Leitzinses von 0,75 auf 0,25 Prozent beschloss. Als Begründung nannte sie eine Inflationsrate von nahe null Prozent, die unter der Zielrate von 2 Prozent liegt. 1) Gleichzeitig forderte die Reichsbank die Regierung auf, gegen die bereits sehr hohe und weiter steigende Verschuldung der Privathaushalte vorzugehen, da andernfalls Gefahren für die Stabilität des Finanzsystems drohten. Für die Finanzstabilität sei die Reichsbank nicht zuständig, lautete die Botschaft der Geldpolitik.
Soll eine Notenbank ihre Politik eher an der Stabilität des Geldwertes oder an der Stabilität des Finanzsystems ausrichten? So lautet die drängendste Frage für die Geldpolitik in unserer Zeit, auf die es in der Fachwelt keine klare Antwort gibt. Das Thema wird dort sehr kontrovers diskutiert. (Eine sehr lehrreiche Übersicht auf der Basis der aktuellen Forschungsliteratur stammt von Frank Smets. 2))
Eine Antwort ist jedoch dringend notwendig, da sich viele Notenbanken in Industrienationen in einem Zielkonflikt befinden: Einerseits sind die Inflationsraten sehr niedrig und es sind auch auf absehbare Zeit keine bedeutenden Inflationsgefahren erkennbar. Eine primär auf Geldwertsicherung ausgerichtete Geldpolitik erlaubte damit ein Festhalten an sehr niedrigen Leitzinsen. Andererseits begünstigen niedrige Zinsen Spekulationen an Wertpapiermärkten sowie die Aufnahme von Krediten zum Kauf von Immobilien. In der Vergangenheit haben kreditfinanzierte Booms an Immobilienmärkten häufig schwere Banken- und Finanzkrisen ausgelöst. Mit Blick auf die Stabilität des Finanzsystems müssten die Notenbanken an Leitzinserhöhungen denken.
Der Konflikt ist offen ausgebrochen. In den vergangenen Tagen haben sich die Fed-Vorsitzende Janet Yellen und EZB-Präsident Mario Draghi klar zu einer Politik bekannt, die der Sicherung des Geldwertes den Vorrang gibt. “Die Geldpolitik hat enge Grenzen, um Finanzstabilität zu gewährleisten”, sagte Yellen am vergangenen Mittwoch. Auf der anderen Seite steht die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), die vor einer Woche die Geldpolitik aufgefordert hat, zur Sicherung der Finanzstabilität bald an höhere Leitzinsen zu denken. In der Schwedischen Reichsbank hat sich eine Mehrheit in der Führung auf die Seite von Draghi und Yellen gestellt. Die Position der Bank of England ist unklar. Ihr Gouverneur Mark Carney hatte Mitte Juni angekündigt, dass eine Erhöhung der Leitzinsen früher stattfinden könnte als an den Finanzmärkten erwartet. Daraufhin schlossen Marktteilnehmer auf eine Leitzinserhöhung noch in diesem Jahr. Nachfolgende Äußerungen aus der Bank of England klangen wieder unentschlossen.
Argumentativ liegen die beiden Lager weit auseinander. Yellen und Draghi stützen sich ein Paradigma, wonach die Notenbanken in erster Linie für die Sicherung des Geldwertes zuständig sind und die Sicherung der Finanzstabilität durch Regulierungen von Finanzhäusern und Kreditnehmern gewährleistet werden soll. (Das Paradigma ist der “Modified Jackson Hole Consensus” in der Terminologie von Smets 2).) Die Gestaltung optimaler Regulierungen ist unter dem abschreckenden Begriff „makroprudentielle Politik“ derzeit eines der wichtigsten Forschungsgebiete in der Ökonomie Man wisse noch nicht genug über die Wirkung makroprudentieller Politik, räumt Yellen ein. Hier gebe es noch viel zu lernen.
Nach dieser Denkweise muss der Leitzins als ein viel zu grobes Schwert für den Einsatz zugunsten der Finanzstabilität betrachtet werden. Überdies können nach dieser Denkweise frühe Leitzinserhöhungen den wirtschaftlichen Aufschwung gefährden. Daher dürfen sich auch die Sparer nicht über niedrige Zinsen beschweren. „Von Enteignung zu sprechen ist übertrieben“, sagte EZB-Direktoriumsmitglied Sabine Lautenschläger in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. „Wir verfolgen mit dem niedrigen Zinssatz unser Mandat, für Preisstabilität zu sorgen.“
In Schweden hatte die Reichsbank im Einklang mit den Ideen der BIZ schon im Jahre 2010 begonnen, ihren zuvor bis auf 0,25 Prozent gesenkten Leitzins zu erhöhen. (Das BIZ-Paradigma heißt in der Terminologie von Smets “Leaning against the Wind Vindicated”.2)) Im Jahre 2012 erreichte der Zinssatz 2 Prozent. Da die Wirtschaft nur langsam mitzog, begann die Reichsbank wieder, ihren Leitzins zu senken. Nun steht er ein weiteres Mal auf 0,25 Prozent. Dieses Hin und Her ist Wasser auf den Mühlen jener, die sich gegen den Einsatz des Zinses für die Finanzstabilität aussprechen. 3)
Aber auch die Befürworter einer im Dienste der Finanzstabilität stehenden Geldpolitik können sich auf Schweden berufen. Denn ein Erfolg der als Alternative gedachten Regulierungspolitik erscheint nicht garantiert: Durch die niedrigen Zinsen begünstigt, nimmt die Nachfrage nach Kreditfinanzierungen für Immobilien stark zu. Nach Berechnungen der Reichsbank könnte für einen Privathaushalt im Jahre 2015 das Verhältnis von Schulden zu verfügbarem Einkommen 185 Prozent erreichen. Das wäre ein aus schwedischer wie internationaler Sicht sehr hoher Wert. Die Finanzaussicht in Stockholm hat daher den Banken eine größere Unterdeckung von Immobilienkrediten mit Eigenkapital auferlegt. Die Reichsbank glaubt jedoch nicht, dass damit die Nachfrage nach Immobilienkrediten gebrochen wird. Sie fordert Maßnahmen von der Regierung, darunter die Beschneidung des Steuerabzugs von Zinsausgaben. Die Wirksamkeit solcher Maßnahmen lässt sich nicht absehen.
Das ist denn auch das Mantra der BIZ: Ihr Vertrauen in die Wirksamkeit von Regulierungen zur Sicherung der Finanzstabilität ist seit langem gering. 4) Ein Argument lautet, dass Regulierungen Ausweichreaktionen erzeugen: Wer Banken hoch reguliert, damit sie weniger Risiken übernehmen, schafft damit nicht die Risiken ab, sondern verlagert sie auf andere Finanzhäuser, die weniger stark reguliert sind („Schattenbanken“). Umgekehrt hält die BIZ den Leitzins für ein geeignetes Instrument gegen potentiell gefährliche Exzesse in der Kreditvergabe, da man ihm nicht ausweichen kann. Schon kleine Zinserhöhungen reichten aus, um die Kreditvergabe zu bremsen, lautet ein Argument von Chefvolkswirt Hyun Song Shin. „Expansive Geldpolitik kann auch Spekulationen begünstigen“, sagt Lautenschläger. „Deshalb werde ich die Erste sein, die höhere Zinsen und eine Verknappung der Liquidität fordern wird – sobald das gerechtfertigt ist“.
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1) Die Reichsbank schreibt in ihrem aktuellen Bericht: “The main reasons why the repo rate and the repo-rate path are being cut substantially are that inflation has been lower than expected, that inflationary pressures are expected to become much lower and that the forecast for international policy rates has been revised down … At the same time as economic activity in Sweden is strengthening, inflation is low and has continued to be surprisingly low. The broad downswing in inflation also indicates that underlying inflationary pressures are very low. The inflation forecast has therefore been revised downwards somewhat for this year and next year, despite the fact that it is now based on a much more expansionary monetary policy than in April.”
2) Smets unterscheidet zwischen drei Konzepten:
– “A Modified Jackson Hole Consensus”: Hier gibt es eine Arbeitsteilung zwischen einer Geldpolitik, die sich um Preisstabilität kümmert, und einer leistungsfähigen makroprudentiellen Politik, die sich um die Finanzstabilität kümmert. Der Leitzins ist ein zu grobes Instrument für Finanzstabilitätspolitik.
– “Leaning against the Wind Vindicated”: Makroprudentielle Politik ist nicht ausreichend leistungsfähig. Die Geldpolitik muss auch Finanzstabilität als Ziel akzeptieren und in ihrer Zinspolitik berücksichtigen. Geldpolitik muss langfristiger denken als bisher. Die Frage ist: Was ist mit Zielkonflikten?
– “Financial Stability is Price Stability”: Das ist der Ansatz der beiden Princeton-Ökonomen Markus Brunnermeier und Juliy Sannikov, die mit ihren innovativen Arbeiten Stammgäste auf Ökonomenkonferenzen sind. Die beiden Stabilitätskonzepte lassen sich nach ihrer Ansicht überhaupt nicht trennen, da von der Stabilität des Finanzsystems dessen Fähigkeit zur Produktion von Geschäftsbankengeld (“inside money”) abhängt, was für die Geldpolitik wichtig ist. (Wir haben die Arbeiten von Brunnermeier/Sannikov in FAZIT mehrfach behandelt, zum Beispiel hier.)
3) Der Konflikt in der Führung der Reichsbank wurde spätestens im Jahre 2013 offensichtlich und führte zum Rückzug des bekannten Ökonomen und damaligen Vizepräsidenten Lars Svensson, der seine Ablehnung des “Leaning against the Wind” mehrfach öffentlich gemacht hat – zuletzt hier. Publizistische Unterstützung erhielt Svensson unter anderem von Paul Krugman, der die Zinserhöhungen der Reichsbank als “Sadomonetarismus” bezeichnet hat.
4) BIZ-Ökonom Claudio Borio unterscheidet zwischen einem “Finanzzyklus”, der nicht mit dem Konjunkturzyklus synchron verläuft. Zur Beherrschung des “Finanzzyklus” bedarf es nach dieser Analyse einer Geldpolitik, die “sich gegen den Wind lehnt”. (In FAZIT haben wir darüber erstmals Ende 2012 geschrieben.)
Eine kürzere Version dieses Artikels ist am 7. Juli im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.