Woher kommt eigentlich die panische Angst einiger Ökonomen, Politiker und Journalisten vor einer Deflation, also einer Phase sinkender Verbraucherpreise? Im Euroraum ist die Inflationsrate auf ein sehr niedriges Niveau gefallen. Schon seit Wochen hören wir deshalb apokalyptische Warnungen vor einer möglichen Deflation.
Die Deflation werde dem Euroraum ökonomisch das Genick brechen, heißt es nicht selten. Und warum? Zwei Argumente hört man: Erstens wird bei einem sinkenden Preisniveau die reale Schuldenlast der finanziell angeschlagenen Krisenländer größer. Zweitens, so heißt es, führe eine Deflation in eine wirtschaftliche Abwärtsspirale. Verbraucher verschieben Ausgaben, weil sie auf weiter sinkende Preise hoffen. Auch EZB-Chef Mario Draghi hat diese These von der spekulativen Konsumzurückhaltung schon vorgebracht. Aber stimmt sie denn wirklich?
Die These steht auf wackeligen Beinen. Das zeigt eine neue empirische Studie des Instituts für Weltwirtschaft (IfW): Eine fallende Nachfrage bei sinkenden Preisen ist keineswegs die Regel, sondern eher die Ausnahme. In der Realität ist häufiger eine steigende Nachfrage bei sinkenden Preisen zu beobachten. Die Kieler Ökonomen Henning Klodt und Anna Hartmann haben dazu teils unveröffentlichte Zeitreihen des Statistischen Bundesamtes untersucht, das detailliert die Preisentwicklung der verschiedensten Waren erfasst.
Zahlreiche Güter sind im Untersuchungszeitraum 1991 bis 2013 trendmäßig billiger geworden. Von 78 Gütergruppen war dies bei 13 der Fall, am stärksten bei Unterhaltungselektronik, Computern oder großen Haushaltsgeräten wie Waschmaschinen. Diese Güter verbilligten sich zwischen 1994 und 2013 im Durchschnitt um 18 Prozent, wenn man die Qualitätsverbesserung berücksichtigt. Und gleichzeitig stieg die Nachfrage weiter. Ein Beispiel: Wie teuer waren die ersten Digitalkameras, wie billig sind sie heute? Trotz des stetigen Preisverfalls haben Kameraliebhaber keineswegs den Kauf ewig aufgeschoben. Die Deflation der Kamerapreise hat die Industrie nicht in eine Abwärtsspirale getrieben.
Besonders interessant sind für die Forscher solche Datenreihen, wo die Preise zeitweilig stiegen und dann sanken oder umgekehrt. Die IfW-Ökonomen haben untersucht, wie sich die Nachfrage änderte, wenn sich ein Preistrend umdrehte. Das Bild war gemischt. Aber es unterstützte nicht die These der Konsumzurückhaltung. Bei 43 untersuchten Gebrauchsgütern, deren Preistrend sich änderte, sprachen zehn Fälle für, aber 33 gegen die These von der Konsumzurückhaltung in Erwartung fallender Preise. Es gebe mithin “kaum Evidenz für die konsumhemmende Wirkung sinkender Preise”, schreiben die IfW-Forscher. Henning Klodt rät den Zentralbanken, sie sollten dem Deflationsgespenst “gelassen ins Auge blicken”.
Doch wenn es um Inflation und Deflation geht, bleiben nur die wenigsten Ökonomen und Bürger gelassen. Dabei gibt es eine mentale Kluft zwischen den Debatten in Deutschland und Amerika. Hierzulande sind die Ansichten noch immer vom Inflationstrauma der frühen 1920er Jahre geprägt. In den Vereinigten Staaten hat hingegen die Depression der frühen 1930er Jahre mit der begleitenden Deflation tiefe Narben hinterlassen.
Wenig Erinnerungen hat die Öffentlichkeit indes an die vielen Deflationen im 19. Jahrhundert. Im Zeitalter des klassischen Goldstandards waren Inflationen die Ausnahme und deflationäre Phasen recht häufig, wie auch der frühere Fed-Chef Ben Bernanke in wirtschaftshistorischen Analysen festgestellt hat.
In Deutschland gab es nach dem geplatzten Gründerzeitboom 1873 eine recht ausgeprägte Deflation bis Mitte der 1880er Jahre. Zwar klagten viele Zeitgenossen über nominal sinkende Löhne und Einkommen. Aber sie übersahen, dass der reale Wert ihrer Einkommen zunahm (die typische Geldillusion). Nach dem heutigen Stand der Forschung wuchs die Wirtschaft des Deutschen Reichs wieder kräftig, nachdem sie den “Gründerkrach” verdaut hatte. Es gab keine “Große Depression”. Neue Industrien und steigende Produktivität trieben einen Konjunkturaufschwung in den 1880ern an. Das Preisniveau sank, weil die Wirtschaft produktiver wurde und der Output wuchs, während die Geldmenge nur langsam expandierte. Durch die Deflation konnten sich die Menschen mehr leisten und wurden real reicher.
Zu sagen, dass es “gute Deflationen” gibt, gilt heute aber als ketzerisch. Keynesianische und auch die meisten Mainstream-Ökonomen fürchten Deflationen wie den Gottseibeiuns. Sie sollten den neuesten Jahresbericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), des Ober-Instituts der Zentralbanken der Welt, genau lesen. Darin steht: Es gebe “zuhauf Beispiele ,guter’ oder zumindest ,gutartiger’ Deflationsepisoden in dem Sinne, dass diese Episoden mit Phasen einhergingen, in denen die Wirtschaftsleistung trendmäßig wuchs oder nicht leicht und vorübergehend schrumpfte”. Solche gutartigen Deflationsepisoden waren typisch in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, während in der Zwischenkriegszeit kostspieligere Deflationen zu verzeichnen waren, die das reale BIP-Wachstum belasteten. “Die Deflationsepisoden der letzten zweieinhalb Jahrzehnte”, schreibt die BIZ, als die Globalisierung die Preise drückte, “entsprechen im Schnitt eher dem Typus der guten Deflation.”
Es gebe “kein inhärentes Risiko einer Deflationsspirale”, betont die BIZ, die sich dabei auf eine Studie ihres Volkswirts Claudio Borio und von Andrew Filardo beruft. Starke und anhaltende Preisrückgänge seien ziemlich selten. In Japan fielen die Preise über mehr als ein Jahrzehnt kumuliert nur um 4 Prozent. Das war nicht besonders viel.
Ein größerer Schaden für die Volkswirtschaft ergibt sich aber dann, wenn es zu “Vermögenspreisdeflation” und einer “Debt Deflation” kommt. Dieses Phänomen hat als Erster der Ökonom und Investor Irving Fisher in der Weltwirtschaftskrise analysiert: Anleger verkaufen in Panik ihre Wertpapiere und Beteiligungen, was den Preisverfall noch beschleunigt. Gleichzeitig wächst die reale Last der Kredite der Investoren und Haushalte.
Damit nähern wir uns dem Kern des Problems: Deflation ist vor allem eine Belastung für Schuldner. Die derzeit in der Eurozone so niedrige Inflation besorgt die EZB, Politiker und Ökonomen, weil den Schuldnern Geldentwertung fehlt, die ihnen die Last abnimmt. Wenn die EZB nun wieder große Geldspritzen vorbereitet, dann primär mit Blick auf die Schuldnerländer. Inflation bedeutet Umverteilung. Sie bewirkt einen Transfer von den Gläubigern (vor allem in Deutschland) zu den Schuldnern (in Südeuropa). Wäre es nicht ehrlicher, diesen Transfer offen zu benennen, statt falsche Argumente über die Deflation vorzuschieben?
Der Beitrag erschien zuerst als “Sonntagsökonom” in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Die Illustration stammt von Alfons Holtgreve.