Alvin Roth ist von Hause aus gar kein Ökonom, er hat aber den Wirtschaftsnobelpreis bekommen. Der langjährige Harvard-Professor, der jetzt in Stanford lehrt, hat mit der Markt-Design-Theorie einen wichtigen neuen Ansatz in der Wirtschaftswissenschaft etabliert. 2012 erhielt er dafür den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis. Wir haben ihn gefragt, wohin die Reise der Volkswirtschaftslehre führt.
Herr Professor Roth, Ihre Forschung hat einige greifbare Resultate und nützliche Anwendungen hervorgebracht. Worauf sind Sie am meisten stolz?
Am meisten macht mich stolz, dass es mir gelungen ist, Markt-Design zu einem Teil der Wirtschaftswissenschaften zu machen, der Ingenieur-Teil der Ökonomik. Es wird für viele Sachen nützlich sein. Fragen Sie einen Bauingenieur, auf welche Brücke er am Stolzesten ist, oder einen Luftfahrtingenieur, welches Flugzeug er am besten findet – er wird es vielleicht kaum sagen können. Man kann aber stolz sein, dass es Brücken und Flugzeuge gibt, dass er sie reparieren kann, wenn sie kaputt sind. Ich bin froh, dass Ökonomen jetzt helfen können, kaputte Märkte zu reparieren oder neue zu gestalten, wo es noch keine gibt.
Nennen Sie uns ein paar Beispiele.
Ein Beispiel ist der Austausch von Spender-Nieren. Wir verkaufen sie nicht für Transplantationen, fast nirgendwo in der Welt gibt es dafür einen Markt, auf dem mit Geld bezahlt wird, nur in der Islamischen Republik Iran. Überall sonst ist es verboten, für Spendernieren zu bezahlten. Aber es gibt Tauschsysteme. Menschen haben zwei Nieren, Gesunde können auch mit einer Niere auskommen. Manchmal passt aber die Niere eines potentiellen Spenders nicht für einen Familienangehörigen, der eine kranke Niere hat. Deshalb haben wir einen Tauschring konstruiert, bei denen der Spender seine Niere jemandem gibt, dem sie passen, und dafür erhält der kranke Familienangehörige eine ebenfalls passende Niere. Manchmal sind die Tauschringe noch viel größer. Dieses Verfahren ist inzwischen ein Standard in vielen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten.
Warum wird das nicht auch in Deutschland so gemacht?
Es ist gegen das Gesetz in Deutschland. Ihr Transplantationsgesetz sagt, dass Organspenden nur für Verwandte ersten Grades möglich sind, also Ehepartner oder Kinder.
Um Missbrauch zu verhindern?
Das war wohl die Ursprungsidee, um zu verhindern, dass für Organspenden von Fremden bezahlt wird. Aber mit unserem Nierentauschring gibt es keine Notwendigkeit zum Bezahlen. Sie geben eine Niere meiner Frau, und ich gebe meine Niere ihrem Bruder.
Wie viel zusätzliche Nierenspenden werden durch ihr Verfahren möglich?
Etwa 10 Prozent aller Nieren von Lebendspendern kamen durch den Austausch zustande. In den Vereinigten Staaten haben wir inzwischen mehr Lebendspender als Verstorbene, die ihre Niere spenden.
Ein weiteres Beispiel für Markt-Design ist die Vergabe von Schulplätzen in einigen amerikanischen Großstädten. Oder von Studienplätzen an Universitäten. In Deutschland hatten wir die berüchtigte ZVS (Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen), heute in Stiftung für Hochschulzulassung umbenannt, die für Mediziner die Studienplätze zuteilt. Es gibt viele Klagen über das zentralistische System, weil viele Studenten nicht dorthin kommen, wo sie gerne hinwürden; durch Tausch könnten sich viele besserstellen. Aber alle versuchen, ihre Prioritäten strategisch anzugeben und das Endergebnis befriedig viele nicht.
Es gibt einige Markt-Design-Forscher in Deutschland, die das Uni-Zuteilungssystem untersuchen, etwa Dorothea Kübler in Berlin und Alex Westkamp, der gerade von Bonn nach Maastricht gewechselt ist. Meine Kollegen in Amerika haben das System für jüngere Leute zu verbessern versucht, für die High Schools in New York und die Schulen in Boston, in Denver und New Orleans. Es geht dabei um einen Matching-Markt. Wenn ich über Märkte spreche, habe ich eine ganz breite Definition davon. Die meisten Leute denken bei Märkten an Gütermärkte oder Aktienmärkte, wo man sich nicht darum kümmert, mit wem man handelt; der Preis führt Angebot und Nachfrage zusammen. Aber Unis gehen nicht so vor. Stanford versteigert nicht die Studienplätze oder setzt sie gerade so hoch an, dass die Bewerberzahl so hoch ist wie die Plätze. Es gibt mehr Bewerber als Plätze. Deshalb braucht man andere Allokationsmechanismen. Auch Job-Märkte sind Matching-Märkte. Meine Kollegen und ich haben das Problem untersucht und Verfahren entwickelt, um die Platzvergabe zu verbessern. Jetzt sind deutlich weniger Schüler unzufrieden mit dem Resultat als vorher.
Brauchen sehr viele Märkte ein spezielles Design, das Ökonomen konstruieren, oder könnte die Lösung auch in vielen Fällen sich evolutionär herausbilden?
Naja, die Evolution kann funktionieren, langsam in einem Prozess aus Versuch und Irrtum. Aber es gibt eben viele Irrtümer. Markt-Design ist schon eine ganz alte menschliche Aktivität. Die Märkte haben sich langsam entwickelt. Selbst Gütermärkte brauchen ein Design. Gott macht den Weizen, aber die Chicagoer Rohstoffbörse klassifiziert ihn als Winterweizen Nr. 2, um das Gut zu definieren und einen Markt zu etablieren. Markt-Design ist eine ganz alte Sache – aber richtig: Erst seit kurzem sind Ökonomen daran beteiligt.
Gibt es nicht auch die Gefahr, dass Sie bei einem großen Markt-Design einen Fehler machen?
Absolut richtig. Auch Experten können Fehler machen. Denken Sie an Krankheiten. Vor langer Zeit war es gefährlich, zu einem Chirurgen zu gehen, weil sie die Anatomie nicht gut kannten, weil sie Hygienestandards nicht kannten. Aber heute sind Chirurgen sehr nützlich. Natürlich können auch Ökonomen gefährlich sein – da gibt es eine ganze Menge gute Witze darüber.
Sie wurden Ökonom, haben aber gar nicht Ökonomie studiert, sondern Operations Research, eine Art angewandte Mathematik mit Informatik. Einige Studenten und Wirtschaftswissenschaftler beklagen sich, dass die Ökonomik heute vielfach zu mathematiklastig sei, dass die Wirtschaftswissenschaft heute ein Zweig der angewandten Mathematik sei. Wie sehen Sie das?
Beim Markt-Design haben wir nicht eine einzige Methode, etwa eine mathematische, sondern verschiedene Methoden, mit denen wir den Problemen auf den Leib rücken. Ich nutze in meiner praktischen Arbeit eine ganze Menge Mathematik, aber wir machen auch Experimente, wir nutzen verschiedene empirische Werkzeuge. Es ist wohl kaum nur die Mathematik, aber natürlich ist sie ein wichtiges Werkzeug.
Worüber forschen Sie derzeit?
Ich arbeite viel über den Nieren-Austausch, etwas auch über Schulen. Wir wollen allgemein verstehen, welche Transaktionen die Menschen auf Geld-Märkten als akzeptabel ansehen und warum manche Geld-Geschäfte ihnen abstoßend erscheinen, etwa das Bezahlen für Organspenden.
Das ist eine schwierige philosophische und juristische Frage. Provokant gefragt: Warum sollen Menschen in sehr armen Ländern, die kurz vor dem Verhungern sind, nicht ein Organ, das sie nicht unbedingt brauchen, etwa eine einzelne Niere, verkaufen können, um sich Nahrung zu kaufen oder eine Ausbildung für ihre Kinder zu finanzieren.
Das ist eine gute Frage. Aber wir machen einfach die Beobachtung, dass es fast überall auf der Welt – bis auf Iran – gegen das Gesetz ist. Wenn man also ein fast universelles Markt-Verbot sieht, obwohl es natürlich Schwarzmärkte gibt, die dieses Verbot umgehen, dann scheint es mir etwas zu geben, das wir als Ökonomen nicht verstehen. Man wird die Gesetze wohl nicht dadurch ändern, indem man – leiser oder lauter – erklärt, dass Transaktionen zwischen freiwillig zustimmenden Erwachsenen die Wohlfahrt beiderseits steigern können.
Was ist die aktuell die interessanteste Entwicklung in der Wirtschaftswissenschaft?
Markt-Design zählt sicher dazu. So viele Leute arbeiten daran. Man kann sich viele Märkte vorstellen, die repariert werden müssen, auch der Finanzmarkt. Etwa die Frage, ob die Regeln, die gut funktionieren, als die meisten Händler menschliche Wesen waren, jetzt mit viel Computer- und Algorithmus-Handel noch gut funktionieren. Wir sollten nicht vergessen: Märkte sind menschliche Artefakte. Menschen haben sie gemacht und können sie ändern. Weil es Märkte schon so lange gibt, behandeln wir sie manchmal ein bisschen wie andere evolutionäre Institutionen wie etwa die Sprache. Unsere Sprache wird nicht bewusst verändert. Wir sprechen gerade Englisch, aber wie verändern die Sprache nicht bewusst.
Der schottische Philosoph und Aufklärer Adam Ferguson sprach einmal von Institutionen, die „Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Designs“ sind. Trifft das auf Märkte nicht auch zu?
Ich denke, wir sind in der Lage, sie langsam und vorsichtig zu ändern, je besser wir sie verstehen. Wir können sie besser machen.
Kann man eigentlich noch von einer Disziplin der Wirtschaftswissenschaften sprechen – es gibt so viele verschiedene Sub-Disziplinen, Fachgebiete und Theoriefelder. Gibt es „die Ökonomik“ überhaupt noch?
Die Wirtschaftswissenschaft ist ein sehr großes Fachgebiet, weil sie alles untersucht, was Menschen tun. Wie Menschen kooperieren, wie sie sich koordinieren, wie sie produzieren und austauschen. Natürlich gibt es sehr viele unterschiedliche Teile der Ökonomik. Aber die Ökonomen verstehen sich recht gut, weil sie mit gemeinsamen Werkzeugen arbeiten. Andererseits muss man zu geben: Eine Konferenz wie diese hier in Lindau mit 17 Nobelpreisträgern muss für die jungen Forscher und Studenten ziemlich schwierig sein, weil wir über so unterschiedliche Dinge sprechen.
Können Sie all ihre Nobelpreis-Kollegen verstehen oder finden Sie die Vorträge manchmal auch schwierig?
Natürlich, ich finde einiges sehr schwierig. Ich kann oft verstehen, was sie sagen, aber nicht wirklich beurteilen, was sie tun. Da fehlt mir der Hintergrund. Das ist aber oft so. Wir geben unterschiedlichen Feldern der Ökonomik unterschiedliche Namen. Es gibt eben Mikroökonomen und Makroökonomen etc. Das ist ein bisschen wie mit Festkörper-Physikern und Hochenergie-Physikern. Es sind immer noch Physiker. Und man kann Physiker von Chemikern unterscheiden.
Was ist die einigende Charakteristik aller Ökonomen? Haben sie eine grundsätzlich ähnliche Weltsicht oder einen ähnlichen Ansatz, sich Problemen zu nähern?
Wir untersuchen, wie Menschen kooperieren. Wir haben dabei keine Angst vor Mathematik, wir mögen Daten und statistische Modelle. Das alles versuchen wir zu nutzen.
Einige Studenten und auch Ökonomen kritisieren die Modell-Gläubigkeit der Ökonomen.
Was sie kritisieren ist wohl, dass wir die begrenzenden Annahmen der Modelle nicht genug thematisieren. Dass wir die Schlussfolgerungen zu stark generalisieren. Man kann jedes Modell zu stark entgrenzen. Ökonomen haben aber noch sehr viel mehr Werkzeuge, nicht nur die Mathematik und die Statistik.
Wie hat sich die Wirtschaftswissenschaft entwickelt seit der Zeit, als Sie studiert haben? Würden Sie lieber heute als damals studieren?
Die Entwicklung ist enorm und sie zeugt von der Offenheit der Disziplin für neue Ideen. Ich habe keinen Ökonomie-Abschluss, aber keiner wirft mir das vor. Seit ich ein Ökonom bin, hat sich sehr viel getan: Die Spieltheorie ist hinzugekommen, Experimentalökonomie, Verhaltensökonomie mit einer Mischung aus Psychologie und Wirtschaft – und zuletzt die Theorie und Praxis des Markt-Designs. Eine weitere gigantische Erneuerung hat durch die modernen Statistikverfahren stattgefunden. Dabei hilft die Computer-Revolution. Als ich meinen Doktor machte, hatte keiner einen PC auf seinem Schreibtisch, jetzt hat jeder einen. Und das ändert definitiv, wie wir mit Daten arbeiten. Viele Ökonomen meinen in ihrer täglichen Arbeit, dass der Fortschritt eher frustrierend langsam ist. Aber tatsächlich ist er riesig, wenn man einen längeren Zeitraum beurteilt.
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Frühere Beiträge aus der Reihe Gespräche mit Ökonomen:
1. Rüdiger Bachmann (RWTH Aachen) über DSGE-Modelle in der Makroökonomik
2. Daron Acemoglu (MIT) über die Anwendung seiner Institutionenökonomik auf die Eurokrise
3. Carl Christian von Weizsäcker (Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern) über die Begründung sehr niedriger Zinsen durch die Kapitaltheorie
4. Axel Ockenfels (Universität Köln) über die Grenzen der experimentellen Ökonomik
5. Raghuram Rajan (Chicago) über Exzesse der Geldpolitik und holistische Finanzmarktregulierung
6. Thomas Piketty (Paris School of Economics) über seine Bewunderung des Kapitalismus