Wer erinnert sich noch an den Rinderwahn? Anfang des Jahrtausends hielt die Tierseuche die Nation in Atem. Im November 2000 wurde in der Republik das erste Tier mit Rinderwahn gesichtet. Seitdem rätselten die Menschen: Wird sich die Gehirnerkrankung unter den Tieren jetzt rasend schnell ausbreiten? Und vor allem: Ist der Verzehr von Rindfleisch für den Menschen gefährlich?
“Die Gefahr war medial nicht nur super-, sie war omnipräsent”, sagt Ökonom Walter Krämer. Monatelang habe man im Fernsehen und auf Titelseiten torkelnde Kühe gesehen. Doch die Katastrophe blieb aus. Wer heute im Restaurant ein Rindersteak bestellt, hat die torkelnden Tiere längst vergessen. Finanziell betrachtet, hat Rinderwahn (BSE) trotzdem weh getan. Für die “überflüssige Bekämpfung einer nie existierenden Gefahr” habe die damalige Landwirtschaftsministerin Renate Künast 1,5 Milliarden Euro aus dem Fenster geworfen, sagt Krämer.
Die BSE-Panik ist eines von vielen Beispielen, mit denen Ökonom Krämer seine These untermauert: Die Menschen leiden unter einem “irrationalen und panikanfälligen Verhalten”, wenn sie Unsicherheit und Risiko ausgesetzt sind. In Deutschland sei der Hang zur Hysterie ganz besonders schlimm. Diesem Missstand widmete der Statistikprofessor der Technischen Universität Dortmund in der vergangenen Woche seine “Thünen-Vorlesung” bei der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik in Hamburg.
Aber warum handeln die Menschen im 21. Jahrhundert nicht klüger? Der Ökonom, der populäre Bücher wie das Lexikon der populären Irrtümer verfasst hat, holt weit aus. Als seinen Kronzeugen zitiert Krämer den Zoologen Desmond Morris. Vor mehreren Jahrzehnten hat Morris das Buch “Der nackte Affe” verfasst, ein echtes Aha-Erlebnis. Denn unser heutiges Verhalten sei genetisch fest verankert und damit im Prinzip das gleiche wie bei den Ur-Affen vor einer Million Jahren.
Das Problem dabei: Die Panikautomatismen, die uns in der Savanne oder im Regenwald vor den Angriffen wilder Tiere geschützt haben, seien heute kontraproduktiv und teuer. Wie der Nobelpreisträger Daniel Kahneman, ein zweiter Kronzeuge des Forschers, hält Krämer die Menschen evolutionär bedingt für miserable Statistiker. “Statistisches Denken hat in 99 Prozent der Menschheitsgeschichte keinen Überlebensvorteil gebracht und ist deshalb durch Auslese nicht gefördert worden.” Während kleine Kinder komplexe Grammatikregeln beherrschten, scheiterten Erwachsene an einfachen Statistikaufgaben.
Ein Denksystem aus Urzeiten überlagere in vielen Fällen die ebenfalls in unseren Köpfen verankerte streng rationale Denkweise. Und dieses oft dominante Denksystem sei eben kein Optimierer, sondern ein Heuristiker, ein “mentaler Abkürzer”. Das führt zu Trugschlüssen: Kleine Gefahren nehmen wir gar nicht wahr oder – wenn wir darauf gestoßen werden – übertrieben intensiv. Ein dramatisches Beispiel seien Beipackzettel für Arzneimittel. Weil Patienten in den Zetteln auf mögliche Nebenwirkungen hingewiesen werden, würden sie notwendige Medikamente oft absetzen, mit tödlichen Folgen, die möglicherweise weit über dem liegen, was an Unheil durch Nebenwirkungen erwartet werden könne. Würde man Beipackzettel verbieten, würde das jährlich Tausende von Menschenleben retten, behauptet der Forscher.
Ob wir Risiken über- oder unterschätzen, hänge systematisch von einer Reihe von Merkmalen ab: Künstliche Gefahren (Strahlung bei Castortransporten) halten wir für gefährlicher als natürliche Strahlung (beim Fliegen). Gefahren, die wir nicht gut verstehen (Krebserkrankungen) verängstigen uns mehr als einfach nachvollziehbare Gefahren (Herzinfarkt). Wenn wir ein Risiko schon einmal am eigenen Leib zu spüren bekommen haben (Hundebiss), macht uns dieses Risiko künftig größere Sorgen, als es statistisch gesehen nötig wäre. Wenn wir etwas kennen und uns etwas unkontrollierbar, zufällig oder tödlich treffen könnte – sei es Ebola, die Schweinepest oder ein Atomunfall -, sei die Panik programmiert, fasst Krämer zusammen.
Die Schuld dafür, dass diese kollektiven Panikattacken in Deutschland besonders stark ausfallen, treffe auch die Medien. Es sei “typisch deutsch”, den Menschen im Fernsehen und in Zeitungen ständig Gefahren unter die Nase zu reiben. Krämer untermauert das mit einer Statistik. Bestimmte deutsche Medien berichteten demnach rund viermal so häufig über Gefahren wie BSE, Dioxin und Asbest wie vergleichbare Medien in Spanien, Italien und Frankreich. “Auf diese Weise werden Risiken ganz automatisch, ohne dass wir es merken, auf geradezu groteske Weise aufgebauscht”, sagt Krämer. All das erzeuge hierzulande ein riesiges Angst-, Protest- und Verweigerungspotential”, das neue Ideen oft schon im Keim ersticke. Darum gebe es in Deutschland keine grüne Gentechnik, kein Fracking, keine friedliche Nutzung der Kernenergie. Dass bei allem Neuen nicht die Bedenkenträger, sondern die Innovatoren in der Beweispflicht stünden, sei einer der größten Standortnachteile, die sich Deutschland leiste. “Zu viele Menschen verwenden ihre Energie für die Bekämpfung von Scheinproblemen”, beklagt Krämer.
All das mag stimmen. Und Aufklärung, wie Krämer sie betreibt, über sich immer wiederholende Hysterie ist enorm wichtig. Sie kann helfen, übertriebene Ängste zu lindern und die Folgekosten für die Gesellschaft zu verringern. Sie kann Politiker zu unaufgeregten Entscheidungen motivieren. Und sie kann Journalisten vor Panikmache bewahren. Aber einfach wegwischen oder übergehen darf man die Ängste der Menschen trotzdem nicht, seien sie noch so irrational. Krämer sagt: “Da ja in einer Demokratie die Regierung von den Wählern gewählt werden muss, kommen durch eine verbreitete Risikophobie immer wieder sehr seltsame Gesetze zustande, die katastrophale ökonomische Konsequenzen haben.” Aber was wäre die Alternative? Ein Entscheidungsroboter, der allein auf Grundlage statistisch errechneter Risiken Regeln erlässt und die Sorgen ignoriert? Oder Medien, die drohenden Gefahren nur so viel Raum zugestehen dürfen, wie es ein Versicherungsmathematiker mit Blick auf Eintrittswahrscheinlichkeiten für angemessen hält? Das kann kein Ökonom wollen. Der Preis, der für ein solches, möglicherweise ökonomisch effizienteres System zu zahlen wäre, überstiege die Kosten für manch sinnlose Gefahrenprävention um ein Vielfaches. Zudem darf man nicht vergessen, dass manche Panikattacke auch Positives bewirkt. Die große Angst vor den Folgen des Ozonlochs etwa hat dazu beigetragen, dass Staaten rasch auf ozonschädigendes FCKW verzichtet haben. Viele Fälle von Hautkrebs seien durch den Fortschritt in diesem Bereich verhindert worden, heißt es in einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen. Die Menschen müssen mit ihren überzogenen Ängsten konfrontiert werden, zu Robotern werden sie trotzdem nicht. Denn wie sagt Krämer: Die Verhaltensweisen sind tief in uns veranlagt.