Auf beiden Seiten des Atlantiks gibt es Versuche, deutsche und amerikanische Ökonomen gegeneinander in Stellung zu bringen. Rüdiger Bachmann, Professor in den Vereinigten Staaten und Mitglied des Erweiterten Vorstands des Vereins für Socialpolitik, wendet sich dagegen. Ein Gespräch über die Rolle expansiver Fiskalpolitik in einer Wirtschaftskrise sowie einäugige Keynesianer und Ordoliberale.
Herr Bachmann, Ökonomen wie Paul Krugman und Journalisten wie Wolfgang Münchau argumentieren, dass Wirtschaftskrisen auf mangelnder gesamtwirtschaftlicher Nachfrage beruhen und durch eine expansive Fiskalpolitik in keynesianischem Geist bekämpft werden sollten. Den deutschen Ordoliberalen wird vorgeworfen, dass sie mit ihrer Beharrung auf Angebotspolitik den Charakter der Krise verkennen. Umgekehrt sehen deutsche Ordnungsökonomen die angelsächsische Ökonomik mit ihrer Nachfrageorientierung auf dem Holzweg. Sie arbeiten als deutscher Ökonom an der University of Notre Dame in den Vereinigten Staaten: Was stört Sie an solchen Äußerungen?
In Kurzform: Erstens, dass angelsächsische Ökonomik mit Keynesianismus gleichgesetzt wird. Zweitens, dass Makroökonomik mit Keynesianismus gleichgesetzt wird. Drittens, dass Ökonomik in Deutschland mit einem mikroökonomisch fundierten Ordoliberalismus gleichgesetzt wird. Das ist so grottenfalsch, dass es einer Replik bedarf. Viertens stört mich, dass über dem alten IS/LM-Keynesianismus der moderne Neo-Keynesianismus vernachlässigt wird, der gerade bei der Beurteilung von Fiskalpolitik ganz anders argumentiert. Und schließlich ist die politökonomische Blindheit der Keynesianer kritikwürdig.
Fangen wir mit einem Beispiel an!
Den deutschen Ordoliberalen wie Ludwig Erhard wird vorgeworfen, sie hätten keine brauchbare Erklärung für die Große Depression in den dreißiger Jahren, weil sie nicht an die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gedacht hätten, sondern schädliche Monopole für die Krise verantwortlich machten. Das ist aber keine ausschließliche Wahrnehmung deutscher Ökonomen. Auch angesehene amerikanische Ökonomen wie Harold Cole und Lee Ohanian argumentieren ähnlich, indem sie jedenfalls für die langsame Erholung aus der Großen Depression auf wirtschaftliche Verzerrungen als Folge wachsender Monopolmacht von Unternehmen und eines zunehmenden Einflusses der Gewerkschaften hinweisen. Es gibt mehrere konkurrierende Erklärungsansätze für die Große Depression und ihre Dauer und wir wissen nicht genau, welcher richtig ist. Aber es gibt keine typisch deutsche und keine typisch amerikanische Erklärung.
Lassen Sie uns zur Gegenwart kommen. Sind denn die Vorwürfe gegenüber der Ökonomik in Deutschland gerechtfertigt?
Ich habe im jüngsten Methodenstreit selbst gegen die alte Ordnungsökonomik gefochten und es lässt sich nicht bestreiten, dass sich Vertreter einer erstarrten Version des Ordoliberalismus wie Inselbewohner verhalten und sich von der internationalen Diskussion abschotten. Und ich will auch nicht ausschließen, dass diese Ökonomen stärker auf die Politik einwirken als die deutschsprachigen Makroökonomen, was schade ist. Aber es ist frech und falsch, die alten deutschen Ordoliberalen mit den modernen deutschen Makroökonomen über einen Kamm zu scheren. Diese modernen, theoretisch und empirisch arbeitenden deutschen Makroökonomen bringen sich mit ihren Arbeiten in die internationalen Ökonomendebatten ein.
Gut, dann beschäftigen wir uns mit der Rolle der Fiskalpolitik in der Makroökonomik. Lassen Sie uns mit dem alten Keynesianismus beginnen, wie ihn Paul Krugman vertritt und der die Krise als ein Problem fehlender gesamtwirtschaftlicher Nachfrage sieht. Wie plausibel ist das?
Das alte IS/LM-Modell, mit dem Krugman hantiert, ist sicherlich eine gute Heuristik, aber es erklärt nicht, wie genau fehlende Nachfrage persistent niedrige gesamtwirtschaftliche Aktivität verursacht. Man muss sich auch fragen, warum die behauptete jahrelange Schwäche der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage nicht längst zu einer großen Deflation geführt hat.
Ein Keynesianer würde vermutlich sagen, dass die Löhne rigide sind und deshalb auch die Preise nicht fallen.
Ich würde das nicht ausschließen, aber wir brauchen mehr empirische Evidenz. Daran wird zur Zeit gearbeitet. Es gibt aber noch andere Erklärungen, warum es keine Deflation gibt.
Welche?
Zum Beispiel fest verankerte Inflationserwartungen: Die Deflation bleibt aus, weil die Menschen sie nicht erwarten. Zu dem Thema liegt eine neue Arbeit von Olivier Coibion und Yuriy Gorodnichenko vor, die sich mit der Politik der Fed befasst und zu dem Ergebnis gelangt, dass die Fed in dieser Hinsicht sehr erfolgreich war. Ein dritter Grund wäre erhöhte Unsicherheit. Dazu gibt es eine Arbeit von Keith Küster aus Bonn mit amerikanischen Coautoren. Ein vierter Grund sind Finanzierungsprobleme.
Im alten keynesianischen IS/LM-Modell, das viele unserer Leser in ihrem Studium kennengelernt haben, wirkt staatliche Nachfrage über einen Multiplikatoreffekt anregend auf die Wirtschaft. Wenn der Staat für 100 Millionen Euro seine Ausgaben erhöht, steigen damit die Einkommen um 100 Millionen Euro, von denen ein Teil konsumiert wird. Diese Einkommenseffekte pflanzen sich durch die Wirtschaft fort und die Befürworter argumentieren, dass am Ende das BIP um mehr als 100 Millionen Euro steigt. In diesem Falle wäre der Multiplikator größer als 1; expansive Fiskalpolitik würde positiv wirken. Was sagt denn die Empirie zum Multiplikator?
Das ist sehr kompliziert. Es gibt zwar eine weitgehende Übereinstimmung, dass in normalen Zeiten der Multiplikator eher klein ist und etwas unter Eins liegt. Die aktuelle Debatte dreht sich um die Frage, ob der Multiplikator abhängig von der Wirtschaftslage ist und ob er besonders hoch ist, wenn sich die Wirtschaft in einer Rezession befindet. Das lässt sich inzwischen mit statistischen Methoden testen. Das wichtigste Papier stammt von Alan Auerbach und Yuriy Gorodnichenko und es sagt: Ja, in der Rezession ist der Multiplikator besonders hoch und er kann dann etwa bei Zwei liegen. Eric Sims und ich sind in einer Arbeit zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. In der gleichen Arbeit argumentieren wir aber auch, dass die positiven Effekte eher weniger mit einer anderen Keynesianischen Idee zu tun haben, nämlich dass der Staat durch erhöhte Ausgaben positive Animal Spirits wecken kann, sondern eher mit neoklassischen produktivitätsfördernden Effekten öffentlicher Investitionen.
Ein Multiplikator von Zwei in einer Rezession scheint Krugmans Forderung nach expansiver Fiskalpolitik Recht zu geben, oder?
Ja, aber die Ergebnisse sind leider sehr methodenabhängig. Es gibt andere statistische Methoden, bei deren Anwendung die These eines konjunkturabhängigen Multiplikators nicht mehr gilt. Dies wurde erst im letzten Sommer auf einer Tagung diskutiert. Ich bin in dieser Frage zwiegespalten. Man muss klar sagen: Die empirische Diskussion um den Multiplikator ist nicht abgeschlossen.
Nun ist Paul Krugman Vertreter einer alten Version des Keynesianismus. Wie argumentieren moderne Keynesianer?
Neokeynesianische Modelle funktionieren völlig anders als das altkeynesianische IS/LM-Modell. Die Wirkungskette expansiver Fiskalpolitik verläuft ganz anders, inbesondere nicht über einen Einkommensmultiplikator.
Wie dann?
Im neokeynesianischen Modell sind zwei Annahmen wichtig: Preise und Löhne passen sich mit Verzögerung an wirtschaftliche Veränderungen an und es gibt keine vollständige Konkurrenz auf den Gütermärkten. Jetzt nehmen wir an, der Staat beschließt eine expansive Fiskalpolitik und will zusätzliche Güter kaufen, die von den Unternehmen geliefert werden. Die Unternehmen wissen, dass sie die zusätzliche Produktion nur zu höheren Grenzkosten liefern können. Da die Preise erst mit Verzögerung reagieren, steigen sie nicht sofort, aber es bilden sich Inflationserwartungen. Die Inflationserwartungen können, abhängig von der Reaktion der Geldpolitik, den Realzins beeinflussen und darauf kommt es in dem neokeynesianischen Modell besonders an: Die Wirksamkeit expansiver Fiskalpolitik hängt von Veränderungen des Realzinses ab. Das ist etwas völlig anderes als der Multiplikator im altkeynesianischen IS/LM-Modell.
Wie reagiert die Geldpolitik auf die Erwartung einer steigenden Inflationsrate?
Hier gibt es zwei Fälle. Die Zentralbank erhöht angesichts der steigenden Inflationserwartungen ihren Zins und konterkariert damit den expansiven Effekt der Fiskalpolitik, die auf einer Senkung des Realzinses beruht. Das ist sozusagen der Normalfall (Stichwort: Taylorprinzip) und deshalb haben die meisten Makroökonomen normalerweise kein Vertrauen in große positive Effekte expansiver Fiskalpolitik.
Okay, aber wir leben nicht im Normalfall. Der Zins ist nahe Null und die Zentralbanken zeigen wenig Neigung, ihren Leitzins zu erhöhen. Dann könnte expansive Fiskalpolitik im neokeynesianischen Modell funktionieren?
Genau. Wenn die Zentralbank trotz steigender Inflationserwartungen ihren Leitzins nicht erhöht, dann sinkt der Realzins und expansive Fiskalpolitik könnte über den anregenden Effekt eines sinkenden Realzinses auf Konsum und Investitionen die Wirtschaft beleben. Jedenfalls ist das in der Theorie so, aber empirische Arbeiten wecken einige Zweifel.
Das sollten wir uns genauer anschauen, was die Empirie zur neokeynesianischen Theorie sagt, die expansive Fiskalpolitik über höhere Inflationserwartungen und einen sinkenden Realzins belebend auf Investitionen und Konsum wirken lässt.
Beginnen wir mit einer Arbeit von William Dupor und Rong Li. Sie schauen sich den amerikanischen Recovery Act an und fragen: Haben die höheren Staatsausgaben zu höheren Inflationserwartungen geführt? Die Antwort lautet: Nein. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Fiskalpolitik und Inflationserwartungen. Dieser Teil der Wirkungskette funktioniert schon einmal möglicherweise nicht.
Was haben wir noch?
Ein Paper von mir, Tim Berg und Eric Sims (“Inflation Expectations and Readiness to Spend: Cross-Sectional Evidence”) schaut sich an, ob die Menschen überhaupt verstehen, dass aus steigenden Inflationserwartungen ein sinkender Realzins und eine Belebung der Wirtschaft folgen kann. Denn wenn die Menschen diesen Zusammenhang verstünden, würden sie in Erwartung höherer Inflationsraten schnell noch Güter kaufen, darunter langlebige Güter wie Häuser und Autos. Dies überprüfen wir anhand von Umfragedaten, konkret dem Michigan Consumer Survey. Wir finden einen solchen Zusammenhang aber nicht. Auch dieser Wirkungskanal des neokeynesianischen Modells ist zumindest zweifelhaft. Und ich habe noch ein drittes Beispiel.
Worum geht es da?
Ein junger deutschsprachiger Ökonom, Johannes Wieland, hat sich mit der Wirkungsweise des neokeynesianischen Modells in einer Nullzinsphase befasst. Nehmen wir an, dass der Ölpreis deutlich steigt. Dies müsste in dem Modell expansiv wirken, weil mit dem Ölpreis die Inflationserwartungen steigen und der Realzins sinkt, was die gesamtwirtschaftliche Nachfrage anregt. Das betont auch Paul Krugman immer: Angebotsschocks wie steigende Ölpreise, die in normalen Zeiten negativ wirken, wirken an der Nullzinsgrenze positiv.
Was sagen denn empirische Untersuchungen für den Fall steigender Ölpreise bei einem Zinsniveau von Null?
Dies lässt sich untersuchen, weil wir diese Situation in Japan hatten. Die Antwort steht im Widerspruch zur neokeynesianischen Theorie. Denn auch bei einem Zins von Null wirkt ein steigender Ölpreis nicht expansiv, sondern kontraktiv.
Mit anderen Worten: Die Empirie führt zu erheblichen Zweifeln an der Tauglichkeit expansiver Fiskalpolitik im neokeynesianischen Modell.
Ja, aber es kommen auch noch theoretische Zweifel hinzu.
Auch das noch. Welche?
John Cochrane und die deutsche Ökonomin Stefanie Schmidt-Grohe weisen darauf hin, dass es in den neokeynesianischen Modellen mehrere Gleichgewichte gibt. Das eine Gleichgewicht ergibt sich als Folge der Wirkungskette, die wir gerade beschrieben haben. Es sind aber auch andere Effekte denkbar. Daneben hat John Cochrane in Anlehnung an Arbeiten des amerikanischen Ökonomen Irving Fisher die Frage aufgeworfen, ob wir in eine Situation kommen, in der steigende Leitzinsen zu höheren anstatt zu niedrigen Inflationsraten führen werden. Und schließlich ist auch nicht klar, wie sich das Sparverhalten anpasst, wenn die Zinsen lange nahe Null bleiben.
Was meinen Sie damit?
Es wird gerne argumentiert, ein sehr niedriger Zins verleite die Menschen dazu, weniger zu sparen und mehr zu konsumieren. Das ist der sogenannte Substitutionsefekt. Wenn die Menschen aber eine bestimmte Sparsumme erreichen wollen, zum Beispiel für die Altersvorsorge, müssen sie bei einem Zins von Null mehr Ersparnisse bilden als bei einem positiven Zins. Das ist der sogenannte Einkommenseffekt. Darüber hinaus meine ich, viele Ökonomen und auch die Geldpolitik überschätzen vielleicht die Rolle des Zinses für das Spar- und Konsumverhalten. Das Verhalten der Menschen scheint eher von den Einkommenserwartungen abzuhängen. In der obengenannten Arbeit mit Berg und Sims finden wir dafür Hinweise. In dieser Hinsicht liege ich vielleicht sogar eher bei den Altkeynesianern. Dazu gibt es in letzter Zeit auch interessante theoretische Arbeiten, die altkeynesianisches Gedankengut mit moderneren Ideen verknüpfen.
Wir haben uns bisher ausführlich mit alten und neuen keynesianischen Ansätzen befasst, die einen Mangel an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage als wesentliche Krisenursache diagnostizieren. Und wir haben gesehen, dass diese Erklärung zumindest hinterfragt werden kann. Wie lautet Ihr Fazit?
Es gibt für die Vereinigten Staaten wohl Hinweise für die positive Wirksamkeit von Fiskalpolitik in einer Rezession, aber sehr überzeugend sind sie nicht. Wenn wir auf die Eurozone blicken, kommen noch spezielle Fragen hinzu. Zum Beispiel: Welche Folgen hätte eine expansive Fiskalpolitik in Deutschland für den Rest der Eurozone? Wir wissen überhaupt nicht, wie groß und wie nachhaltig die internationalen Effekte einer expansiven deutschen Fiskalpolitik wären. Wenn die Südeuropäer selbst expansive Fiskalpolitik betreiben würden, wäre die Frage: Können die sich das überhaupt leisten? Man muss sich auch mit den politökonomischen Folgen expansiver Fiskalpolitik in der Währungsunion befassen. Das tun die Keynesianer überhaupt nicht und das ist eine große Schwäche. Umgekehrt befassen sich deutsche Ordoliberalen zu einseitig mit politökonomischen Fragen und zu wenig mit der Makroökonomik.
Was wäre der richtige Ansatz?
Die Lage ist politisch verfahren. Ansonsten könnte man eine expansive makroökonomische Politik, die auf Steuersenkungen für vor allem ausländische Investitionen beruht und durch temporäre Eurobonds finanziert wird, an angebotsökonomische Auflagen in den Krisenländern binden. Warum investieren ausländische Investoren in Ländern wie Spanien, Italien oder Frankreich so wenig, und zwar in produktive Aktivitäten, keine spanischen Immobilien? Vermutlich spielen hohe Steuern, ineffiziente Märkte und vielleicht auch Korruption eine Rolle.
Von öffentlichen Investitionen halten Sie wenig?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Aber wie genau sollen die stattfinden, wie schnell kann man das machen? Es lässt sich immer leicht sagen, der Staat solle seine investiven Ausgaben erhöhen, aber der Teufel steckt doch im Detail. Ich habe dazu noch nicht viel Überzeugendes gehört, lasse mich aber gerne eines Besseren belehren. Nehmen Sie als Beispiel die Bildung. Hört sich gut an, Bildung ist fast immer gut. Aber woher sollen denn die qualifizierten Kindergärtnerinnen, Lehrer und Professoren so schnell kommen? Vielleicht könnte man noch am ehesten über digitale Infrastrukturinvestitionen nachdenken.
Ist der Spielraum für expansive Geldpolitik ausgenutzt?
Ja, das ist wohl so und ich sehe da auch einen weitgehenden Konsens auch und gerade mit Paul Krugman und Wolfgang Münchau, jedenfalls, wenn man im gegenwärtigen legalen Rahmen der Geldpolitik bleibt. Ich glaube schon, dass eine Zentralbank einer Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und Inflation erzeugen könnte, wenn sie zum Beispiel jedem Menschen Geld in die Hand drückte, das berühmte Hubschraubergeld. Aber das darf sie zur Zeit nicht, weil es Fiskalpolitik wäre. Die Machtlosigkeit der Geldpolitik an der Nullzinsgrenze ist ja der Grund, warum Keynesianer expansive Fiskalpolitik befürworten.