Das billige Geld verschärft die Ungleichheit, lautet der Vorwurf. Bewiesen ist das nicht.
Für die Kapitalismuskritiker der Occupy-Bewegung ist die Sache klar: Die mächtigen Notenbanken in Washington, Frankfurt und Tokio machen Politik für das obere ein Prozent der Bevölkerung. Wenn die Zentralbanken im großen Stil Wertpapiere aufkaufen und ihre Bilanz ausweiten, dann fließen die Milliarden ohne große Umwege auf die Konten der Superreichen. Die Notenbanken scheren sich nicht darum, dass sie die Kluft zwischen Armen und Reichen weiter aufreißen, wettern die Aktivisten. Wenn Mario Draghi und Co. demnächst den nagelneuen Wolkenkratzer im Frankfurter Osten beziehen, werden die Aktivisten dabei sein und ihrer Wut Luft machen.
Die Zentralbanker haben in der Gerechtigkeitsdebatte lange geschwiegen. Schließlich ist ihr Mandat die Geldpolitik, also allem voran die Stabilität von Preisen. Verteilungsfragen stehen nicht auf ihrer Agenda, sondern müssen von demokratisch gewählten Regierungen beantwortet werden. Doch offenbar können die Damen und Herren des Geldes das Thema nicht länger ignorieren. “Unkonventionelle Geldpolitik, im Besonderen Anleihenkäufe in großem Umfang, scheinen die Einkommensungleichheit zu erhöhen, wenngleich es schwierig ist, das genau zu quantifizieren”, dozierte der luxemburgische EZB-Direktor Yves Mersch kürzlich. Bemerkenswert war das vor allem, weil die Notenbank gerade damit beginnt, für viele Milliarden Euro Kreditverbriefungen aufzukaufen. Und die Präsidentin der Federal Reserve, Janet Yellen, zeigte sich zuletzt “sehr besorgt” über soziale Ungleichheit in den Vereinigten Staaten. Das Ausmaß und der kontinuierliche Anstieg beunruhige sie sehr. Laut einer Fed-Untersuchung besitzt die ärmere Hälfte der amerikanischen Haushalte nur ein Prozent des Vermögens, vor einem Vierteljahrhundert waren es zumindest noch drei Prozent. Yellen vermied es allerdings, die naheliegende Frage zu thematisieren, ob die Fed mit ihrer unkonventionellen Geldpolitik für diese Entwicklung mitverantwortlich ist.
Auf den ersten Blick ist die Sache sonnenklar. Wenn die Zentralbanken für Hunderte Milliarden Dollar oder Euro Kreditpakete, Unternehmens- oder Staatsanleihen kaufen (Quantitative Easing), treibt das die Kurse dieser Papiere nach oben und drückt die Renditen. Wenn Anleger dann ihr Geld in lukrativere Aktien umschichten, steigen die Kurse. Da Aktien aber vorwiegend in den Depots der Reicheren liegen, profitieren diejenigen, die am oberen Ende der Vermögensverteilung stehen, überdurchschnittlich. Am anderen Ende leiden die Sparer, denen die Minizinsen, die sie auf ihre Ersparnisse bekommen, zu schaffen machen. In ihrem Weltvermögensbericht hat die Allianz gerade vorgerechnet, dass die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank die Privathaushalte in Deutschland seit dem Jahr 2010 etwa 23 Milliarden Euro gekostet habe. Zu den großen Verlierern gehören auch diejenigen, die auf Betriebsrente setzen und nun weitaus weniger herausbekommen als gedacht.
So eingängig die These wachsender Ungleichheit durch unkonventionelle Geldpolitik auch sein mag, sie ist doch umstritten. Während eine Studie über die Entwicklung in Japan die These stützt, kommt ein vierköpfiges Forscherteam um Wells-Fargo-Chefökonom John Silvia und Yuriy Gorodnichenko (University of Berkeley) zu entgegengesetzten Ergebnissen. Die Ökonomen identifizieren mehrere Kanäle, durch die Geldpolitik die Ungleichheit beeinflussen kann, der von den Kritikern beschriebene “Portfolio-Effekt” hin zu mehr Aktien ist nur einer davon. Diesem Effekt wirke entgegen, dass Menschen mit geringerem Arbeitseinkommen konjunkturelle Schwankungen sehr viel stärker zu spüren bekommen als Besserverdiener. Wenn es den Notenbanken also gelingt, durch ihre Bilanzausweitung die Wirtschaft in Schwung zu bringen und Unternehmen darin zu bestärken, neue Arbeitsplätze zu schaffen oder auf Entlassungen zu verzichten, dann profitieren zuallererst die Ärmeren. Zudem müssen die Einkommensschwachen häufiger Kredite bedienen als Menschen mit finanziellen Reserven – die Schuldner profitieren vom Niedrigzins. Hinzu kommt: Falls Häuserpreise durch die ultralockere Geldpolitik anziehen, dann kann davon zumindest auch die Mittelschicht profitieren.
Um herauszufinden, welcher Effekt den Ausschlag gibt, haben die Forscher Daten zu Konsum und Einkommen amerikanischer Haushalte der Jahre 1980 bis 2008 in Zusammenhang mit der Geldpolitik der Fed gesetzt. Obwohl die Studie die Jahre der Finanzkrise außen vor lässt und die Haushaltsumfragen das obere Prozent in der Einkommensverteilung nicht erfasst, ziehen die Forscher ein eindeutiges Fazit: Die Straffung der Geldpolitik hat die Ungleichheit im Untersuchungszeitraum erhöht, während expansive Maßnahmen die Ungleichheit verringert haben, schreiben die Ökonomen.
Ganz andere Schlüsse ziehen allerdings Ayako Saiki und Jon Frost, zwei Ökonomen der niederländischen Zentralbank, die sich der Sache mit ähnlicher Methode in Japan genähert haben. In Japan hat die Notenbank in mehreren Stufen und schon seit der Jahrtausendwende Wertpapiere gekauft. Dafür, dass sich “die Aktienkurse in Japan im Zeitraum 2001 bis 2006 mehr als verdoppelt haben”, sei zum Teil die unkonventionelle Geldpolitik der Notenbank verantwortlich. In den Folgejahren finden die Forscher weitere Indizien: “Unsere Regression zeigt, dass die unkonventionelle Geldpolitik die Ungleichheit insbesondere nach 2008, als die Quantitative Lockerung aggressiver geworden ist, ausgeweitet hat”, schlussfolgern die Autoren.
Hinter der Frage nach den Folgen für die Einkommensverteilung steht die theoretische Debatte darüber, ob Wertpapierkäufe die Preise für Aktien und Wertpapiere überhaupt beeinflussen. Die nach dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Neil Wallace benannte “Wallace-Neutralität” spricht dagegen. Vereinfacht gesagt, behauptet Wallace, dass rationale Anleger sich ausschließlich nach der fundamentalen Bewertung von Wertpapieren richten und sie die Papiere verkaufen, wenn die Notenbank durch ihre Zusatznachfrage vorübergehend für einen “zu hohen” Kurs sorgt. Unter dem Strich bliebe dann alles beim Alten. Dieser Mechanismus funktioniert allerdings nur in perfekten Märkten – von denen Finanzmärkte bekanntlich weit entfernt sind. Wenn zum Beispiel Versicherungen ihr Vermögen wegen bestimmter gesetzlicher Vorgaben nicht beliebig umschichten können, werden die Preise sehr wohl verzerrt. Die empirischen Erkenntnisse zu dieser Grunddebatte sind alles andere als eindeutig. Während beispielsweise in den Vereinigten Staaten seit der Finanzkrise eine Korrelation zwischen Aktienkursen und Bilanzsumme der Fed klar erkennbar ist, war die Entwicklung in Europa in den vergangenen Jahren gegenläufig.
Und dann ist da noch die nicht zu vernachlässigende Frage: Was wäre, wenn die Notenbank ganz anders gehandelt hätte? Wäre die Wirtschaft in Amerika oder Japan ohne die aggressive Geldpolitik stärker oder schwächer gewachsen – oder in der Krise gar zusammengebrochen? Antworten sind reine Spekulation, sie sind aber mitentscheidend für die Ungleichheitsdiskussion.