Wenn Ethiker über das Finanzsystem sprechen, geht es zunächst nicht um Effizienz und funktionierende Märkte. Sondern darum, ob es die Menschen dabei unterstützt, als Bürger einer freien Gesellschaft zu leben.
Als der Ethikprofessor Bernhard Emunds im Oktober 2008, einen Monat nach der Lehman-Pleite, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die Finanzkrise sprach, warnte er davor, nun den Untergang des Abendlandes auszurufen. Eine handfeste Wirtschaftskrise, wie sie danach folgte, hielt er für möglich. Aber er sagte auch: „Wir haben keine Krise der abendländischen Vernunft, wie sie sich seit der Aufklärung durchgesetzt hat. Denn diese Vernunft ist nie einfach auf das Strategisch-Instrumentelle oder auf das Ökonomisch-Rationelle beschränkt gewesen.“ Tatsächlich ist auch heute, sechs Jahre später, weder der Kapitalismus an sich verschwunden noch sind die marktwirtschaftlichen Gesellschaften des Westens auseinandergebrochen.
Dafür haben sich mittlerweile Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen mit der Krise und ihren Ursachen und Folgen auseinandergesetzt. Zunächst natürlich die Ökonomen, aber auch Soziologen, Historiker und zunehmend – Ethiker: diejenigen also, die systematisch ergründen, was gut und schlecht ist. Bernhard Emunds ist einer von ihnen. Er leitet das Nell-Breuning-Institut an der katholischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt und hat nun seine „Politische Wirtschaftsethik globaler Finanzmärkte“ vorgelegt. Drei konkrete Kritikpunkte, die er darin am bestehenden System vorbringt, klingen so, als würde vornehmlich ein Ökonom sprechen: Die Banken findet er immer noch zu unstabil. Viele Finanztransaktionen bringen aus seiner Sicht nichts in dem Sinne, dass sie zum gesellschaftlichen Wohlstand beitragen. Und zu wenig sei getan worden, um zu verhindern, dass auch künftige Krisen vor allem eher ärmere Menschen treffen.
Im Gegensatz zu Ökonomen geht es dem Ethiker Emunds aber nicht in erster Linie um Kategorien wie Effizienz, Wachstum oder darum, ob ein Markt (perfekt) funktioniert, sondern wesentlich darum, ob wir als freie Bürger einer Demokratie mit gegenseitigem Respekt voreinander leben können. Die Wirtschaft als Teil der Gesellschaft und auch das Finanzsystem müssten das ermöglichen helfen, gibt er eine klare Rolle vor. Schon gar nicht dürften sie dieses Ziel aushöhlen. Zudem stehen in Emunds’ Ethik nicht Fragen im Mittelpunkt wie die, ob ein spezieller Banker zu gierig, ein Bankenaufseher zu lasch oder ein Bankkunde zu leichtsinnig gewesen ist. Ihm geht es um die politisch beeinflussbaren Strukturen insgesamt oder – in den Worten des Wirtschaftsethikers Karl Homann – die „Spielregeln“.
Großer Schaden für Unbeteiligte
Eine zentrale Frage nicht nur für ihn ist in dieser Hinsicht, welche möglichen Risiken das Finanzsystem Unbeteiligten zumutet. „Wie die jüngste Finanzkrise zeigt, sind viele Menschen massiv beeinträchtigt, obwohl sie gar nicht direkt an den Finanzmärkten engagiert sind – und zwar sogar auch dann, wenn sich die Akteure an den Märkten gerade nicht an manipulativen oder betrügerischen Aktionen beteiligt haben“, sagt Klaus Steigleder, Ethikprofessor an der Ruhr-Universität in Bochum. Dass wir andere Menschen Risiken aussetzen, auch ohne sie explizit vorher zu fragen, ist grundsätzlich nicht zu vermeiden. Ein beliebtes Beispiel ist der Straßenverkehr. Wenn wir daran teilnehmen, setzen wir andere immer der Gefahr aus, sie in einen Unfall zu verwickeln. Es dürften eben nur nicht zu große Risiken sein, argumentieren Ethiker wie Emunds und Steigleder. Und vor allem dürfen nicht die eher Unbeteiligten im Nachhinein sogar noch stärker geschädigt sein als die Schadensverursacher.
Die beiden Ökonomen Anton Korinek und Jonathan Kreamer haben jüngst ein Forschungspapier veröffentlicht („The redistributive effects of financial deregulation: wall street versus main street“), in dem sie erklären, wie durch eine Deregulierung der Finanzbranche gerade unbeteiligten Dritten mehr Risiken aufgebürdet werden. Sie vergleichen darin die Finanzwirtschaft mit der Atomindustrie. „Finanzielle Deregulierung ist ähnlich wie die Absenkung der Sicherheitsstandards eines Kernkraftwerkes: Niedrigere Sicherheitsstandards führen zu geringeren Kosten und höheren Profiten für die Kraftwerksbetreiber und womöglich sogar zu günstigeren Stromtarifen für den Rest der Gesellschaft“, schreiben sie. Zugleich erhöhen niedrigere Sicherheitsanforderungen aber auch das Risiko eines Atomunfalls und die damit einhergehenden „massiven negativen Externalitäten“, also einem großen Schaden für Unbeteiligte. Tatsächlich, stellen Korinek und Kreamer fest, bedeute eine zu schwache Regulierung nichts anderes, als demjenigen höhere Profite auf Kosten der Gesellschaft zu ermöglichen.
Angesichts der Finanzkrise und der für notwendig erachteten Bankenrettungen, die einige Länder finanziell so stark in Bedrängnis brachten, dass sie im Gegenzug Sozialleistungen und andere öffentliche Angebote zurückführen mussten, steht auch für viele Ökonomen heute fest: Die Regeln für die Finanzbranche waren zu lax. Dass die zwangsgekürzten Leistungen der Staaten gerade eher weniger wohlhabende Menschen treffen und damit deren Beteiligungsmöglichkeiten an einer demokratischen Gesellschaft einschränken, führen Ethiker wie Emunds als zusätzliches Argument an. Dahinter stecken auch Gedanken aus der Gerechtigkeitstheorie des Philosophen John Rawls, der neben der persönlichen Freiheit auch die Rolle der weniger begünstigten Mitglieder einer Gesellschaft besonders im Blick hatte.
Banken sind Geldschöpfer und nicht irrelevant
Was folgt daraus? Eine zentrale Forderung in Emunds’ Finanzethik lautet: Das Finanzsystem muss robust genug sein, damit Risiken weitgehend diejenigen tragen, die das bewusst wollen. Konkret verlangt er, ähnlich wie etwa der deutsche Ökonom Martin Hellwig, als Lehre aus der Krise deutlich höhere Eigenkapitalforderungen für Geldhäuser. Emunds plädiert für Werte zwischen 10 und 20 Prozent, gemessen an der tatsächlichen Bilanz und nicht anhand gewichteter Vermögenswerte.
Gerade an den Banken anzusetzen hängt mit der ökonomischen Theorie zusammen, die Emunds im Hinterkopf hat: Banken spielen eine zentrale Rolle in der Volkswirtschaft, weil sie selbst Geld schöpfen. Und sie tun dies als eigenständige, gewinnorientierte Unternehmen. Vor der Finanzkrise hatten viele Ökonomen und auch der Hauptzweig der Wirtschaftslehre dies faktisch ignoriert. Denker wie der schon verstorbene und im Zuge der Krise wiederentdeckte Hyman Minsky oder wie Randall Wray und Victoria Chick haben indes gerade die Rolle der Banken als Geldschöpfer jahrzehntelang analysiert – auch im Hinblick auf Finanzkrisen, die aus dem System selbst heraus entstehen. Joseph Schumpeter rief seinerzeit ebenfalls dazu auf, die sehr besondere Funktion der Finanzinstitute nicht zu vernachlässigen. Emunds, der nach Theologie noch Volkswirtschaftslehre studierte, wurde über dieses Thema im Jahr 2000 von Bertram Schefold an der Goethe-Universität in Frankfurt promoviert.
In seiner Finanzethik plädiert er aber nicht nur für robustere Banken. Er hält auch das Finanzsystem insgesamt aus ethischen Gründen für überdehnt. Vieles, was dort passiert, trägt aus seiner Sicht nicht zum gesellschaftlichen Wohlstand bei. „In der neuen Gesamtkonstellation der Finanzwirtschaft verdienen die Finanzinstitute insbesondere damit viel Geld, dass sie die Vermögenspositionen anderer ständig neu arrangieren beziehungsweise diese ständigen Umschichtungen begleiten oder finanzieren“, schreibt er und kritisiert konkret, dass dadurch meist mehr Schulden aufgehäuft werden und damit die Verflechtung im System zunimmt: „Bei solchen Umschichtungen bestehender, nicht neu geschaffener Vermögenswerte wird zumeist auch deren Finanzierung ,optimiert‘, das heißt im Allgemeinen, der Anteil, den die Käufer nicht aus Eigenmitteln, sondern durch Aufnahme neuer Schulden finanzieren, wird immer weiter erhöht.“ Auch diese Kritik klingt eher nach einem Ökonomen als nach einem Ethiker.
Zu viele gute Leute gehen in die Banken
Ein Widerspruch ist das jedoch nicht: Moderne Ethiker verfolgen regelmäßig den Diskurs innerhalb eines Faches und die Schlussfolgerungen der Experten, um ihre ethischen Argumentationsmuster darauf anzuwenden. Was die Frage angeht, wie die Größe des Finanzsystems sich auf das Wirtschaftswachstum eines Landes auswirkt („finance-growth-nexus“), sind die Ökonomen heute viel skeptischer als noch vor Jahrzehnten. Die Annahme, ein umso größeres und weiterentwickeltes Finanzsystem ermögliche immer mehr Wirtschaftswachstum unabhängig von der ökonomischen Entwicklungsstufe, auf der sich ein Land befindet, haben sie in dieser einfachen Form längst fallengelassen. Stephen Cecchetti, ehemals für monetäre Ökonomie verantwortlicher Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, und Enisse Kharroubi sind beispielsweise in einer Analyse im Sommer 2012 (hier)sogar zu dem Ergebnis gekommen, dass die Finanzsysteme der Industrieländer schon lange weit über das Niveau hinausgewachsen sind, auf dem sie für mehr Wirtschaftswachstum sorgen. Ihre heutige Größe gehe eher mit geringeren Wachstumsraten einher. Das Finanzsystem ziehe mit den üppigen Gehältern zum Beispiel viele bestens ausgebildete Spezialisten an, die in der Realwirtschaft der Gesellschaft einen größeren Wohlstand ermöglichen könnten. „Das Ergebnis ist, dass Menschen, die in einer anderen Zeit vielleicht davon träumen würden, Krebs zu heilen oder zum Mars zu fliegen, heute davon träumen, Hedgefonds-Manager zu werden.“
Kritisch diskutiert die Größe des Finanzsystems auch der britische Wirtschaftsethiker John Hendry in seinem gelungenen Einführungsbuch „Ethics and Finance“. Wirklich exakt ausrechnen könne man den Wohlstandsbeitrag des Finanzsystems zwar nicht, konstatiert er. Allerdings hält er es für nicht plausibel, dass die Finanzbranche real tatsächlich einen Betrag leiste, der den Ressourcen entspricht, die sie verschlingt. Als Beispiele nennt er die Gehälter der Investmentbanker und die Gebühren, die Banken verlangen, damit sie Börsengänge oder Unternehmenszusammenschlüsse organisieren und finanzieren. Dabei verweist er unter anderem auf Aussagen des früheren Chefs der britischen Finanzaufsicht FSA, Adair Turner, der sich in den vergangenen Jahren mehrfach kritisch über „seine“ Branche geäußert hat. Ethisch ist das ein Problem: Denn wenn das Finanzsystem schon nicht wie erhofft zur Wertschöpfung beiträgt, sind die mit seiner Größe gewachsenen Risiken (gerade für Unbeteiligte) erst recht schwer zu rechtfertigen.
Was schlagen die Ethiker konkret vor? Emunds würde einige Finanzprodukte wie etwa Verbriefungen von Verbriefungen untersagen. Eher als Verbote würde er aber zum Beispiel Steuern auf Finanztransaktionen einführen und so der Größe des Finanzsystems Kosten auferlegen. Er plädiert auch dafür, das Kreditgeschäft und das Einlagengeschäft von den Wertpapieraktivitäten der Banken zu trennen. Und er fordert, dass Banken und Schattenbanken nur so groß sein dürfen, dass sie im Fall einer Schieflage auch wirklich pleitegehen können, ohne eine Systemkrise auszulösen. Diese Maßnahmen wirken tendenziell der Überdehnung des Finanzsystems entgegen. Der Brite Hendry betont vor allem, dass die Regulierer auf Augenhöhe sein müssen mit einer Bankenbranche, die heute global vernetzt und engagiert ist, und die Regulierer sich deshalb international selbst viel stärker abstimmen und einheitliche Standards setzen sollten.
Die Größe des Finanzsystems als ethisch problematisch zu betrachten, ist dabei zumindest nach der in der traditionellen katholischen Soziallehre gängigen Ethiktradition nicht unbedingt naheliegend. Als der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning im Jahr 1928 seine „Grundzüge der Börsenmoral“ veröffentlichte, orientierte er sich noch stark an der Naturrechtsethik. Dabei geht es zunächst darum, einen Sachverhalt genau zu verstehen unter der Annahme, dass die Dinge ja nicht zufällig so sind, wie sie sind. Ethisch legitim ist es danach kurz gesagt, wenn eine Sache ihren Zweck erfüllt. Auch der Philosoph Peter Koslowski orientierte die im Jahr 2009 überarbeitete aktuelle Fassung seines Werkes „Ethik der Banken“ an diesem Ansatz. Für Emunds ist diese Herangehensweise ein guter Ausgangspunkt. Er bemängelt aber, dass auch der Zweck einer Sache ja nicht „vom Himmel fällt“, sondern selbst Gegenstand von (politischer) Diskussion ist. Er geht wiederum auf der anderen Seite aber auch nicht so weit wie der Schweizer Wirtschaftsethiker Peter Ulrich, der etwa von einem Unternehmer verlangt, sein Handeln maßgeblich auch an der (lokalen) Gemeinschaft auszurichten, in der er sein Unternehmen betreibt. Emunds will weder den Unternehmer noch den Arbeitnehmer überfrachten oder gar überfordern mit einer Vielzahl moralischer Aufträge. Ethisch in Ordnung sein müssen vor allem die Institutionen.