Es bestehen geringe Zweifel, dass Mario Draghi am kommenden Donnerstag gegen den Widerstand von Bundesbankpräsident Jens Weidmann eine Mehrheit in der Führung der Europäischen Zentralbank für ein Programm zum Ankauf von Staatsanleihen mobilisieren kann. Ein solcher Beschluss wäre nicht nur eine Genugtuung für Draghi, sondern ein weiterer Höhepunkt – aber vielleicht auch ein Endpunkt – im Siegeszug einer ökonomischen Denkweise, die vor rund 40 Jahren am Massachusetts Institute of Technology, kurz MIT, einer der angesehensten amerikanischen Universitäten, ihren Anfang nahm.
Zwei Professoren, ein Deutscher und ein Mann aus dem Süden Afrikas, stehen am Ausgangspunkt eines beeindruckenden Netzwerks, das sich über die Wissenschaft, über mächtige internationale Institutionen, über bedeutende private Finanzunternehmen und über die wichtigsten Zentralbanken erstreckt und für das in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften kein Vorbild existiert. Zu diesem Netzwerk gehört unter anderem Mario Draghi, aber auch der Vizechef der Fed Stan Fischer, der ehemalige Vorsitzende der Fed Ben Bernanke, der Chefökonom des Internationalen Währungsfonds Olivier Blanchard und der Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Krugman. Es wird oft behauptet, in der Europäischen Zentralbank stünden sich Vertreter des Nordens und Vertreter des Südens gegenüber. Das Duell der ökonomischen Konzepte sollte anders beschrieben werden: Boston gegen die Bundesbank.
Die Geschichte reicht weit zurück. Vor etwa 40 Jahren wechselten die jungen Ökonomen Rüdiger („Rudi“) Dornbusch und Stanley („Stan“) Fischer von der Universität in Chicago an das nahe Boston gelegene MIT. Dornbusch stammte aus Krefeld und war über Genf in die Vereinigten Staaten gelangt; Fischer kam aus dem Süden Afrikas und hatte in London studiert. Die beiden Männer verband eine persönliche Freundschaft und ein gemeinsames Forschungsprogramm: Sie wollten erarbeiten, wie Veränderungen der Geldpolitik in einer Wirtschaft wirken, in der Löhne oft langfristig durch Verträge festgelegt sind und auch viele Güterpreise nur mit Verzögerungen auf Veränderungen des wirtschaftlichen Umfelds reagieren.
Dornbusch wie Fischer schrieben in einer Zeit, in der pure Marktwirtschaftler aus Chicago und Minnesota die These verbreiteten, Geldpolitik sei ein wirkungsloses und damit überschätztes Politikinstrument, jeweils einen die Fachwelt elektrisierenden Aufsatz. Der größere Coup gelang Fischer. 1) Er zeigte, dass in einer Welt mit eingeschränkt flexiblen Löhnen und Güterpreisen auch unter der Annahme rationaler Erwartungen bei den Menschen eine aktive Geldpolitik helfen kann, eine Wirtschaftskrise zu überwinden. Nach diesem Grundsatz wurde in den vergangenen Jahren in vielen Industrienationen eine im historischen Vergleich beispiellose und bis heute kontrovers diskutierte Geldpolitik betrieben, der sich mittlerweile auch die anfänglich stark von der Bundesbank beeinflusste Europäische Zentralbank angeschlossen hat.
Dornbusch demonstrierte in einem legendären Aufsatz, dass in einer Welt, in der Preise an Finanzmärkten sehr schnell, Preise an Gütermärkten aber langsam reagieren, die Veränderung der Geldpolitik in einem Land den Wechselkurs zeitweise übertrieben stark beeinflussen kann. Auch dies war keine rein akademische Fingerübung: Die heftige Abwertung des Euro gegenüber dem Franken wurde in diesen Tagen vom Chef der Schweizerischen Nationalbank, Thomas Jordan, im Geiste Dornbuschs als ein „Überschießen“ des Wechselkurses über sein gerechtfertigtes Niveau bezeichnet.
Dornbusch und Fischer passten sich hervorragend in die Kultur des MIT ein, das eigentlich eine Technische Hochschule ist, aber seit Jahrzehnten auch eine der besten ökonomischen Fakultäten der Welt beherbergt. 19 Träger des Nobel-Gedenkpreises für Wirtschaftswissenschaften haben bisher am MIT gelehrt. Unter dem prägenden Einfluss des Nobelpreisträgers Paul Samuelson wurden die Ökonomen am MIT auf theoretische Exzellenz getrimmt, aber auch auf die Einflussmöglichkeiten von Ökonomen in der Politik oder der Politikberatung hingewiesen. Wie in anderen führenden Universitäten an der Ostküste hielten viele Ökonomen in Boston grundsätzlich die Marktwirtschaft in Ehren, aber sie sahen in Krisen Handlungsbedarf für den intervenierenden Staat und hier besonders für die Geldpolitik.
Zentral wurde die Vorstellung, dass Geldpolitik besonders wirksam ist, wenn sie die langfristigen Erwartungen der Menschen über die Entwicklung der Wirtschaft – und hier vor allem die Entwicklung des langfristigen, um die Inflationsrate bereinigten Zinses – steuert. Denn wie die Menschen die Zukunft sehen, beeinflusst ihr aktuelles wirtschaftliches Verhalten. Das ist der Grund, warum Vertreter dieser Schule einen so großen Wert auf die längerfristigen Inflationserwartungen legen und auch die EZB-Führung als einen wesentlichen Grund für das Anleihenkaufprogramm den Rückgang der erwarteten Inflation im Euroraum nennt.
Dieses Forschungsprogramm erwies sich als attraktiv: In den siebziger und achtziger Jahren studierten viele später einflussreiche Männer bei Dornbusch und Fischer, aber auch bei anderen Professoren, und atmeten auf diese Weise den Geist des MIT ein. Neben Draghi und Bernanke wurden auch Mervyn King und Charles Bean, beide in der jüngsten Finanzkrise in führenden Positionen in der Bank of England, zu prominenten Geldpolitikern. Doch der Einfluss des MIT in der Geldpolitik reicht viel weiter: So wird die geldpolitische Linie der Fed stark vom ökonomischen Stab der amerikanischen Zentralbank geprägt. Dieser Stabsabteilung stehen sechs Direktoren vor; bis vor kurzem befanden sich darunter vier Absolventen des MIT.
Fischer war einer der Betreuer von Draghis Doktorarbeit, die aus drei inhaltlich getrennten Artikeln besteht. Zwei dieser Artikel behandeln sehr aktuelle Themen: In einem gelangt Draghi auf dem Stand der damaligen Theorie zu dem Schluss, dass die Wirkungen einer Währungsabwertung auf die Konjunktur nicht überschätzt werden sollten. In einem weiteren Beitrag weist der Italiener nach, dass übertrieben kurzfristiger Aktivismus in der Wirtschaftspolitik das langfristige Wirtschaftswachstum nachteilig beeinflussen kann. 2) Diese Erkenntnis mag ein Grund sein, warum Draghi das geplante Programm zu Kauf von Staatsanleihen als Bestandteil einer längerfristigen Strategie der EZB vermarktet.
Vor wenigen Jahren konstatierte Fischer in einem Interview, in der internationalen Geldpolitik hätten sich die am MIT entwickelten Ideen mittlerweile durchgesetzt. Das war zwar in der Tendenz nicht falsch, aber auch etwas übertrieben. Unter dem Einfluss ihres angesehenen Chefökonomen Otmar Issing wehrten die Bundesbank und die EZB die als zu aktivistisch und zu wenig ordnungspolitisch beurteilten Einflüsse aus Boston zunächst zurück, aber ganz ließ sich Kontinentaleuropa nicht von der Expansion der Ideen aus Massachusetts abschotten: Auch der frühere EZB-Vizepräsident Lucas Papademos und der ehemalige Präsident der zyprischen Zentralbank, Athanasios Orphanides, gehörten zur „MIT-Connection“. 5)
Ende der siebziger Jahre brachten Dornbusch und Fischer ein Lehrbuch zur gesamtwirtschaftlichen Analyse (“Makroökonomik”) erst auf den amerikanischen und dann auf den internationalen Markt, das ihre Ideen weit über Boston hinaus popularisierte. In Deutschland erreichte das Buch, das auf sehr geschickte Weise Theorie und Praxis verbindet, acht Auflagen. Derweil durchliefen junge Ökonomen ihre Seminare, die später in der Fachwelt berühmt werden sollten, darunter neben Krugman und Blanchard auch Michael Woodford, Larry Summers, Ken Rogoff und Maurice Obstfeld. Die Geldpolitik der Fed ist in den vergangenen Jahren von diesen -und anderen – Ökonomen in der Öffentlichkeit unterstützt worden.
Ab den achtziger Jahren brachten sich Dornbusch und Fischer in die internationale Politikberatung ein; die Epoche war gekennzeichnet durch hohe Inflationsraten rund um den Globus und Schuldenkrisen in Schwellenländern. Dornbusch blieb Professor am MIT, aber reiste viel um die Welt. Fischer gab seine Professur auf und übernahm führende Positionen in der Weltbank und im Internationalen Währungsfonds; danach war er bei der Citigroup und schließlich Chef der israelischen Zentralbank. Zusammen mit vielen ihrer Schülern waren Dornbusch und Fischer Anhänger des sogenannten “Konsenses von Washington”, der wesentlich von einem anderen MIT-Ökonomen, John Williamson, geprägt wurde. Dieser Konsens verschrieb Wirtschaftspolitik nach dem Grundsatz des Nobelpreisträgers Samuelson: “Gott gab den Ökonomen zwei Augen, damit sie Angebot und Nachfrage betrachten.”
Heute werfen manche deutsche Ökonomen amerikanischen Kollegen vor, sie bevorzugten einseitig eine Politik zur Förderung der Nachfrage durch niedrige Zinsen oder hohe Staatsverschuldung. Richtig ist hingegen, dass der “Konsens von Washington” in Fällen geringer Wettbewerbsfähigkeit konsequent für Strukturreformen plädiert. Dies tut heute auch Draghi. Richtig ist aber auch, dass amerikanisch geprägte Ökonomen wie Draghi und Krugman in einer Krise gleichzeitig für eine expansive Geldpolitik eintreten. Traditionelle deutsche Ökonomen plädieren demgegenüber nur für Strukturreformen, wollen aber von expansiver Geldpolitik wenig wissen. 3) Das war nicht die Sache Dornbuschs: Der konnte einerseits Strukturreformen aggressiver fordern als der Sachverständigenrat. „Deutschland ist reich, fett und faul“, polterte Dornbusch im Jahre 2001, als Deutschland als „kranker Mann Europas“ galt. Gleichzeitig verspottete Dornbusch, der 2002 verstarb, die Inflationsphobie mancher deutscher Ökonomen.
Seit dem Ausbruch der Finanzkrise hat die Geldpolitik eine zuvor nicht erreichte Bedeutung gelangt, aber auch ihre theoretischen wie praktischen Grenzen zumindest erreicht und vielleicht überschritten. Fischer, der vor langer Zeit das theoretische Konzept der modernen Geldpolitik beeinflusste, steht im Alter von 71 Jahren als Nummer zwei der Fed wieder oben auf der Bühne. Die Anhänger der Bostoner Schule verweisen auf den erheblichen Beitrag der Geldpolitik zur Stabilisierung von Wirtschaft und Finanzmärkten in den vergangenen Jahren bei sehr niedriger Inflation. Aber die Bilanz ist nicht frei von Passivposten.
Eine alte Kritik lautet, MIT-Ökonomen besäßen zwar schöne theoretische Modelle. Aber ihre Modelle verleiteten sie dazu, Politik zu sehr als einen technischen Prozess zu verstehen und zu wenig als Menschenwerk. Dies zeigt sich etwa in der Vorstellung, eine Zentralbank könne die wirtschaftlichen Erwartungen der Menschen nach Belieben steuern. So haben unter anderem Blanchard und Krugman gefordert, die Geldpolitik solle vorübergehend ihr Inflationsziel von 2 auf 4 Prozent erhöhen. Die Idee ist, dass die Menschen in Erwartung eines schnelleren Kaufkraftschwunds des Geldes ihren aktuellen Konsum erhöhen. Nachdem der Konsum die Wirtschaft belebt hat, solle die Zentralbank ihr Inflationsziel wieder auf 2 Prozent reduzieren.
Reputationsrisiken für die Geldpolitik werden hier ebenso ausgeblendet wie bei der Einführung von Negativzinsen oder bei Rogoffs Idee, zur Erleichterung von Negativzinsen solle das Bargeld abgeschafft werden. Alle diese Vorschläge sind aus theoretischen Modellen ableitbar, aber sie nehmen keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten von Menschen, deren Verhalten die Geldpolitik steuern will. Wenig thematisiert werden auch die Gefahren einer sehr aktiven Geldpolitik für die Unabhängigkeit der Zentralbanken gegenüber Regierungen und Finanzmärkten.
Der Beschluss eines Kaufprogramms für Staatsanleihen durch die EZB wird vielleicht der letzte Triumph der Bostoner sein, deren Macht in der praktischen Geldpolitik erheblich bleibt, aber in der ökonomischen Forschung längst erodiert. Die Fed-Vorsitzende Janet Yellen hat dieser Tage den deutschen Ökonomen Thomas Laubach zum Chefberater ernannt, der seine Doktorarbeit an der ebenfalls renommierten Ostküstenuniversität in Princeton geschrieben hat. Dort befindet sich der Nukleus einer neuen geldpolitischen Schule, die vielleicht einmal ähnlich einflussreich wird wie ihre Vorgänger vom MIT. 4) Wir haben uns in FAZIT mit Arbeiten aus Princeton schon häufig beschäftigt; ein Überblick über einige Positionen findet sich hier.
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1) Fishers Aufsatz gehört zu den ersten grundlegenden Beiträgen, aus denen die derzeit führende makroökonomische Lehre, der sogenannte Neokeynesianismus, entstanden ist. Er kombiniert die mikroökonomische Fundierung der Makroökonomik und die Annahme rationaler Erwartungen mit der Annahme von Friktionen auf den Güter- und Arbeitsmärkten. Wir haben uns in FAZIT mit dieser Lehre zuletzt in einem Interview mit Rüdiger Bachmann befasst.
2) Das ist ein fester Bestandteil dieser Lehre, wie auch Fischer in einem Aufsatz aus dem Jahre 1979 konstatiert: “It is argued that an activist policy that does not respond to minor disturbances, but does respond to actual and prospective major disturbances, would provide a stabilizing force for the economy.”
3) Dieser Befund gilt nicht für die meisten deutschen Ökonomen mit internationaler Erfahrung. Zum Beispiel: In den vergangenen Jahren haben es drei deutsche Ökonomen, die in ihrer Jugend an einer Hochburg der deutschen Angebotsökonomik, dem Kieler Institut für Weltwirtschaft, studiert haben, zu Chefökonomen großer amerikanischer Banken gebracht: Jan Hatzius (Goldman Sachs), Joachim Fels (Morgan Stanley) und Holger Schmieding (ehemals Bank of America, heute Berenberg). Diese drei Ökonomen vertreten aktuell die MIT-Positionen in der Geldpolitik und befürworten ein Kaufprogramm für Staatsanleihen durch die EZB.
4) Laubach hat seine Doktorarbeit bei Ben Bernanke geschrieben, der eine Art Bindeglied zwischen dem Neokeynesianismus des MIT und der Princeton School darstellt. Die Princeton School legt ein stärkeres Gewicht auf die Rolle von Friktionen an den Finanzmärkten für die Geldpolitik und arbeitet an einer Synthese von Finanztheorie und gesamtwirtschaftlicher Theorie, während in der MIT-Tradition eher Friktionen an Güter- und Arbeitsmärkten eine Rolle spielen.
5) Kritisch gegenüber dem Bostoner Denken blieb auch die in Basel ansässige Bank für Internationalen Zahlungsausgleich.