Viele Finanzmarktteilnehmer erwarten in den kommenden Monaten eine Leitzinserhöhung in den Vereinigten Staaten. Mehrere Ökonomen haben nun in einer bemerkenswerten Studie versucht zu ermitteln, wo das optimale Leitzinsniveau bei einer wachsenden Wirtschaft liegt. Dazu haben sie den berühmt-berüchtigten “natürlichen Zins” geschätzt und die These einer säkularen Stagnation verworfen. Ihre These: Die amerikanische Wirtschaft kehrt langfristig auf Wachstumskurs zurück; daher wird auch der “natürliche Zins” positiv sein.
An den Finanzmärkten erhoffen sich die Teilnehmer weitere Erkenntnisse über eine mögliche Leitzinserhöhung der Fed im Laufe des Jahres. Derzeit zeigen sich exportorientierte amerikanische Unternehmen angesichts der Aufwertung des Dollar besorgt. Ob dies die Geldpolitiker in Washington von einer Leitzinserhöhung abhält, ist fraglich. Der Chefökonom der Commerzbank, Jörg Krämer, erinnert in seinem Wochenendkommentar an frühere Episoden, in denen die Fed eine Aufwertung des Dollar nicht als Argument gegen binnenwirtschaftlich notwendige Leitzinserhöhungen akzeptiert hatte. Der Präsident der Federal Reserve Bank of St. Louis, James Bullard, stößt aktuell ins gleiche Horn: Er hat sich sogar für eine sofortige Erhöhung des Leitzinses ausgesprochen, während die meisten Marktteilnehmer eine Zinserhöhung erst für den Sommer oder spätestens für den Herbst erwarten.
Wer etwas ferner in die Zukunft blickt, wird die Frage stellen: Wir geht es nach einer ersten Leitzinserhöhung weiter? Fed-Chefin Janet Yellen hat zwar schon durchblicken lassen, dass die Fed ihre Entscheidungen nach der jeweils aktuellen Datenlage treffen werde, aber Krämer geht dennoch davon aus, dass die Fed die Zinsen doch relativ regelmäßig um durchschnittlich 25 Basispunkte je Sitzung anhebt. Er erwartet, dass der Leitzins schneller steigen wird als gegenwärtig von den Märkten erwartet. Schätzungen auf der Basis eines von der Fed geschätzten Modells führen zu einer Prognose von etwa 2,6 Prozent Ende 2016 und 3,5 Prozent Ende 2017.
Mit der Frage, auf welches Niveau der amerikanische Leitzins gehört, hat sich kürzlich eine Gruppe von Ökonomen aus Universitäten und Finanzhäusern in den Vereinigten Staaten befasst. 1) Zu den Autoren zählen James Hamilton von der Universität in San Diego und Jan Hatzius, der Chefvolkswirt von Goldman Sachs. Sie wollen auf der Basis wirtschaftshistorischer Untersuchungen und theoretischer Überlegungen herausfinden, wo der sogenannte „natürliche Zins“ in den Vereinigten Staaten liegt: Gemeint ist der kurzfristige reale, also um die erwartete Inflationsrate bereinigte Leitzins unter der Annahme einer gut laufenden Wirtschaft und einer stabil niedrigen Inflationsrate. 2)
“The natural rate is not fixed or unalterable in magnitude… In general, we may say, it depends on the efficiency of production, on the available amount of fixed and liquid capital, on the supply of labour and land, in short on all the thousand and one things which determine the current economic position of a community; and with them it constantly fluctuates.”
Knut Wicksell (1898)
Dieser „natürliche Zins“ ist ein berühmt-berüchtigtes Konstrukt, weil er sich in der Realität nicht direkt beobachten lässt, aber in von Zentralbanken verwendeten Modellen zur Bestimmung ihres Leitzinses eine wichtige Rolle spielt. Die Ökonomengruppe kommt zu der Vermutung, dass dieser „natürliche Zins“ in den Vereinigten Staaten derzeit zwischen 1 und 2 Prozent liegt, aber schwer kalkulierbaren Schwankungen unterliegt. Rechnete man auf den „natürlichen Zins“, der inflationsbereinigt ist, noch die von der Fed angesteuerte Inflationsrate von 2 Prozent hinzu, käme man nach diesen Berechnungen auf einen optimalen Leitzins von 3 bis 4 Prozent bei einer voll ausgelasteten Wirtschaft ohne starken Inflations- oder Deflationsdruck.
Die Studie ist spektakulärer, als sie auf den ersten Blick wirken mag, weil sie explizit die an den Finanzmärkten Aufmerksamkeit gewinnende These einer „säkularen Stagnation“ zurückweist. Damit ist die vor allem von dem Harvard-Ökonomen Larry Summers belebte These gemeint, als Folge eines nachhaltigen Mangels gesamtwirtschaftlicher Nachfrage, hoher Ersparnis und niedriger Investitionen sei der natürliche Zins höchstens Null, vermutlich aber sogar negativ. 3) Die Autoren der Studie sind von dieser Argumentation nicht überzeugt.
Vielmehr betrachten sie die vergangenen Jahre als Bestandteil eines ungewöhnlich langen Zeitraums, den die amerikanische Wirtschaft auf dem Wege zu einer nachhaltigen Erholung benötigt. Von einer dauerhaften Verfestigung eines sehr geringen Wachstums könne keine Rede sein. Mit Blick auf die Geschichte widersprechen sie auch Summers’ These, in den vergangenen Jahrzehnten sei Wirtschaftswachstum nur um den Preis von Blasen an den Finanzmärkten entstanden.
Kritisch betrachten die Ökonomen zudem die unter anderem von dem früheren Fed-Vorsitzenden Ben Bernanke vertretene These, ein starker Zufluss von Ersparnissen aus Schwellenländern habe in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends in den Vereinigten Staaten den Zins stark gedrückt. Diese These einer sogenannten „Ersparnisschwemme“ wird seit einiger Zeit auch von Analysten aus der Deutschen Bank mit Blick auf die aktuelle Situation in Europa vertreten. Sie erwarten in den kommenden Jahren als Folge einer „Ersparnisschwemme“ im Euroraum Kapitalexporte über 4 Billionen Euro, die den Wechselkurs des Euro weiter drücken und das internationale Zinsniveau niedrig halten werden.
Nach Ansicht von Hatzius & Co. sind die Konsequenzen der Kapitalströme aus den Schwellenländern in die Vereinigten Staaten für das amerikanische Zinsniveau nicht eindeutig, wenn man die Wirkungen auf die Konjunktur, den Häusermarkt und die Außenhandelsbilanz einbezieht. Zudem hätten diese Zuflüsse nicht verhindert, dass die Fed ab dem Jahr 2004 deutlich ihren Leitzins erhöht habe. Insgesamt hätten die Kapitalzuströme zweifellos das Finanzsystem der Vereinigten Staaten beeinflusst und zu globalen Ungleichgewichten beigetragen, heißt es in der Studie. Aber die Auswirkungen auf den „natürlichen Zins“ seien unklar.
Wovon hängt dieser „natürliche Zins“ ab? Für die Ökonomen und die Geldpolitik ist er spätestens seit einem im Jahre 1898 erschienenen Buch des schwedischen Ökonomen Knut Wicksell („Geldzins und Güterpreise“) von Bedeutung. Vor wenigen Jahrzehnten hat der amerikanische Ökonom John Taylor und um den „natürlichen Zins“ eine geldpolitische Regel gebaut, die in der Fachwelt als „Taylor-Regel“ bekannt ist und von vielen Zentralbanken beachtet wird, auch wenn sie ihre Geldpolitik nicht konkret an ihr ausrichten. Taylor hatte in einem im Jahre 1993 veröffentlichten Aufsatz den „natürlichen Zins“ in den Vereinigten Staaten mit rund 2 Prozent angenommen und sich dabei auf den Durchschnitt des Wirtschaftswachstums der Vorjahre bezogen.
Bis heute wird in vielen ökonomischen Arbeiten angenommen, dass der „natürliche Zins“ in einem engen Verhältnis zum mittelfristig mit Geldwertstabilität maximal vereinbaren Wirtschaftswachstum steht. Wäre dies so, dürften der Leitzins, der sich an dem „natürlichen Zins“ und der erwarteten Inflationsrate existiert, eigentlich im Zeitablauf nicht stark schwanken. Das ist aber nicht die Welt, in der wir leben.
Schon Wicksell wusste im Jahre 1898, dass auf den „natürlichen Zins“ viele Größen auf eine schwer bestimmbare Weise einwirken und dieser Zins daher ebenso schwer kalkulierbaren Schwankungen unterliegt. Zu diesem Ergebnis gelangen auch Hatzius & Co. in ihrer aktuellen Studie. Zu den Einflussgrößen zählen sie unter anderem die Solidität der Staatsverschuldung, die Inflationsentwicklung, Regulierungen von Finanzmärkten und Spekulationsblasen an Vermögensmärkten. Zwischen dem Wirtschaftswachstum und dem „natürlichen Zins“ sehen sie nur einen schwachen Zusammenhang. Vor allem raten sie davon ab, den aktuellen „natürlichen Zins“ auf der Basis früherer Erfahrungen einschätzen zu wollen.
“Unfortunately, we have as yet devised no method to estimate accurately and readily the natural rate of either interest or unemployment. And the ‘natural’ rate itself will change from time to time.”
Milton Friedman (1968)
Die Hypothese, dass der aktuelle „natürliche Zins“ in den Vereinigten Staaten zwischen 1 und 2 Prozent liegt, aber schwer vorhersehbaren Schwankungen unterliegt, veranlasst die Autoren der Studie zu einem Plädoyer für vorsichtige Zinserhöhungen durch die Fed. „Die Fakten veranlassen uns zu dem Schluss, dass die Anhänger der These einer säkularen Stagnation zu pessimistisch sind“, lautet die Schlussfolgerung. „Aber wir finden in den Daten wenig Anhaltspunkte für eine genaue Feststellung, wo sich der natürliche Zins in der Zukunft befinden wird. Daher gibt es bei unserer Politikempfehlung Berührungspunkte mit Anhängern der These einer säkularen Stagnation. Es wird sich für die Fed auszahlen, im gegenwärtigen Umfeld mit Zinserhöhungen vorsichtig voranzugehen, bis die Entwicklung des Wirtschaftswachstums und der Inflationsrate eine Bestätigung geben, dass die Zinserhöhungen angemessen sind.“ Andererseits machen die Autoren aber auch klar, dass sie etwaige Bedenken, wegen der Staats- und Privatverschuldung dürften die Zinsen in den Vereinigten Staaten nicht mehr steigen, für abwegig halten.
Anhänger der These einer säkularen Stagnation gehen noch etwas weiter als Hatzius & Co. Summers hat mehrfach die Ansicht vertreten, die Fed solle mit Zinserhöhungen warten, bis die Inflationsrate Zeichen einer Beschleunigung zeige und nicht das Wirtschaftswachstum oder den Arbeitsmarkt als Bestimmungsgründe für den Leitzins berücksichtigen. Auch Paul Krugman hat in seinem Blog diese Ansicht vertreten. Eine Mehrheitsmeinung ist das freilich nicht. Nach einer Umfrage des „Wall Street Journal“ erwarten 29 von 63 konsultierten Ökonomen eine Leitzinserhöhung im Juni. 23 Ökonomen rechnen im September mit einem höheren Leitzins und 4 im Juli. “I remain constructive on the US economy and think the Fed’s outlook still makes sense”, meint der Hedgefondsmanager Stephen Jen. “Economies don’t usually falter for no reason.” Sollte die Fed ihren Leitzins erhöhen, werden die Reaktionen um den Globus interessant sein, da rund 20 Zentralbanken im Laufe des Jahres ihre Geldpolitik gelockert haben.
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1) Die Studie wurde auf einer Konferenz vorgestellt und von zwei Präsidenten regionaler Federal-Reserve-Banken besprochen.
2) Für diesen Zins gibt es unterschiedliche Bezeichnungen. Die Autoren sprechen von der “equilibrium real fed funds rate”; in der deutschen Fachliteratur findet sich auch der Begriff “realer Gleichgewichtszins”. Der Begriff “natürlicher Zins” stammt von Wicksell und wird deshalb hier benutzt, auch wenn ihn Wicksell etwas anders verwendet hat als die Autoren der vorliegenden Studie.
3) In der Diskussion werden unter dem Begriff “säkulare Stagnation” unterschiedliche Phänomene verstanden. Eine Übersicht samt Einschätzung stammt von Barry Eichengreen.
Dieser Beitrag ist die überarbeitete Version eines Artikels, der am 14. März 2015 im Finanzteil der Frankfurter Allgemeine Zeitung erschienen ist.