BIZ-Chefökonom Hyun Song Shin über die nächste Krise, die verblüffende Aktualität von Finanzierungen deutscher Unternehmen in der Zwischenkriegszeit und die Unzulänglichkeiten moderner makroökoomischer Modelle.
Wenn heute über potentielle Gefahren für das Finanzsystem gesprochen wird, richtet sich der Blick fast immer auf die Banken. Typische Fragen sind dann, ob die Banken genügend Eigenkapital besitzen oder ob es noch Banken gibt, die so groß sind, dass sie im Falle einer schweren Krise vom Staat gerettet werden müssten. Hyun Song Shin hält diese Betrachtungen für zumindest einseitig. „Die nächste Krise wird eine andere sein als die jüngste Krise“, sagte Shin auf einer Veranstaltung des Center for Financial Studies an der Frankfurter Goethe-Universität. Damit will Shin nicht die These vertreten, die Banken seien heute völlig sicher. Der Koreaner ist jedoch der Ansicht, dass heute auch das Verhalten langfristiger Anleger wie Versicherungen und Fondsgesellschaft genau beobachtet werden müsse. „Wir müssen die Spieler an den Finanzmärkten kennen“, sagt Shin, nach dessen Ansicht eine Debatte über die künftige Ausrichtung der Geldpolitik notwendig ist.
Die Finanzwelt hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Wenn früher die Geldpolitik in den Vereinigten Staaten den Leitzins senkte, vergaben Geschäftsbanken mehr Kredite. Da die langfristigen Kapitalmarktzinsen in der Regel langsamer sanken als die kurzfristigen Leitzinsen, sorgten Leitzinssenkungen der Fed zumindest für einige Zeit für eine steiler werdende Zinskurve: Die Differenz zwischen kurz- und langfristigen Zinsen nahm zu. Dies ist typischerweise ein Umfeld, in dem Banken ihre Kreditvergabe ausweiten, denn Banken leihen oft kurzfristig hereingenommenes billiges Geld langfristig zu höheren Zinssätzen aus.
Mit diesem Effekt erklärt Shin eine erste Welle der Liquidität, die sich in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends aus den Vereinigten Staaten unter anderem in die Schwellenländer ergoss. Viele Geschäftsbanken, darunter auch zahlreiche große europäische Häuser, vergaben Dollarkredite an Empfänger in den Schwellenländern. Nach dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahre 2008 mussten sich viele Banken mit der Vergabe neuer Dollarkredite zurückhalten. An ihre Stelle traten jedoch langfristige Großanleger wie Versicherungen und Fondsgesellschaften, die Dollaranleihen von Unternehmen aus den Schwellenländern kaufen. So haben diese Unternehmen eine andere Finanzierungsquelle in den Industrienationen gefunden. Eine starke Aufwertung des Dollar kann jedoch die Finanzierungskosten dieser Unternehmen erhöhen.
Am Anfang dieser zweite Welle der Liquidität steht wiederum die Zinsstruktur in den Vereinigten Staaten: Da die kurzfristigen Leitzinsen seit 2009 nicht mehr sinken können, hat die Fed die langfristigen Kapitalmarktzinsen nach unten geschleust. Eine flache Zinskurve in Amerika macht die Vergabe von Dollarkrediten von Banken unattraktiv, aber sie lädt Anleger wie Versicherungen und Fonds dazu ein, in Schwellenländer mit etwas höheren Zinsen zu investieren. “Die Geldpolitik ist ein mächtiges Instrument”, konstatiert Shin. Allerdings bedarf es nach seiner Ansicht einer grundlegenden Debatte, wie Geldpolitik in einer Welt konstruiert werden sollte, in der geldpolitische Impulse nicht länger vordringlich über Banken weitergeleitet werden, sondern über andere Finanzhäuser. Auch bleibe die Frage, wie in einer solchen Welt Regulierungen aussehen sollten, bislang offen.
Was sind die Gefahren dieser zweiten Welle der Liquidität? Sie besteht weniger in der Gefahr einer systemgefährdenden Insolvenz großer Marktteilnehmer, weil Fondgesellschaften einen anderen Charakter besitzen als Banken. Anders sieht die Lage in den Schwellenländern aus, denn ein Teil der von Unternehmen in den Schwellenländern aufgenommenen Dollar werden höherverzinslich in der Heimatwährung der Unternehmen bei Banken plaziert. Geraten diese Unternehmen nach einer Dollaraufwertung unter Druck und ziehen sie dann in großem Stil Einlagen bei heimischen Banken ab, droht die Finanzstabilität in den Schwellenländern zu erodieren.
Die durch Banken und andere Finanzhäuser exportierten Folgen der amerikanischen Geldpolitik sind enorm. Im Jahre 1998 betrugen die Dollarforderungen – sei es aus Krediten oder aus Anleihen – gegenüber Unternehmen, Privatpersonen und Staaten außerhalb der Vereinigten Staaten gut eine Billion Dollar. Mitte 2014 betrugen diese Forderungen rund 8 Billionen Dollar, wie eine neuere Untersuchung zeigt. Im Vergleich zu Dollar spielen der Euro und der Yen eine deutlich geringere Rolle als internationale Verschuldungswährung.
Interessante historische Vergleiche bietet die Praxis vieler Unternehmen aus Schwellenländern, ihre Dollaranleihen nicht über ihre Zentrale im Heimatland zu begeben, sondern durch Tochtergesellschaften in Industrienationen oder Finanzoasen wie den Cayman-Islands. Die dort aufgenommenen Dollar werden dann an die Zentralen in den Schwellenländern weiter geleitet. Shin sieht hier interessante Parallelen zu deutschen Unternehmen in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts – ausgearbeitet hat Shin dies in einer interessanten Arbeit mit seinem BIZ-Kollegen Claudio Borio und dem bekannten Wirtschaftshistoriker aus Princeton, Harold James. Diese recht verschwiegenen Aktionen deutscher Unternehmen blieben damals weitgehend unbeobachtet; die Folgen aber waren erheblich, wie das nachfolgende Zitat aus der Arbeit von Borio/James/Shin zeigt: