George Soros will seit der Finanzkrise für „neues ökonomisches Denken“ sorgen / Hunderte von hochrangigen Ökonomen bringt er zusammen – nur deutsche Fachleute sind rar, obwohl viel über Deutschland geredet wird. Von Christian Schubert
Der amerikanische Investor George Soros ist ein Mann mit Geld und Einfluss. Seine an den Finanzmärkten verdienten Milliarden kommen vielen guten Zwecken zu. „Neues ökonomisches Denken“ soll dazu gehören. Vor sechs Jahren gründete Soros im Zuge der Finanzkrise mit 50 Millionen Dollar das „Institut für neues ökonomisches Denken“ (Inet), das hochrangige Ökonomen zusammenbringt und Stipendien vergibt. Solche Netzwerke haben Gewicht. Die meisten Mitglieder der neuen ukrainischen Regierung beispielsweise profitierten im Laufe ihrer Berufswege von der Stiftung „Open Society“, die Soros ebenfalls ins Leben gerufen hat.
Was aber heißt „neues ökonomisches Denken“? In Paris debattierten Hunderte von Ökonomen sowie Praktiker in der vergangenen Woche drei Tage lang auf der sechsten Inet-Konferenz über die Instabilität der aktuellen Wirtschaftslage. Im Vordergrund stand ihre Sorge vor der wachsenden Ungleichheit zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen innerhalb der Industrieländer sowie zwischen verschiedenen Euro-Ländern. Adair Turner, ehemaliger Vorsitzender der britischen Finanzaufsicht FSA und neuer Inet-Verwaltungsratsvorsitzender, brachte die beunruhigende Entwicklung auf den Punkt: „Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat in vielen wichtigen Volkswirtschaften noch nicht das Niveau von 2007 erreicht. Eine so lange Periode von Rückschlägen gab es in den vergangenen 170 Jahren nur während Kriegszeiten und der großen Depression“. Der Kapitalismus stecke in einer schweren Krise, weil er nicht mehr allen Schichten der Bevölkerung diene.
Die OECD lieferte Datenmaterial für ihre 34 Mitgliedsländer: „In den achtziger Jahren waren die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung durchschnittlich sieben Mal so reich wie die ärmsten zehn Prozent. Heute liegt der Multiplikator bei zehn“, berichtete der OECD-Generalsekretär Angel Gurría. Die Krise beschleunige diesen Prozess: In den ersten drei Jahren nach dem Kollaps von Lehman Brothers erhöhte sich die Ungleichheit so stark wie in den zwölf Jahren davor. „Auch in früher egalitären nordeuropäischen Gesellschaften wie Deutschland ist das der Fall“, sagte Gurría und sprach wegen des Aufkommens radikaler Parteien in manchen Ländern von einer „Schwächung der demokratischen Fundamente“.
So waren sich fast alle Konferenzteilnehmer einig: Die Bedrohung komme nicht dadurch, dass es einfach mehr Millionäre und Milliardäre auf der Welt gäbe, während die Unter- und Mittelschicht ihr Niveau hielten. Stattdessen glitten immer mehr Menschen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder Arbeitslosigkeit ab. Humankapital bleibe ungenutzt, was die Angebots- wie die Nachfrageseite belaste. Die Ungleichheit werde so zur Wachstumsbremse. „Für die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung in den Vereinigten Staaten folgen die Lohnsteigerungen schon seit 1977 nicht mehr der Produktivität, in Deutschland ist das seit 2002 der Fall“, berichtete Clive Cowdery, ein ehemaliger Versicherungsmanager, der heute im Stiftungsbereich tätig ist.
Was aber tun dagegen? „Die Reichen einfach mit Steuern zuschütten funktioniert nicht mehr“, meinte OECD-Mann Gurriá. Denis Snower, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, empfiehlt etwa Einstellungs-Gutscheine, durch die Arbeitslose zeitlich begrenzte Lohnsubventionen erhalten. Dadurch können ein Arbeitsvertrag und eine Ausbildung für Arbeitgeber attraktiv werden. Die Lösungen müssten „Hilfe zur Selbsthilfe“ enthalten, von einem staatlichen Mindestlohn hält er etwa nichts.
Ökonomen aus Deutschland waren in Paris freilich kaum zu hören. Neben Snower ist nur Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut aufgetreten. Das hat erhebliche Nachteile: „Es wird viel über Deutschland geredet, ohne dass die Leute richtig Bescheid wissen“, findet Peter Jungen, ein Unternehmer, Investor und Verbandspolitiker aus Deutschland, der sich seit langem bei Inet engagiert. Ordo-liberale Positionen hätten dort keinen leichten Stand. So lobte Soros Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der Abschlussveranstaltung in der Pariser Oper für ihre harte Haltung gegen Wladimir Putin in der Ukraine-Krise, rügte aber ihren „Irrglauben in wirtschaftlichen Fragen, was die Sparpolitik und die Orthodoxie der Bundesbank angeht“.
In diesem Tenor waren in Paris viele Ökonomen mit keynesianischer Schlagseite zu hören wie Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, Bestseller-Autor Thomas Piketty sowie der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis. Dies stimmt den Kieler Volkswirt Snower, der amerikanischer Staatsbürger ist, skeptisch: „Es gibt bei Inet genügend keynesianische Stimmen. Das macht mir Sorgen, denn ich hoffe sehr, dass das Institut offen bleibt für wirklich neues ökonomisches Denken“. Dabei hat er eine Hoffnung: „Inet ist noch in einem Findungsprozess“, so Snower.
Der neue Inet-Verwaltungsratsvorsitzende Turner will indes kein neue Denkschule aufbauen, denn der Glaube an „die eine Schule“ habe in die Sackgasse geführt. Der ehemalige Finanzregulator und Präsident des britischen Industrieverbandes brandmarkt vor allem die Mathematisierung der Ökonomie, die darauf beruhe, dass die Menschen immer rationale Erwartungen hätten, freie Märkte immer effizient seien und Wachstum für alle hervorbrächten.
In der heutigen Wirtschaftspolitik stellt auch er Deutschland an den Pranger. Seine Exportorientierung zusammen mit dem europaweiten Drängen auf Haushaltskonsolidierung und Wettbewerbsfähigkeit sei das falsche Rezept. „Alle Länder können nicht Überschüsse in ihren Leistungsbilanzen haben. Jemand muss bereit sein, die Defizitposition einzunehmen“, sagte Turner im Gespräch mit dieser Zeitung. Diese Defizitposition sei aber nur gegen eine Zunahme der Verschuldung in den Importländern zu haben, und dort drohe Blasenbildung. „Wann wird sich Deutschland endlich Sorgen machen über sein kreditfinanziertes Wachstum, das außer Kontrolle geraten ist?“, fragte Turner. In Deutschland und anderen Ländern fehle es an heimischer Nachfrage.
Volkswirt Snower hält dagegen wenig von großen internationalen Entwürfen, die Überschüsse und Defizite zum Nullpunkt bringen wollen und dabei die komparativen Vorteile einzelner Länder vernachlässigen. Stattdessen solle jeder Staat, gerade in Europa, an seiner Wettbewerbsfähigkeit arbeiten, dann würde auch der deutsche Exportüberschuss kleiner. In der Euro-Debatte plädierte der Chef des Instituts für Weltwirtschaft für einen Mittelweg: Deutschland solle darauf drängen, dass die Schulden der Peripherieländer nicht ausufern, solle aber auch mithelfen, kurzfristig große soziale Härten in diesen Ländern zu verhindern, da sich dort „die Gesellschaften zu zersetzen drohen“. Dabei solle „sich Deutschland nicht nur in die Gläubigerecke drängen lassen, sondern stärker als Vermittler zwischen den Fronten auftreten“. Eurobonds lehnt Snower ab, doch er fordert nachhaltige Strukturen für eine gemeinsame Wirtschafts- und Fiskalpolitik in Europa.
So konnte man sich am Ende nur darauf einigen, dass die aktuelle Lage im Euroraum niemanden zufriedenstellt. Stiftungsvater Soros fasste zusammen: „Das Thema Griechenland hat viel vergiftet. Alle haben Fehler gemacht, und jetzt herrscht viel Feindseligkeit. Jede Seite will der anderen wehtun, auch wenn es sie selbst schmerzt. Das wird hingenommen, solange sie weiß, dass es den anderen noch mehr schmerzt“.
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Christian Schubert ist Wirtschaftskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Frankreich.