Ob Gary Becker die Flirt- und Dating-App Tinder geliebt hätte? Der amerikanische Nobelpreisträger war verheiratet, und wahrscheinlich hätte seine Ehefrau nicht sonderlich viel Sympathie dafür gehabt, dass sich ihr Mann auf dem Smartphone fremde Frauen ansieht. Becker, der vor einem Jahr verstorben ist, hätte ihr dann wahrscheinlich erklärt, dass er Tinder aus rein wissenschaftlichem Interesse nutzt – und das kleine, noch recht junge Handyprogramm den Markt für Liebe und Verabredungen ein ganzes Stück effizienter macht. Ganz klar, Becker hätte Tinder geliebt.
Tinder? Markt für Liebe? Beides ist erklärungsbedürftig. Tinder ist die erfolgreichste von mehreren Anbandelungs-Apps, die in den vergangenen Jahren und Monaten auf den Markt gekommen sind und sich schnell verbreitet haben. Millionen Menschen in Deutschland und auf der ganzen Welt nutzen Tinder & Co. Die Programme funktionieren alle nach demselben Prinzip: Flirtwillige Nutzer basteln Profile mit Bildern und einigen persönlichen Informationen. Auf dem Handybildschirm werden ihnen dann potentielle Partner präsentiert, deren Bilder sie im Sekundentakt nach rechts (ja, ich will) oder links (besser nicht) wischen können. Signalisieren beide Nutzer Interesse, kann der Flirt beginnen und eine reale Verabredung vereinbart werden.
Das revolutioniert den Markt für Liebe, den Gary Becker in seinem 1976 erschienenen Buch “Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens” skizziert hat. Der Forscher aus Chicago war überzeugt, unseren Alltag mit dem Modell des Homo oeconomicus, dem streng rationalen Nutzenmaximierer, erklären zu können: die Berufswahl, die Diskriminierung und eben auch die Partnerwahl und Familienplanung. Demnach heiraten wir nur dann und setzen nur dann Kinder in die Welt, wenn unser Nutzen daraus größer ist als die Kosten, etwa für Windeln und entgangene Freiheit.
Das klingt furchtbar unromantisch. Lässt man sich aber einen Augenblick auf den Gedanken ein, dass selbst in diesem allzu menschlichen Bereich die Prinzipien des Marktes gelten könnten, wird schnell klar, warum man Tinder für eine riesige Effizienzmaschine halten kann: Mit den Worten eines Sonntagsökonomen gesprochen, reduzieren die Flirt-Apps die Transaktionskosten auf dem Liebesmarkt, sie ermöglichen eine bessere Partnerallokation und steigern das Wohlfahrtsniveau.
Transaktionskosten entstehen praktisch immer, wenn Güter – hier Zärtlichkeiten und Liebe – ausgetauscht werden. Es gibt sie, weil Anbieter und Nachfrager erst zueinanderfinden, verhandeln und unter Umständen einen Vertrag abschließen müssen. Sind die Kosten zu hoch, kommt kein Geschäft zustande, der Markt versagt. Im Fall des Flirtens sah das in der tinderlosen Welt so aus: Singles mussten sich erst von der Couch erheben und sich an einen Ort mit potentiellen Partnern begeben (Marktzugangsbarriere). Gelang es ihnen, ins Gespräch zu kommen, mussten mühsam die Präferenzen erkundet werden. Ist der Flirtpartner auf eine Affäre oder eine feste Beziehung aus? Ist sie oder er überhaupt auf dem Markt? Und findet das Objekt der Begierde meine breiten Schultern überhaupt attraktiv?
Tinder & Co. reduzieren diese Kosten drastisch. “Tinder hat mir erlaubt, den Markt wieder zu betreten”, schreibt ein Ökonom in einem amerikanischen Fachforum. Die meisten Apps gibt es umsonst oder für wenige Euro, damit sind die Fixkosten gering. Ist die App einmal installiert, kann sich der Nutzer durch Hunderte fremde Profile klicken. Das erhöht im Vergleich zur realen Welt nicht nur die Auswahl und damit die Trefferwahrscheinlichkeit, auch die Grenzkosten für jede weitere Flirtgelegenheit sinken quasi auf null. Da die Tinder-Nutzer mit ihren Interessen, Absichten und Vorlieben nicht hinter dem Berg halten, sind die Präferenzen offenbart, Tinder sorgt also für (fast) vollkommene Informationen auf einem (fast) vollkommenen Markt. Das ist ein Zustand, von dem Männer wie Gary Becker geträumt haben.
Heute ist die Ökonomie drei Schritte weiter als zu Beckers größten Zeiten. Verhaltensökonomen, die den Homo oeconomicus für tot erklärt haben, sind die Stars der Forscher. Doch auch deren Forschung liefert Erklärungen für den Tinder-Erfolg. Verhaltensökonomen betonen die große Bedeutung der Reziprozität: Tut mir jemand etwas Gutes, dann werde auch ich mich kooperativ verhalten und die gute Tat belohnen. Diese menschliche Neigung kann auch das Tindern zum Laufen bringen. Denn kommt es auf der Plattform zu einem “Match”, weiß Nutzer A, dass Nutzer B ihn für attraktiv und einen potentiellen Partner hält (vice versa). Der Auserwählte kann das Interesse als Kompliment und Vertrauensvorschuss auffassen. Für beides wird er sich bedanken, glaubt man den Formeln der Verhaltensforscher. Diese Dynamik kann eine gute Voraussetzung für ein kooperatives Gespräch sein. Andersherum bekommen die App-Nutzer nichts davon mit, wenn andere Nutzer sie wegwischen und ihnen einen Korb geben. Das dürfte das Selbstbewusstsein stärken. Auch risikoaverse Personen, die in der Bar niemals die Offensive ergreifen würden, können somit von dem Technologiesprung profitieren.
Passende Bewerber werden nicht nur in Liebesdingen gesucht, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es nun vermehrt Apps gibt, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer nach dem Tinder-Prinzip verkuppeln und für ein besseres “Matching” sorgen sollen. Arbeitsmarkt und Liebesmarkt sind sich offenbar recht ähnlich.
Wer nun glaubt, die neuen Apps liefern die Garantie zum Verlieben, muss allerdings enttäuscht werden. 100 Matches, 8 Telefonnummern, 4 Verabredungen – kein Sex, fasst ein Nutzer in einem amerikanischen Ökonomenforum seine Tinder-Erfahrung zusammen. “Technologie wird deine fundamentalen Probleme nicht lösen”, sagt ein anderer.