Die Kritiker der Wirtschaftswissenschaft geraten zunehmend selbst in die Kritik. Doch die Forderung nach theoretischer Vielfalt ist berechtigt. Wir meinen: Wissenschaftlichen Fortschritt gibt es nur durch streitbaren Pluralismus. Eine Replik auf den FAZIT-Artikel “Gegen eine Kleinstaaterei in der Volkswirtschaftslehre”. Ein Gastbeitrag von Samuel Decker, Jakob Hafele und Tom Berthold *)
Die Finanz- und Wirtschaftskrisen der letzten Jahre gehen auch an der Wirtschaftswissenschaft nicht spurlos vorüber. Nachdem in jüngster Zeit die Forderung nach einer grundlegenden Veränderung hin zu mehr Vielfalt und Offenheit immer dringender wird, stellt sich die Frage, wie genau diese Veränderung aussehen soll. In ihrem Beitrag vom 19. Juni sprachen sich zwei VWL-Studenten “Gegen eine Kleinstaaterei in der Volkswirtschaftslehre” aus, die nach ihrer Meinung eine Folge der Öffnung für andere Denkansätze sein würde.
Zentrales Argument der Autoren Jonas Bausch und David Kunst: Theoretische Vielfalt gefährdet den akademischen Konsens in den Wirtschaftswissenschaften, sodass diese ihren gesellschaftlichen Aufgaben und der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis nicht mehr gerecht werden kann. Die Frage ist nun, ob dieser akademische Konsens überhaupt zur Zeit besteht und ob er ein wünschenswerter Zustand wäre.
Der fragwürdige Konsens der Volkswirtschaftslehre
Dass sich auch die Ökonomen des Mainstreams gegenseitig teilweise massiv widersprechen, ist nicht zu übersehen. Der vorhandene Konsens besteht nicht in den Aussagen und Erkenntnissen der Wirtschaftswissenschaft sondern vielmehr in ihren Methoden und Grundannahmen. Das Selbstverständnis der Ökonomik beschrieb der Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker mit der Aussage, die VWL definiere sich nicht durch ihren Gegenstand, sondern durch ihre Methode.
So begreift fast alle Mainstream-Ökonomik die Wirtschaft als ein System von Märkten, wobei das, was ein Markt eigentlich ist, hier auf ein mathematisches Modell verengt ist, das weite Teile der Realität ausklammern muss, um überhaupt in der Weise mechanisch beschreibbar zu sein.Von diesem abstrakten Ansatz aus werden wirtschaftliche Vorgänge als mathematische Optimierungsprobleme gefasst, die ganz bestimmte und relativ rigide Vorstellungen von den Wirtschaftsakteuren und den zwischen ihnen geltenden Regeln benötigen, um überhaupt sinnvoll lösbar zu sein.
Weite Teile der Mainstream-Ökonomik müssen also wichtige Dimensionen der Realität ausklammern oder können sie nur mit erheblichen Verlusten in ihre eigene Sprache übersetzen. Dabei fallen soziale Aspekte ebenso unter den Tisch wie Machtfragen, historische Einbettung oder ethische Reflexion. Alles, was nicht in Zahlen passt, zählt nicht.
Doch die heute vorherrschende Situation ist kein Konsens. Es haben sich nicht die besten Ideen, Ansätze und Theorien durchgesetzt, sondern konkurrierende Denkschulen wurden verdrängt. Vielmehr entstand der vermeintliche Konsens durch Verdrängung konkurrierender Denkschulen. Schon das Aufkommen der Neoklassik im ausgehenden 19. Jahrhundert bedeutete eine Zurückdrängung der Historischen Schule und der Politischen Ökonomie – zugunsten einer Sozialphysik, die der Euphorie über die Erfolge der Naturwissenschaften geschuldet war. Nach einer kurzen Hochphase des Keynesianismus gab es in den 1980er Jahren – parallel zum Aufstieg des Neoliberalismus – eine Renaissance des neoklassischen Denkens, mit der die letzten Inseln alternativer Wirtschaftswissenschaft vom akademischen Spielfeld ausgeschlossen wurden. So formierte sich die heutige Mainstream-Ökonomik: nicht als Kulmination wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnis, sondern als Verengung der eigentlich bestehenden Vielfalt ökonomischen Wissens.
Pluralismus ist ein notwendiger Entwicklungsschritt
Skeptikern des Pluralismus zufolge ist das ein notwendiges Übel, um seriöse Wissenschaft und kompetente Politikberatung zu betreiben. Wir behaupten das Gegenteil: Sozialwissenschaften können nur prosperieren, wenn sie verschiedenen Theorien und Weltbildern einen Raum zur Kooperation und zum Konflikt eröffnen. Diesen Raum nennen wir Pluralismus.
Die politische Analogie der “intellektuellen Kleinstaaterei” mag anschaulich sein: man denkt sogleich an ineffiziente Kleinbürokratien oder protektionistische Abschottung. Aber eine übersichtliche politische Landkarte ist kein Modell für gute Wissenschaft.
Betrachten wir das Beispiel der Marx‘schen Ökonomik, die sich laut den VWL-Studenten Jonas Bausch und David Kunst allein schon wegen ihres Vokabulars vom akademischen Wettkampf disqualifiziert hat – und das obwohl sie empirisch gut erprobte Analyseinstrumente bietet. Wäre es nicht hilfreich – neben vielen anderen Erklärungen – eine Einordnung der Eurokrise als systemische Krise in der akademischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu diskutieren? Bekämpfen wir Arbeitslosigkeit, Finanz- und Währungskrisen oder den Klimawandel dann am besten, wenn wir auf nur eine Problemlösung setzen? Oder sollten wir vielleicht auch darüber nachdenken, wie wir unsere Wirtschaft gestalten können, damit diese Probleme gar nicht entstehen? Die einzige Innovationskraft, die uns der Mainstream bieten kann, sind Variationen derselben Grundzutaten: Individuen, Märkte, Gleichgewichte. Doch die komplexe ökonomische Realität lässt sich nicht in Formeln verbannen. Nicht die eine Theorie, die alles erklären kann, wird benötigt – sondern eine Vielfalt aus Methoden und Argumenten und eine transdisziplinäre Herangehensweise, um ökonomischen Krisen und Herausforderungen der heutigen Zeit angemessen zu begegnen.
Die Befürchtung, Pluralismus und Theorienvielfalt würde die VWL in einen “Rückzugsraum für empirisch widerlegte Argumente” verwandeln, ist nicht berechtigt. Im Gegenteil: Wir wollen auch die empirische Kritik an den Theorien des Mainstreams an die Universitäten holen. Die “There is no Alternative”-VWL muss sich einem multi-paradigmatischen Ansatz öffnen, weil nur so aufrichtig um Wahrheit gestritten werden kann. Wir fordern keine “intellektuelle Kleinstaaterei”, sondern eine echte Debatte um die bessere Theorie. Die besten Antworten auf die richtigen Fragen wird uns diejenige Ökonomik liefern, die sich einem streitbaren Pluralismus verpflichtet. Der Wissenschaftstheoretiker Karl R. Popper formulierte klar und deutlich: “Der Wert eines Dialogs hängt vor allem von der Vielfalt der konkurrierenden Meinungen ab“.
Wir stehen erst am Anfang
Dass Pluralismus nicht im babylonischen Stimmengewirr untergeht, sondern das volle Potential der Ökonomik erst zur Entfaltung bringt, zeigt der Blick ins Ausland. In angesehenen Universitäten – dem SOAS in London, der University of Leeds oder der New School in New York – wird die Neoklassik wie selbstverständlich zusammen mit ökologischen, keynesianischen oder marx’schen Traditionen gelehrt und in Dialog gebracht. “Methodenvielfalt” und “Interdisziplinarität” sind dort keine Fremdworte, sondern gängige Praxis. Auch in Deutschland gibt es zarte Versuche, vom Mainstream-Denken loszukommen. So legt die frisch staatlich anerkannte Cusanus-Hochschule besonderen Wert auf theoretische Vielfalt und ethische Reflexion. Vielerorts organisieren die Studierenden Vorlesungen, Seminare und Konferenzen, in denen Plurale Ökonomik als ein offener Diskussionsprozess um die beste Beschreibung ökonomischer Realität – schon heute Gestalt annimmt.
Doch Jonas Bausch und David Kunst haben recht: “Die Revolution an den Universitäten ist ausgeblieben”. Die Macht zur Veränderung und Weiterentwicklung liegt vor allem bei den Professoren – doch viele von ihnen machen weiter wie zuvor. Deshalb organisieren die Studierenden sich selbst um Wirtschaftswissenschaften aus ihrer mono-paradigmatischen Starre zu lösen. Dabei brauchen sie auch die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit
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*) Die Verfasser sind Mitglieder des Netzwerk Plurale Ökonomik.