Warum sinkt der Realzins seit Jahrzehnten? Warum steigt die Produktivität so langsam? Auf diese Fragen sind viele Antworten zu hören: Mal ist eine säkulare Stagnation schuld, mal die Geldpolitik, mal eine globale Ersparnisschwemme, mal der Kapitalismus an sich. Alles Unfug, sagt der amerikanische Ökonom Barry Eichengreen. Wir sind einfach zu ungeduldig und vergessen, dass sich technischer Fortschritt nur mit zeitlicher Verzögerung in wirtschaftlichen Wohlstand umsetzt.
Thomas Edisons bahnbrechende Arbeiten zur Stromgewinnung fanden in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts statt – Elektrizität als Produkt für die Massen wurde erst Jahrzehnte später geläufig. Die bahnbrechenden Arbeiten zum Verbrennungsmotor der Herren Daimler und Benz sind ebenfalls im späten 19. Jahrhundert zu verorten – als Massenprodukt wurde das Auto aber erst Jahrzehnte später durch Henry Ford geläufig. Kann es sein, dass wir heute einfach zu ungeduldig sind, wenn wie einerseits bahnbrechende Entwicklungen in der Informationstechnologie sehen, aber deren Auswirkungen für das Wirtschaftswachstum und die Produktivitätsentwicklung noch nicht richtig wahrnehmen Kann es sein, dass es bis zur vollen Ausbreitung von Phänomenen wie der Industrie 4.0 noch Jahrzehnte dauern wird, obgleich die Preise für viele Investitionsgüter in den vergangenen Jahren gefallen sind?
Diese Fragen wirft der bekannte amerikanische Ökonom Barry Eichengreen in einem kürzlich in Tokio gehaltenen Vortrag auf. Eichengreen geht, nicht zum ersten Mal, der Frage nach, warum seit Jahrzehnten der Realzins in den Industrienationen sinkt und viele Ökonomen von einem “Produktivitätsrätsel” sprechen – der Tatsache, dass in den Industrienationen die Produktivität trotz erheblichen Fortschritts so langsam wächst (wenn sie überhaupt wächst).
Eichengreens Ausgangspunkt ist, dass ihn die gängigen Erklärungen zum niedrigen Realzins und der schwachen Produktivitätsentwicklung 1) nicht befriedigen. Dass beide Größen seit Jahrzehnten fallen, ist leicht sichtbar. Dabei wirkt sich die rückläufige Produktivitätsentwicklung auf den Realzins aus. Mithilfe eines einfachen Wachstumsmodells 2) kommt Eichengreen zu dem Ergebnis, dass zur Produktivitätsentwicklung in den vergangenen Jahren ein durchschnittlicher Realzins von 1,4 Prozent in den Industrienationen passt.
Nun unterliegt der Realzins kurzfristig allerlei anderen Einflüssen, die derzeit im Zusammenhang mit der Finanzkrise, vorherigen und seitherigen Regulierungen sowie der Geldpolitik 3) stammen mögen (wir hatten diese kurzfristigen Einflüsse in einem anderen Beitrag behandelt), aber bei langfristiger Betrachtung ist der Realzins nach den gängigen Theorien güterwirtschaftlich determiniert. Und für einen rund drei Jahrzehnte währenden Rückgang des Realzinses braucht man eine andere Erklärung als eine im Jahre 2007 ausgebrochene Finanzkrise.
Eichengreens erster wesentlicher Punkt ist: Er glaubt nicht, dass sich der langfristige Rückgang des Realzinses alleine auf ein überreichliches Angebot an Ersparnissen zurückführen lässt: “My conclusion for what is worth is, that factors operating on the saving side of the saving-investment balance – the so-called savings glut, changes in demographics, and the level or rate of change of income inequality – do not by themselves provide a compelling explanation for the observed decline in real interest rates in and of themselves.” Die These der vor allem aus Schwellenländern stammenden Ersparnisschwemme wird unter anderem von Ben Bernanke vertreten.
Nein, der Realzins sinkt, weil den Ersparnissen keine sehr große Nachfrage nach Investitionen entgegen steht. Auch hier sieht Eichengreen einen säkularen Trend, auf den sich in den vergangenen Jahren die Finanzkrise, politische Unsicherheit und “andere Nacheffekte der Finanzkrise” oben draufgesetzt haben. Ein Grund für die – in Geld ausgedrückte – nachlassende Investitionsnachfrage könnte in rückläufigen Preisen für Investitionsgüter liegen, der sich nicht nur bei der Informationstechnologie beobachten lässt. Dieses Argument wird unter anderem von den amerikanischen Ökonomen Robert J. Gordon und Larry Summers vertreten.
Eichengreen ist von dieser These nicht überzeugt, unter anderem, weil eine empirische Untersuchung sehr hohe Investitionsquoten in Ländern mit fallenden Preisen für Investitionsgüter gezeigt hat. (Eichengreen räumt aber ein, dass mehr Empirie gut wäre.). Für mindestens umstritten hält Eichengreen auch die These von Reinhart/Rogoff, nach der sich die Wirtschaft nach von Finanzkrisen begleiteten Rezessionen oft nur sehr langsam erholt. Das Gegenargument, und auch dafür gibt es Empirie, lautet, dass gerade in solchen Krisen Unternehmen Anreize besitzen, produktivitätsfördernde Maßnahmen zu ergreifen.
——————————————————————-
1) Gemeint ist die Totale Faktorproduktivität (TFP). Das ist jener Produktivitätszuwachs, der sich nicht durch zusätzliche Mengen der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital erklärt, sondern durch eine effizientere Kombination der Produktionsfaktoren zum Beispiel als Folge technischen Fortschritts oder leistungsfähigerer Institutionen.
2) Eichengreen benutzt ein einfaches Ramsey-Wachstumsmodell.
3) Der Einfluss der Geldpolitik auf den Realzins ist umstritten, wie zwei kürzliche FAZIT-Beiträge zeigen. In diesem Beitrag spielt die Geldpolitik keine bedeutende Rolle, nach Ansicht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich schon eher. Dieses spannende und wichtige Thema verdient weitere Forschungen.